DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2010; 8(04): 1
DOI: 10.1055/s-0030-1267551
Editorial
Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Verspielt

Rainer Breul
,
Thorsten Fischer
,
Marina Fuhrmann
,
Karl-Ludwig Resch
,
Peter Wührl
Further Information

Peter Wührl
D.O.

Publication History

Publication Date:
12 October 2010 (online)

 

    Kaum eine Patientengruppe wird derzeit ähnlich hofiert wie Neugeborene und Kinder. Humorvolle Sympathisanten witzeln schon, dass mit dem ersten Ultraschallbild neben dem Kita-Platz auch gleich der persönliche Osteopath gebucht werden sollte.

    Kaum eine gesellschaftliche Gruppe ist ähnlicher Distanzlosigkeit ausgesetzt. Wir Erwachsene würden uns zentimeternahe, wildfremde Gesichter und wangenkneifende Finger verbitten. Auch Osteopathen setzen andere Umgangsformen an: Fraglos dürfen wir Finger in kindliche Münder stecken; an Kindern vorbei mit anderen deren Belange verhandeln.

    Über kaum eine Patientengruppe können Osteopathen so viele zielsichere Aussagen machen. Schon an der Türschwelle der Praxis sind allgemeingültige Wahrheiten in Stein gesetzt: Wann sie ihre Midline bekommen, dass die Geburt das erste Trauma war, eine Sectio die verpasste Chance auf dieses Trauma ist, dass Schreien gesund ist, dass Kinder nicht wahrheitsstabil sind.

    Da diese osteopathischen Wahrheiten ihrerseits vorgeben, situations- bzw. befund-unabhängig gültig zu sein, wird schon mal rein deduktiv über ein Schicksal entschieden: künstliche Befruchtung, ergo keine Midline, ergo dies und das. War die Geburt zu schnell, wird sie in der Therapie „nachgeholt“. Eigenartigerweise müssen aber nicht die, denen es zu schnell ging, das verpasste Erlebnis nachholen, sondern jene, über deren Zeiterleben wir nur spekulieren können.

    In kaum einem Teilbereich der Osteopathie zeigt sich die normative und pseudokonkrete Tendenz des osteopathischen Gesundheitsdiskurses so deutlich wie in der sog. Kinderosteopathie. In diesem Diskurs erscheint z. B. das hochkonstruktive Bild embryonaler Entwicklung in der hyperrealen Konkretheit des Dabeigewesenseins; der Bezug zu unseren spärlichen Kenntnissen und Erfahrungsmöglichkeiten geht dabei verloren. Deutlich wird dieses Problem, wenn unterschiedliche klinische Erfahrungszusammenhänge nicht mehr differenziert werden und über Lehrbuchwissen, Labortests und wahrgenommene Gemütszustände in der selben pseudokonkreten Sprache verhandelt wird, als hätten wir es mit vergleichbaren Ebenen der Wahrnehmung und Entstehung intersubjektiver Wirklichkeit und Wahrheit zu tun.

    Damit verfällt Osteopathie einem magischen Positivismus, der nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihre Patienten gefährlich ist. Da normativ-regulatorische Konzepte en vogue sind, werden die verbleibenden intersubjektiven Überprüfungsmöglichkeiten des gemeinsamen Wahrnehmungs- und Handlungszusammenhangs verspielt. Stattdessen soll die Eigensinnigkeit der Subjekte den statistischen Mittelwerten und der Normierung durch selbstregulatorische Gesundheit Folge leisten.

    Dem osteopathischen Diskurs über Kinder möchte man an dieser Stelle weniger Folgsamkeit und etwas mehr spielerische Neugier, Entdeckerlaune und Lust am Ausprobieren wünschen.

    Es ist eklatant, welche Leerstelle im osteopathischen Diskurs klafft, wenn es um grundlegende Formen kindlicher Selbst- und Welterkundung und damit auch des kommunikativen Bezugs auf uns Therapeuten, dem Spiel, geht. Erfahren wir im Spielen nicht mehr über und mit den Kindern als in der Hinwendung auf die Schnittstellenmatrix ganzheitlicher Systemkonstruktionen?

    Christoph Newiger wird das DO-Team verlassen. Herausgeber und Verlag bedanken sich herzlich für sein redaktionelles und journalistisches Engagement. Er hat die DO seit ihren Anfängen mitgestaltet und inhaltlich bereichert. Wir wünschen ihm alles Gute für seine neuen Projekte.

    Die Herausgeber


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    Peter Wührl
    D.O.