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DOI: 10.1055/s-0030-1267875
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
Interview – Eine ganze Dekade für Knochen und Gelenke – und nun?
Publication History
Publication Date:
06 October 2010 (online)
Am 10. und 11. September 2010 fand im schwedischen Lund die offizielle Abschlusssitzung zur Bone and Joint Decade 2000 – 2010 (BJD) statt. Ein Ende mit Wende: Schon hat die Dekade der Knochen- und Gelenkserkrankungen Nummer II begonnen. Die Delegierten beschlossen eine Fortführung – von 2011 – 2020. Warum das nötig ist, welche Erfolge und welche Misserfolge die BJD I hatte, analysieren im Interview mit der ZFOU der Deutsche Karsten Dreinhöfer und der Brasilianer Marcos Musafir.


Karsten Dreinhöfer: "Die BJD hat geholfen, Barrieren in der Zusammenarbeit einzureißen."
Professor Dr. Karsten Dreinhöfer (Jahrgang 1961) leitet die Abteilung muskuloskeletale Rehabilitation, Prävention und Versorgungsforschung im Centrum für Sportwissenschaften und Sportmedizin (CSSB) und Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie (CMSC) an der Charité in Berlin, zugleich Chefarzt der Abteilung Orthopädie, Unfallchirurgie und Sportmedizin im MEDICAL PARK Humboldtmühle, Berlin. Dreinhöfer wurde im September 2010 als deutscher Vertreter erneut in das Steering Committee der Boint and Joint Decade gewählt.
? Herr Prof. Dreinhofer, Sie waren Director of Development des International Steering Committees der Bone and Joint Decade. Welche Funktion hatten Sie?
Meine Aufgabe war in der Anfangsphase zunächst die Strukturen der Dekade aufzubauen. Vor allem aber, Gelder zu akquirieren.
? Konnten Sie denn Geld akquirieren?
Ja. In den ersten Jahren haben wir auf internationaler Ebene größere Summen v. a. von Unternehmen und Stiftungen erhalten.
? Sind Sie zufrieden mit den Ergebnissen der Dekade?
Teils – teils, auf der Positivseite steht eindeutig, dass das Thema der muskuloskelettalen Krankheiten und Verletzungen durch die BJD ganz anders in die Öffentlichkeit gekommen ist. Und v. a. hat es viele Netzwerkbildungen, auch fachübergreifend hinweg gegeben, von denen man vorher nicht träumen konnte.
? Ein Beispiel?
Wir haben jetzt zum Thema Rheuma auf europäischer Ebene erstmals überhaupt eine Initiative, die Wissenschaftler und Patienten auf gleicher Augenhöhe erarbeitet haben. Sowohl EULAR, der europäische Dachverband von Patientenorganisationen und Experten zu Rheuma in Europa als auch EFORT, der Dachverband der orthopädischen Fachgesellschaften, haben erstmals gemeinsame Leitlinien verfasst – als Erstes zum Thema Kniebeschwerden. Und wir arbeiten bereits an einer Leitlinie zur Versorgung von Patienten mit osteoporotischen Knochenbrüchen. Diese Entwicklung wird weitergehen.
? Aber so toll kann das alles nicht gewesen sein, wenn Sie jetzt eine zweite Dekade ausrufen?
Es hat zunächst viel Unzufriedenheit gegeben, weil viele zu Beginn der Dekade gedacht haben, wenn die WHO so etwas mit lostritt, dann läuft das von allein, mit sehr sehr viel Geld. Diese Erwartungshaltungen konnten natürlich nicht erfüllt werden – von der WHO kommt kein Geld für solche Initiativen Wir werden in den nächsten 10 Jahren aber mehr Erfolge haben, wenn wir fortführen, was wir bisher aufgebaut haben.
? Das heißt, die Strukturen der BJD bleiben alle bestehen, auch die bei der WHO, die beim Deutschen Netzwerk?
Genau.
? Werfen wir einen Blick ganz zurück. Die Erfinder der BJD sind Wissenschaftler gewesen und nicht etwa die WHO?
Ja. Der Initiator war Professor Lars Lidgren, ein Orthopäde aus Lund in Schweden. Der sah Ende der 1990er, wie neben ihm auf dem Unicampus die Neurologen ein Riesenforschungsinstitut aufbauten – es war ein Erfolg der Decade of the Brain. 1998 war Lidgren dann der Hauptveranstalter einer orthopädischen Tagung in Lund, auf der wir die BJD ins Leben gerufen haben.
? Welche Rolle hatte die WHO, in deren Büros in Genf 2000 die Dekade offiziell eröffnet wurde?
Sie bot und bietet uns eine wichtige politische Plattform, ist aber nicht finanzieller Träger der Dekade.
? Laut Angaben der BJD arbeiten 750 Fach- und Patientengesellschaften mit, 96 Regierungen weltweit haben ihre Unterstützung erklärt. Auch die Bundesregierung?
Ja.
? Was hat die Politik in Deutschland aktiv beigetragen?
Wenig. Die Bundesregierung hat uns zu Beginn der Dekade mit kleinen finanziellen Summen unterstützt, Seminare für Journalisten zu veranstalten.
? Wünschen Sie sich mehr finanzielle Unterstützung aus Berlin?
Ich sehe die Politik nicht primär als Finanzier für solch eine Kampagne. Sehr wohl aber hat sie die Aufgabe, Ergebnisse, die im Rahmen dieser Dekade entwickelt worden sind, in ihre Entscheidungen mit einzubeziehen, gegebenenfalls ihre Prioritäten zu ändern.
? Was meinen Sie?
Orthopädische Erkrankungen verursachen in westlichen Ländern 20 % der direkten und 30 – 40 % der indirekten Gesundheitskosten. Das ist ein absoluter Spitzenplatz. Zugleich haben Fächer wie Diabetologie, Kardiologie beim Geld für Versorgung und Forschung die Nase deutlich vorne. Da müssen wir etwas ändern.
? Sehen Sie Anzeichen, dass es da Prioritätsänderungen bei der Politik gibt?
Tendenziell ja. Wirkliche Fortschritte, z.B. Festlegung auf prioritäre Versorgungsziele und entsprechende Ressourcenalloka-tion oder Auf- und Ausbau von muskulo-skelettalen Forschungszentren: bisher leider nein.
? Das BMBF hat aber in seiner Roadmap Gesundheitsforschung einen Schwerpunkt muskuloskelettale Krankheiten eingerichtet..
... und das kann sich die BJD ein bisschen mit auf die Fahne schreiben. Parallel dazu ist auch auf europäischer Ebene erstmals im Forschungsrahmenprogramm das Thema berücksichtigt.
? Noch 2007 rechneten Sie aber vor, dass BMBF und DFG gerade mal 2,8 % der jährlichen Forschungsförderung für muskuloskelettale Krankheiten bereitstellen.
Ja, da bleibt eben eine Riesendiskrepanz. Sie ist sicherlich auch der Verteidigung der Erbhöfe anderer Fächer geschuldet. Das Entscheidende ist, das unsere Themen jetzt überhaupt in den einschlägigen Forschungsrahmenprogrammen genannt werden.
? Datenmangel zu muskuloskelettalen Erkrankungen ist ein weiteres Problem, das auch Sie in der Vergangenheit mehrfach moniert haben. Wann kommt der lange angekündigte RKI-Schwerpunktbericht zu muskuloskelettalen Krankheiten, an dem Sie doch mitschreiben?
Den gibt es nicht. Das ist eine etwas tragische Geschichte. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe mit 10 Wissenschaftlern hatte dafür zwar schon 2004 einen Entwurf geschrieben. Der wurde umfassend von Ministerium und RKI geprüft, wir haben die Fassungen dann jeweils überarbeitet. Dennoch ist jetzt entschieden worden, lediglich Einzelberichte zu verschiedenen Themen herauszugeben. Ich bedauere dies, wir bräuchten eine zusammenfassende Darstellung der muskuloskelettalen Daten. Und keine Frage, uns fehlen da in Vielem auch noch die Daten. Aber in unser Fach fließen eben vergleichsweise wenig Geldmittel – auch bei der epidemiologischen Forschung.
? Stichwort Ausbildung. 2004 hat eine Arbeitsgruppe der BJD unter Ihrer Beteiligung ein Curriculum aufgestellt für muskuloskelettale Lehrinhalte...
... ja, wir wollten einen Rahmen entwickeln, wie muskuloskelettale Lehre interdisziplinär aussehen könnte.
? Wird dieses Curriculum heute umgesetzt?
Das hängt ganz davon ab, was lokal erreicht wird. Was die Umsetzung betrifft, haben wir hierzulande bekanntlich ein föderalistisches System, in dem die Universitäten weitgehend Autonomie haben. In Ulm haben wir es mit viel Elan und auch einigen Kniffs geschafft, den Umfang der Lehre im Bereich Orthopädie und Traumatologie zu verdoppeln. Im Durchschnitt machen muskuloskelettale Lehrinhalte an hiesigen Universitäten aber immer noch nur etwa 5 % aller Lehrinhalte für Medizinstudenten aus. Das ist zu wenig.
? Die BJD hat 2008 auch einen Standard of Care entwickelt (siehe Kasten), entwickelt wurde er von einem WHO Collaborating Centre for Evidence-based Health Care. Was hat der Standard bewirkt?
Zunächst mal halte ich es für einen großen Erfolg, dass wir überhaupt ein WHO Collaborating Centre bekommen haben. Dieses Zentrum ist an der Lund-Universität. Für uns bietet sich damit die Chance, Stellungnahmen unter dem WHO-Signum herausgeben zu können. Mit dem Standard of Care wollten wir Basisstandards weltweit definieren. Natürlich sind die Standards für viele Themen z.B. in Nigeria anders als in Berlin. Aber die Frage ist immer, was sind die minimalen Ansprüche. Bei einer Schenkelhalsfraktur sollte der Bruch auf jeden Fall in einer gewissen Zeit operiert werden, egal, ob in Afrika oder in der deutschen Hauptstadt.
? Kennt auch ein nigerianischer Kollege diesen Standard?
Vermutlich bisher kaum. Das ist übrigens kein Problem von Nigeria. Es gibt auch hierzulande viele, viele Defizite. Denken Sie an die Versorgung von Patienten mit Knochenbrüchen, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf einer Osteoporose basieren. Ein Knochenbruch wird in Mitteleuropa operativ fantastisch versorgt, schnell, zeitnah, korrekt. Und dann werden die Patienten nach Hause geschickt und kaum einer macht sich Gedanken, was die Ursache der Fraktur war. Dabei weiß man, dass der erste Bruch ein Riesenwarnzeichen für weitere Brüche ist, und dass spätestens zu diesem Zeitpunkt eine womöglich bestehende Osteoporose diagnostiziert und behandelt werden muss.
? Ein nigerianischer Kollege hätte obendrein vielleicht auch ganz andere Sorgen als ein bundesdeutscher Orthopäde? In Deutschland stehen Dinge wie Osteoporose, Rheuma in der Wichtigkeitsskala ganz oben. In Afrika sind es vermutlich andere Schwerpunkte?
Teils – teils. Bei den degenerativen Erkrankungen ist die Tendenz heute weltweit ähnlich. Auch in den Schwellen- und Drittweltländern wird die Bevölkerung mittlerweile zum Glück immer älter. Damit wächst aber überall das Risiko auf degenerative Erkrankungen.
Ein Beispiel für große Unterschiede sind hingegen die Verkehrsunfälle, die bei uns radikal zurückgegangen sind. In der Dritten Welt haben wir da oft eine komplett gegenläufige Bewegung, dort sind Verkehrsunfälle eine regelrechte Epidemie. Soeben hat ja die WHO ganz unabhängig von der BJD eine Dekade zur Straßenverkehrssicherheit ausgerufen. Das ist einer der großen Erfolge der BJD, die jahrelang für dieses Thema gekämpft hat.
? Was sind für Sie die wichtigsten Ziele für die BJD Nummer II?
Das, was wir angefangen haben, erfolgreich fortzusetzen:... im Bereich der Ausbildung, Universitätscurricula, die müssen implementiert werden. Und bei der Forschungsförderung muss nach und nach eine Anpassung der Mittel an die volkswirtschaftlichen Kosten der Erkrankungen erfolgen.


Marcos Musafir: "Die BJD hat entscheidend geholfen, die Zahl der Verkehrstoten zu senken."
Der 1955 in Rio de Janeiro geborene Orthopäde und Unfallchirurg Dr. Marcos Musafir war jahrelang im Vorstand der brasilianischen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (SBOT) und 2007 der 40-te Präsident der Gesellschaft. Bis 2002 leitete er die Traumatologie am Unfallkrankenhaus der Universität von Rio de Janeiro (Federal University of Rio de Janeiro), und ist seit 2002 Mitglied im International Steering Committee der BJD.
? Herr Musafir, könnten Sie uns zunächst etwas die Situation der Orthopädie und Unfallchirurgie in Brasilien skizzieren?
Sicher. Brasilien hat 185 Millionen Einwohner. Fast jeder 10. erleidet im Laufe seines Lebens eine Verletzung, und gut zwei Drittel der über 60-Jährigen leiden an einer muskuloskelettalen Erkrankung. Sie sehen, wir brauchen auf jeden Fall Spezialisten.
? Und haben Sie die?
Sehr wohl. Unsere Fachgesellschaft, die SBOT (Anm. Red: Für Sociedade Brasileira de Ortopedia e Traumatologia – das Pendant zur hiesigen DGOU) hat derzeit fast 11 000 Mitglieder. Und Mitglied wird nur, wer als Chirurg zunächst eine 3-jährige Ausbildung in einer entsprechenden orthopädischen und unfallchirurgischen Fachabteilung eines Krankenhauses absolviert hat. Danach gilt es, eine sehr anspruchsvolle 3-tägige Prüfung zu bestehen. Die wird übrigens auch von der AAOS (Anm. Red: American Academy of Orthopaedic Surgeons) und von EFORT als exzellent beurteilt.
? Reicht die Zahl von 11 000 Orthopäden und Unfallchirurgen in Brasilien?
Nein. In manchen Regionen müssen Allgemeinchirurgen derzeit noch die Versorgung von Schwerverletzten mit übernehmen. Aber wir gehen davon aus, dass weitere 4 700 Ärzte die Fachprüfung in den nächsten Jahren absolvieren. Damit hätten wir die nötige Anzahl in etwa erreicht.
? Wie viele Krankenhäuser mit orthopädischen und/oder unfallchirurgischen Fachabteilungen gibt es?
Von rund 6 000 Krankenhäusern im Land haben etwa 700 gute Fachabteilungen dafür. Dabei ist die Versorgung je nach Region unterschiedlich. Im Bundesstaat São Paulo, wo fast ein Drittel der Einwohner Brasiliens lebt, gibt es 235 Spezialabteilungen. In der Großregion Amazonien sind es 11 – für immerhin noch 7 Prozent der Bevölkerung.
? Wer im Straßenverkehr verletzt wird, hat da einen weiten Weg?
Je nach Region ja. In Amazonien kann es 6 Tage mit dem Boot dauern, bis ein Patient in einer Stadt mit einem entsprechenden Krankenhaus ankommt. Aber im Zentrum, Südosten und Süden von Brasilien ist das nächste Krankenhaus nicht weiter als 20 Minuten mit dem Hubschrauber weg.
? Bekomme ich heute überall in Brasilien bei Bedarf ein künstliches Hüftgelenk?
Ja. 70 % der Bevölkerung wird kostenlos über das staatliche Gesundheitswesen SUS (Sistema Único de Saúde) versorgt. Ein weiteres Drittel über Private Versicherungen. Und auch im SUS bekommen Sie eine künstliche Hüfte, keine Frage, aber es kann sein, dass Sie 2 – 3 Jahre warten müssen. Orthopädie ist eine teure Disziplin, und wir können nicht das gesamte Geld der Gesundheitsversorgung für den Einkauf von Prothesen ausgeben. Daher haben wir Wartelisten, aber es bleibt keiner unversorgt.
Außerdem steigen die Zahlen. Vor 10 Jahren wurden im öffentlichen Gesundheitswesen schätzungsweise 6000 künstliche Hüftgelenke pro Jahr implantiert. Hinzu kommen nochmals an die 5000 in Privaten Kliniken. Aktuell sind es im Jahr im öffentlichen Sektor etwa 28 000, im privaten Sektor noch mal 25 000.
? Kommen wir zur BJD. Wie ist Ihr Resümee nach der ersten Dekade?
Die BJD war sehr wichtig für uns. Sie hat uns v. a. als Referenz und als Druckmittel gedient. Die vielen neuen Leitlinien, Gutachten, die Gremien der BJD verfasst haben, konnten wir nützen, um mehr Öffentlichkeit für das Thema muskuloskelettale Krankheiten zu finden. Und wir finden heute durchaus mehr Gehör.
? Auch bei der Politik?
Ja. Bei Abgeordneten, Ministern bis hin zum Präsidenten ... hat das Thema muskuloskelettale Krankheiten heute viel mehr Gewicht als noch vor Jahren. Und das nicht nur in Brasilien, sondern in ganz Südamerika.
? Wie verschaffen Sie sich Gehör?
Die SBOT macht etliche Kampagnen via Internet, TV, generelle Medienarbeit. Fünf Mitglieder im Abgeordnetenhaus in Brasília (Anm. Red: Câmara dos Deputados, die eine Hälfte des brasilianischen Kongresses) sind Orthopäden und zugleich Mitglieder bei der SBOT. Sie können uns bei Lobbyarbeit und Kampagnen unterstützen.
Und Anfang September hat die brasilianische Ärzteschaft ihre Forderungen an die Politik in einem Thesenpapier formuliert. Der Titel lautet: "Mehr Investitionen in die öffentliche Gesundheit" – Mais Investimentos na Saúde Pública. Ein wichtiger Punkt dabei ist die muskuloskelettale Gesundheit. Das konnten wir auch dank der BJD verankern.
? Was sind die wichtigsten Probleme im Feld Orthopädie und Unfallchirurgie in Brasilien?
An allererster Stelle kommen da Tote und Verletzte im Straßenverkehr, aber auch Verletzungen infolge von Stürzen und leider auch durch Gewalt. Erst danach kommt Osteoarthritis mit dem Thema Gelenkersatz, Sportverletzungen, Osteoporose. Weiter hinten rangieren derzeit Rheumatoide Arthritis und Kreuzschmerzen.
? Und wo konkret sehen Sie Fortschritte dank BJD?
Gerade beim Top-Thema Verkehrsunfälle hat uns die BJD sehr geholfen. Die Zahl der Verkehrstoten ist eindeutig gesunken. Vor 10 Jahren hatten wir 55 000 Verkehrstote zu beklagen. 2009 waren es 35 000. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Autos auf den Straßen um 50 %, die der Fahrer mit Fahrerlaubnis um 35 Prozent gestiegen.
? Welche Rolle hat die BJD konkret bei diesem Erfolg?
Der Rückenwind durch die BJD hat der SBOT und etlichen NGOs geholfen, das Thema zu lancieren. Denken Sie nur daran, dass Rio de Janeiro mit Unterstützung der BJD der Tagungsort für das erste weltweite Forum überhaupt war, das die WHO dazu abgehalten hat: Das WHO Global Forum on Trauma Care im Oktober 2009. Das schafft mediale Aufmerksamkeit.
Mehrere Studien zu Verkehrsopfern, etliche weitere internationale Konferenzen, Resolutionen der UN dazu, all das war sehr wichtig, um in ganz Südamerika neue Gesetze zur Sicherheit im Straßenverkehr zu bekommen. Gesetze gegen Alkohol, zur Helmpflicht, zum Sicherheitsgurt ...
? Ist der Sicherheitsgurt heute in Brasilien obligatorisch?
Ja. Und zwar auch auf dem Rücksitz. Das Gesetz dazu datiert zwar schon aus dem Jahr 1997. Aber erst seit 2002 wird auch wirklich kontrolliert, ob die Autofahrer sich daran halten.
? Stimmt es, dass man in Brasilien heute keine alkoholischen Getränke mehr neben der Autobahn kaufen kann?
Nicht ganz, das können Sie kaufen, solange sie nicht den Wagen steuern. Ein Fahrer aber darf heute gar keinen Alkohol trinken. Wenn ein Omnibus-Fahrer mit Alkohol im Blut erwischt wird, droht ihm nicht nur der Verlust der Fahrerlaubnis für ein Jahr, ein Unfall unter Alkoholeinfluss wäre ein kriminelles Vergehen. Das zugrunde liegende Gesetz mit der Nummer 11 705, genannt lei seca ist seit 1. Februar 2008 in Kraft. SBOT und viele NGOs hatten es lange gefordert.
Prompt sank die Zahl der Autounfälle, die typischerweise während des Karnevals anschwillt, in jenem Jahr gegenüber dem Vorjahr um 40 %. Allein im Bundesstaat Rio de Janeiro ist die Zahl der Verkehrstoten binnen zweier Jahre um 32 % gesunken, das sind an die 5000 Menschen, die noch leben.
? Auch Brasilien hat ein Nationales Netzwerk zur BJD aus Fachgesellschaften und Patientenorganisationen. Wer ist besonders wichtig?
Die SBOT und viele Patientenorganisationen, von Rheuma bis zu Verkehrsopfern, tragen die BJD. Bei Letzteren wäre z. B. die Gruppe Trânsito Amigo, gegründet von Fernando Diniz, zu nennen.
? Haben die muskuloskelettalen Krankheiten heute in Brasilien die Aufmerksamkeit und den Stellenwert in Öffentlichkeit und Politik, der nötig ist?
Sagen wir so: Wir sind besser geworden. Auch wenn wir noch lange nicht beim Ideal angekommen sind. Wir kämpfen weiter darum, dass Orthopädie und Unfallchirurgie unter den 10 wichtigsten Themen bei Politik und Gesellschaft landen. Derzeit liegen wir eher unter den ersten 15. Kardiologie oder Onkologie bekommen mehr Mittel.
? Was sind ihre wichtigsten Themen und Ziele für eine zweite Dekade der BJD?
Ein wichtiges Thema bleibt der Straßenverkehr, wir müssen die Zahl der Opfer weiter senken. Das bleibt das Hauptproblem auch für die kommenden Jahre. Wir brauchen da weiter verschärfte Gesetze. Eine große Herausforderung bleibt es auch, das Verhalten der besonders gefährdeten Verkehrsteilnehmer zu ändern, v. a. der Fußgänger und Zweiradfahrer. Letzten Endes brauchen wir umfassende Konzepte. Eine Idee ist, den öffentlichen Transport auszubauen.
Weiter auf der Agenda bleibt die Mitsprache, Teilhabe des Patienten bei seiner Behandlung, die noch besser werden muss. Ein drittes ist die Ausbildung der Ärzte. Sie müssen während der Ausbildung mehr Zeit mit Fragen zu muskuloskelettalen Krankheiten verbringen.
Und sehr wichtig bleibt die Prävention von muskuloskelettalen Krankheiten. Wir mühen uns, gerade die älteren Menschen darüber aufzuklären, dass 75 % aller Stürze mit Knochenbrüchen als Folge zu Hause passieren. Tenor: Leute, ihr müsst diese Stürze vermeiden. Tragt Sandalen und keine Badeschlappen. Räumt einen Teppich als Stolperfalle im Wohnzimmer aus dem Weg...
? Die SBOT unterhält eine Präventionskampagne gegen Osteoporose: Bewegung ist Leben – Movimento é Vida. Hat das einen Widerhall?
Ja, das findet einen Niederschlag. In Rio der Janeiro gibt es bereits bei der Stadtverwaltung eine eigene Behörde für ältere Mitbürger. Die gibt im Internet Tipps für die Prävention, etwa auch ganz konkret für Gymnastik. Das kann jeder machen, auf öffentlichen Plätzen, oder auch am Strand.
? Auch der Brasilianer muss mehr Sport machen?
Oh ja, zumal auch wir eine immer älter werdende Bevölkerung bekommen. Keep people moving (lacht). Das ist doch ein Motto für die kommende Dekade.
Die Interviews führte Dr. Bernhard Epping
#Weitere Informationen
Das Deutsche Netzwerk der BJD:
http://www.boneandjointdecade.de
Die internationale Kampagne:
http://www.boneandjointdecade.org
Burdon of Disease-Report der WHO:
http://www.whqlibdoc.who.int/trs/WHO_TRS_919.pdf
Lehrcurriculum in O und U in der Medizinerausbildung:
https://www.thieme-connect.de/ejournals/html/zfo/doi/10.1055/s-2008-1038899
Dreinhöfer KE, Walcher F, Obertacke U et al. Z Orthop Unfall. 2008;146:520-33
Standards of Care bei muskuloskelettalen Schmerzen:
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18760171



