Prof. Dr. Manfred Wildner
„Scotty, beam uns hoch – es gibt kein intelligentes Leben auf diesem Planeten!”. Dieser
kurze Dialog einer kleinen Expedition auf einem unbekannten Planeten mit dem Mutterschiff
bezieht sich auf die imaginären Reisen des Raumschiffs Enterprise durch die Tiefen
des Weltalls, weit in der Zukunft. Der Satz wird ironisch gelegentlich auch auf unseren
Planeten angewandt. Intelligentes Leben auf der Erde – sieht es wirklich so schlecht
aus? Manche der beim Raumschiff Enterprise zu findenden Zukunftsvisionen, wie die
mobile Telephonie, sind heute eingeholt bzw. überholt.
Die Zukunft als Singular? Schon an dieser Stelle ist einer naiven Zukunftserwartung zu
widersprechen. Zukunft ereignet sich nicht unausweichlich wie die Ankunft an der jeweiligen
nächsten Haltestelle einer Bahnfahrt, sie wartet nicht „fertig” auf uns. Auch prophetische
Äußerungen sind bei genauerem Hinsehen meist konditional in einen „wenn – dann” Kontext
gestellt. Es liegen „viele Zukünfte” vor uns: Bessere Zukünfte, schlechtere Zukünfte.
Bibliotheken und Videotheken sind voll von technisch-wissenschaftlichen und gesellschaftlichen
Zukunftsfantasien. Sie reichen von Francis Bacons hellsichtiger „Utopia” (1516) einer
wissenschaftsbasierten humanen Gesellschaft über die Vorwegnahme einer fortschreitenden
Evolution und verlängerten Lebensspanne (Franz Werfels „Stern der Ungeborenen”, 1946)
zur düster-totalitären Vision „1984” George Orwells (1949) und der bedrückenden Option
einer schmerzfreien „Schönen neuen Welt” (1932) Aldous Huxleys. Sie erzählen von Sternfahrten
(Raumschiff Enterprise, seit 1964), freundlichen extraterrestrischen Wesen (E.T.,
1982), und künstlichem Leben in bedrohlichen (Matrix, 1999) bzw. verführerisch-schönen
Parallelwelten bzw. Parallelkörpern (Avatar, 2009).
Was sind wissenschaftlich-technische Zukunftsentwürfe für die Medizin? Neue Entwicklungen
sind sowohl als Innovationen aus der Forschung heraus als auch von den Akteuren und Institutionen in der Praxis als neue Anfrage bzw. neuer Bedarf zu erwarten. Innovationen können die Akteure im Gesundheitswesen – Patienten, Leistungserbringer,
Finanziers – unterschiedlich stark betreffen. Und auch den sogenannten „zweiten Gesundheitsmarkt”:
Darunter werden die privat finanzierten Waren und Dienstleistungen verstanden, von
frei verkäuflichen Arzneimitteln über individuelle Gesundheitsleistungen bis hin zu
Sport, Fitness und Wellness. Nach Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit wurden
im Jahr 2005 knapp 55 Mrd. EUR dort ausgegeben [1].
Technologische Forschritte prägen die Medizin. Beispiele dazu sind minimal invasive
Operationstechniken mit zunehmenden Indikationsausweitungen (z. B. Bandscheibenentfernungen,
Gallenblasenentfernungen, Blinddarmentfernungen). Die Miniaturisierung hat eine weitere
Ausprägung in der sogenannten Nanomedizin. Nanopartikel werden als Hüllsubstanzen
für Arzneimittel eingesetzt, zur spezifischen Zielfindung therapeutischer Wirkstoffe
im Gewebe und für die Diagnostik und Therapie im Zusammenhang mit externen Apparaturen
zur verbesserten Bildgebung oder auch gezielteren Krebsbekämpfung.
In der Diagnostik kommt der schnellen Testung zunehmend Bedeutung zu. Beispiele dafür
sind HIV-Schnelltestungen, welche als bed-side-Tests oder point-of-care-Tests durchgeführt
werden können. Gleichzeitig führt die Miniaturisierung dazu, dass anhand einer einzigen
Blutprobe eine Vielzahl von diagnostischen Tests zeitgleich durchgeführt werden können.
Dies eröffnet Möglichkeiten hinsichtlich der gesundheitlichen Prognose bei bestehender
Krankheit, dem Screening und auch der Prädiktion. Unter prädiktiver Medizin versteht
man den Versuch, individuelle Krankheitsrisiken vorherzusagen, im Idealfall ohne dass
sich bereits Vorstufen von Erkrankungen finden. Derartige Herangehensweisen sind auch
kritisch zu betrachten, da sie von einer Verunsicherung der betroffenen Personen begleitet
sein können, ohne dass sichere Aussagen über das Auftreten oder Nicht-Auftreten einer
Krankheit bislang möglich wären (s. §18 GenDG).
Die Automatisierung führt auch zu verbesserten bildgebenden Verfahren, wie z. B. Ganzkörper-Tomografien
zu Screeningzwecken. Es ist zu erwarten, dass die Ausweitung der Diagnostik einerseits
zu einer wünschenswerten Früherkennung von behandlungsbedürftigen Erkrankungen führt,
andererseits aber auch zur Erkennung von nicht behandlungsbedürftigen, medizinisch
wenig relevanten Befunden, welche dann einer unnötigen Behandlung zugeführt werden,
oder aber zu falsch positiven Befunden mit hohen Folgekosten. Innovationen können
grundsätzlich auch zu Kosteneinsparungen führen. Ob derartige potenziell kostensenkende
Innovationen, die auch als „disruptive technologies” bezeichnet werden, tatsächlich
eine Chance in einem auf Gewinn ausgerichteten Gesundheitsmarkt haben, hängt stark
von den Rahmenbedingungen ab [2]. Oft kommen Sie als „add-on”-Technologien sukzessiv und kostenrelevant mit jeweils
marginalem zusätzlichem Informationsgewinn zum Einsatz (Beispiel: normales Röntgenbild,
Ultraschall, CT, NMR, PET-Scan).
Große Hoffungen werden auch auf eine individualisierte Prävention und Therapie gesetzt.
Der irreführende Begriff der „Personalisierung” sollte hier nicht verwendet werden,
der integrativen, ganzheitlichen und gesprächsorientierten Ansätzen in der Medizin
vorbehalten ist. Die zugehörigen Verfahren werden als Omics-Technologien bezeichnet
und haben begriffliche Ausprägungen als Proteomics, Genomics, Metabonomics, Metabolomics,
Transkriptomics, Metallomics, Glycomics und anderes mehr.
Erhebliche Forschungsanstrengungen werden zur Züchtung von biologischem Gewebe oder
auch ganzer Organe unternommen. Teilweise sind derartige Verfahren bereits im Einsatz,
wie z. B. die Autologe Chondrozyten Transplantation. Eine Kombination von Automatisierung
und regenerativer Medizin sind die Integration technischer Module in den menschlichen
Körper. Erfolgreiche Produkte sind die bekannten Hüft- und Knieprothesen. Diese Technologie
wird zunehmend auch auf andere Gelenke ausgeweitet und auch erfolgreich bei anderen
Organen eingesetzt (künstliche Herzklappe, Forschungen zu Neuroprothesen, künstlicher
Blutersatz).
Die genannten Veränderungen werden voraussichtlich die Leistungserbringung im Rahmen
von integrierten Versorgungsmodellen befördern. Gründe dafür sind zum Einen hohe Bereitstellungskosten
für hoch spezialisierte Technologien, zum Zweiten zunehmende Abwanderungen von bisher
stationär durchgeführten Eingriffen in den ambulanten Bereich bei gleichzeitigem Bedarf
an stationären back-up Kapazitäten zur Komplikationsbehandlung und zum Dritten zur
Qualitätsverbesserung bei gleichzeitiger Effizienzsteigerung der Patientenbehandlung
durch integrierte Konzepte. Im Rahmen einer zunehmenden Medialisierung von Risiken
medizinischer Behandlung, z. B. Krankenhausinfektionen mit multiresistenten Erregern
oder Arzneimittelinteraktionen, wird erwünschtes Bewusstsein der Notwendigkeit eines
aktiven Risikomanagements der ambulanten und stationären Therapie zunehmen. Solches
proaktives Risikomanagement wird auch von der europäischen Ebene befördert (z. B.
Luxemburger Erklärung zur Patientensicherheit [3]).
Eine starke Kraft ist in diesem Zusammenhang die Evidenz-basierte Medizin. Seitens
der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wurde 2006 das Innovationsmanagement der
GKV ins Leben gerufen, welches mit der medizinischen Expertise des Medizinischen Dienstes
des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) vernetzt ist. In der Ärzteschaft
wird in diesem Zusammenhang das Problem der Fremdbestimmung durch andere Berufsgruppen
thematisiert. Eine wichtige Rolle könnte sich dabei für den Öffentlichen Gesundheitsdienst
(ÖGD) als überparteilichen Sachwalter ergeben.
Aufgrund eines allgemein besseren Bildungsstandards, dem leichten Zugriff auf medizinische
Fachinformationen auch für Laien bzw. Patienten und deren Angehörige sowie eine zunehmende
gesellschaftliche Demokratisierung sind Veränderungen im Arzt-Patienten-Verhältnis
angestoßen. „Mündige Patienten” treffen diagnostische oder therapeutische Entscheidungen
im Gespräch und gemeinsam mit dem Arzt (shared decision making bzw. partizipatorische
Entscheidungsfindung). Teilweise wird auch der „fordernde Patient” und der „falsch
informierte Patient” thematisiert. Patientenfürsprecher z. B. in Krankenhäuser sind
eine weitere Ausprägung der Demokratisierungstendenzen.
Zusammenfassend ist für die technologische Forschung eine Kombination von Miniaturisierung,
(Bio)technologischer Weiterentwicklung/Automatisierung und Individualisierung kennzeichnend,
für die medizinische Versorgung eine Hinwendung zu präventiver, prädiktiver, personalisierter
und partizipatorischer (System-)Medizin, welche teilweise von privaten Haushalten
finanziert wird [4]
[5]. Wir sind, als wissensbasierte Gesellschaft, gut beraten, uns strukturiert mit Gegenwart
und Zukunft der Medizin zu befassen – und mit ihren Grenzen, nicht nur den Grenzen
des Machbaren, sondern besonders auch den Grenzen des Wünschenswerten und auch des
Erlaubten. Unter systematischen Herangehensweisen finden sich Health Technology Assessment
(HTA) und Health Impact Assessment (HIA), Prognosen und Modellrechnungen, Memoranden
und Strategiepapiere und auch Institutionen wie der gemeinsame Bundesausschuss, das
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen und der Ethikrat.
Beispiel für die kritische Auseinandersetzung mit Handlungsoptionen in der Suche nach
einer guten, womöglich besseren Zukunft, finden sich in den Beiträgen dieses Heftes:
Es geht um Hilfekonferenzen für psychisch Kranke und ambulante psychiatrische Behandlungen,
die Früherkennung der Schizophrenie, um Palliativbehandlung und Qualitätsberichte
in der Pflege, um Selektionsanreize des Risikostrukturausgleichs und sozioökonomische
Wohnfeldindikatoren, um Gesundheitsuntersuchungen und – mit einem Blick über die Grenzen
– um Schmerzmitteleinnahme bei Oberstufenschülern bei unserem europäischen Nachbarn
Polen.
Was ist das Ziel all dieser Bemühungen? Vielleicht sind die Fahrten des Raumschiffes
Enterprise Symbol für das Unternehmen Zukunft ganzer Gesellschaften. Mit Recht wurde
unser Planet Erde auch als „Spaceship Earth” (Raumschiff Erde) bezeichnet [6]. Kenneth Boulding wollte mit dieser Metapher nachdrücklich darauf hinweisen, dass
wir uns bei genauerem Hinsehen nicht in einem unbegrenzten Raum bewegen, sondern in
einem sphärisch geschlossenen, begrenzten und verwundbaren Lebensraum: Dies gilt für
die „Ökosphäre” genauso wie für eine „Ökonosphäre” und eine „Soziosphäre”. Es geht
bei unserem irdischen „Unternehmen Zukunft” daher nicht nur um die Suche nach intelligenten
technischen Problemlösungen, Möglichkeiten und Horizonten. Es geht darüber hinaus
und vor allem um die Gestaltung einer Welt, in der wir und andere Menschen gerne leben,
arbeiten und lieben wollen – in Gesundheit und auch mit Krankheit und Behinderung
[7]. Solange wir gemeinsam unterwegs sind.