ZWR - Das Deutsche Zahnärzteblatt 2010; 119(10): 516-518
DOI: 10.1055/s-0030-1268110
Colloquium

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Interview mit Prof. Norbert Krämer – Die verkürzte Dauer der Weichteilanästhesie ist gerade in der Kinderzahnheilkunde von Vorteil!

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Korrespondenzadresse

Prof. Norbert Krämer

Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH

Poliklinik für Kinderzahnheilkunde

Schlangenzahl 14

35392 Gießen

Email: Norbert.Kraemer@dentist.med.uni-Giessen.de

Publication History

Publication Date:
28 October 2010 (online)

 
Table of Contents

    Am 26. Januar 2007 ist eine neue EU-Verordnung zu Kinderarzneimitteln (EG 1901/2006) in Kraft getreten. Ziel dieser Verordnung ist es, die Entwicklung und die Zugänglichkeit von Arzneimitteln zur Verwendung bei der pädiatrischen Bevölkerungsgruppe zu erleichtern. Zugleich wird hierdurch auch die Verfügbarkeit von Informationen über die Verwendung von Arzneimitteln bei den verschiedenen pädiatrischen Bevölkerungsgruppen gefördert. Vor diesem Hintergrund wird aktuell eine nicht interventionelle Studie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg in Zusammenarbeit mit 4 Prüfzentren [1] durchgeführt, bei der neben dem Wirkungsprofil insbesondere die Verträglichkeit von UbistesinTM 1/400 000 bei Kindern und Jugendlichen untersucht wird.

    ? Herr Prof. Krämer, aus welchem Grund ist es wichtig, die Wirkung und Verträglichkeit von Arzneimitteln speziell bei Kindern und Jugendlichen zu untersuchen?

    Prof. Krämer: Es ist allgemein bekannt, dass Kinder keine "kleinen Erwachsenen" sind. Die psychologischen, physiologischen und anatomischen Unterschiede, wie z. B. Größe, Gewicht, Knochendichte, zwischen Kindern und Erwachsenen müssen in Bezug auf Wirkung und Verträglichkeit berücksichtigt werden. Viele ältere Arzneimittel wurden nicht oder nur unzureichend an Kindern klinisch erprobt. Vielfach wurden die Ergebnisse klinischer Studien an Erwachsenen als Beleg für die Wirksamkeit, Verträglichkeit und Dosierung bei Kindern herangezogen. Dies hat sich durch die neue EU-Verordnung zu Kinderarzneimitteln (EG 1901/2006) geändert.

    ? Welche pharmakologischen Besonderheiten sind bei der Anwendung von Medikamenten bei Kindern im Allgemeinen zu berücksichtigen?

    Prof. Krämer: Der kindliche Körper und die Organfunktionen befinden sich in einem stetigen Entwicklungsstadium mit ständigen anatomischen und physiologischen Veränderungen. Daher ist es nicht überraschend, dass die Pharmakokinetik und Toxizität der meisten Arzneimittel innerhalb der kindlichen Altersstufen stark variieren. Folgende Faktoren können die Pharmakokinetik, Wirksamkeit und Toxizität von Arzneimitteln für Kinder und Jugendliche beeinflussen: Alter, ethnische Zugehörigkeit oder genetischer Status, Organfunktion, Grunderkrankungen, begleitende Medikamente sowie die Einhaltung der Therapie. Besonders hervorzuheben sind dabei die noch nicht vollständig ausgereiften Organe, wie z. B. die Leber und die Nieren mit Einfluss auf die Metabolisierung und Elimination sowie das Gehirn mit der noch nicht voll funktionsfähigen Blut-Hirn-Schranke.

    ? Welche Besonderheiten sind speziell bei der Anwendung von Lokalanästhetika in der zahnärztlichen Therapie bei Kindern von Bedeutung?

    Prof. Krämer: Die Lokalanästhesie ist der Standard in der Schmerzausschaltung. Der Einsatzbereich erstreckt sich von der Füllungstherapie und endodontischen Behandlung bis zur Extraktion bzw. aufwendigeren chirurgischen Maßnahmen. In der Kinderzahnheilkunde ist die Infiltrationsanästhesie neben der intraligamentären Anästhesie der Standard. Eine Leitungsanästhesie (N. mandibularis inferior) für die Unterkiefermolaren wird erst mit dem Durchbruch der ersten bleibenden Molaren notwendig. Vor diesem Hintergrund ist eine gute Penetration im regionalen Anästhesiebereich und eine ausreichende Wirkdauer gefragt.

    ? Mit welchen Risiken ist die Lokalanästhesie bei Kindern verbunden?

    Prof. Krämer: Grundsätzlich bestehen die gleichen lokalen und systemischen Risiken in der Kinderzahnheilkunde wie auch bei Erwachsenen. Alle möglichen Komplikationen wurden als Leitlinie Lokalanästhesie von der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) gelistet (http://reanitrain.de/notfalltraining/leitlinien/operative%20Eingriffe/Lokal-%20und%20Leitungsanaesthesie/Leitlinie%20Lokalanaesthesie.pdf). Zur Vermeidung toxischer Nebenwirkungen ist es unerlässlich, das Gewicht des Kindes bei der Berechnung der applizierbaren Höchstmenge an Anästhetikum zu erheben. In der Regel werden dabei die von Erwachsenen (70 kg Körpergewicht) bekannten Werte auf die Kinder interpoliert. Die Maximaldosis beträgt damit für ein 20 kg schweres Kind (Vorschulalter) 3,5 ml Articain (4 %ige Lösung) pro Tag (dies entspricht 140 mg Articain), um möglichst keine toxischen Reaktionen zu provozieren. Postoperativ sollte das Präparat möglichst schnell seine Wirkung verlieren, um Nebenwirkungen nach der Behandlung auszuschließen. In der Kinderzahnheilkunde wird in diesem Zusammenhang immer wieder über Bissverletzungen berichtet, da Kinder gerne auf dem anästhesierten Bereich herumbeißen.

    ? Inwieweit ist der Einsatz von Adrenalin in der zahnärztlichen Lokalanästhesie bei Kindern und Jugendlichen angemessen und notwendig?

    Prof. Krämer: In der Kinderzahnheilkunde wird in der Regel die intraligamentäre oder Infiltrationsanästhesie genutzt. Adrenalin garantiert eine ausreichend lange regionale Schmerzausschaltung. Bei chirurgischen Maßnahmen bleiben lange Nachblutungen aus. So kann das Kind nach unkomplizierten Milchzahnextraktionen bereits beim Verlassen der Praxis auf eine Kompression verzichten.

    ? Welche Vorteile bietet ein adrenalinreduziertes Lokalanästhetikum bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen?

    Prof. Krämer: Für mich liegt der Hauptvorteil in einer reduzierten Dauer der Weichteilanästhesie. Damit wird postoperativ die Gefahr der Weichteilverletzung erheblich reduziert.

    ? Konnte sich die adrenalinreduzierte Articain-Lösung bereits klinisch bewähren, auch im Hinblick auf höher konzentrierte Lösungen?

    Prof. Krämer: Im Rahmen von Voruntersuchungen konnten wir insgesamt bei 50 Patienten die Dauer der Weichteilanästhesie erfragen. Nach Durchschnittlich 145 min ließ die Anästhesie nach. Damit ist die Dauer der Nachwirkung der Anästhesie im Vergleich zur 1/200 000-Lösung um etwa 50 % reduziert.

    ? Liegen hierzu bereits klinische Studien an Kindern und Jugendlichen vor?

    Prof. Krämer: Nein, klinische Studien an Kindern und Jugendlichen wurden mit einer 4 %igen Articain-Lösung mit Adrenalin 1/100 000 bzw. 1/200 000 durchgeführt. Deshalb wird derzeit eine nicht interventionelle Studie mit einem adrenalinreduzierten Lokalanästhetikum durchgeführt, um die Wirksamkeit und Verträglichkeit dieses Lokalanästhetikums speziell an Kindern zu testen.

    ? Auf dem IAPD (International Association of Paediatric Dentistry) Congress 2009 in München präsentierten Sie einen Erfahrungsbericht mit dem Titel "Suitability of Articaine with a lower epinephrine content for local anesthesia in pediatric dentistry", bei dem Sie Anwendungsergebnisse mit Ubistesin 1/400 000 aus Ihrem Zentrum und 3 weiteren Zahnarztpraxen vorlegten. Wie lauteten die Ergebnisse?

    Prof. Krämer: Auf dem IAPD Congress wurden die Ergebnisse einer Pilotstudie, die der nicht interventionellen Studie vorgeschaltet war, vorgestellt. Dabei wurden 45 Kinder im Alter von 4-16 Jahren mit Ubistesin 1/400 000 behandelt. Angewandte Anästhesietechniken waren Infiltrations-, Leitungs- und intraligamentäre Anästhesie (Abb. [1]). Im Fragebogen wurden Region, Indikation, Begleitmedikation, Art der Anästhesie, Nachinjektionen, Wirksamkeit, Dauer der Behandlung sowie Dauer der Anästhesie erfasst. In über 90 % der Fälle war die Anästhesie ausreichend bzw. vollständig, um die geplante Behandlung durchzuführen (Abb. [2]). In nur 3 Fällen musste nachinjiziert werden. Die Dauer der Behandlung lag bei etwa 30 min. Das Ende der Weichteilanästhesie deckt sich mit den o. g. weiterführenden Erfahrungen und betrug in 92 % der Fälle ungefähr 2 h ab Anästhesiebeginn (Abb. [3]).

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    Abb. 1 Angewandte Anästhesietechniken einer Pilotstudie.

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    Abb. 2 Wirkung der angewandten Anästhesiemethoden.

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    Abb. 3 Übersicht über die Dauer der Anästhesie.

    ? Inwieweit hatte die begleitende Medikamentation mit Lachgas bzw. die Anästhesietechnik Einfluss auf die Anästhesiewirkung?

    Prof. Krämer: Lachgas oder Midazolam haben keine anästhesiologische Wirkung. Vor diesem Hintergrund sind auch keine Wechselwirkungen bekannt. Die Anästhesietechnik unterscheidet sich mit UbistesinTM 1/400 000 von anderen Articain-Präparaten nicht. Im Rahmen der Leitungs- bzw. Infiltrationsanästhesie sollte auf eine exakte Lokalisation des applizierten Depots geachtet werden. Bei großem Abstand der Kanülenspitze vom Foramen mandibularis oder Apex des Zahnes kann es sonst zu Anästhesieversagen kommen.

    ? Ist die Lokalanästhesie mit UbistesinTM 1/400 000 in der Kinderzahnheilkunde als sicher einzuschätzen?

    Prof. Krämer: Wir werten momentan die Beobachtungsstudie aus. Bei knapp 1000 Kindern sind keine ernsteren Nebenwirkungen aufgetreten. Die Erfahrungen sind absolut vergleichbar mit Ergebnissen aus Studien, die mit anderen Articain-Präparaten durchgeführt wurden.

    ? Welche Konsequenzen sind aus den bisher vorliegenden Studienergebnissen künftig für die zahnärztliche Praxis zu ziehen?

    Prof. Krämer: Die Hauptindikationen von UbistesinTM 1/400 000 sind sicherlich kleinere kurze Eingriffe, wie die Füllungstherapie oder unkomplizierte Extraktion in der 1. Dentition. Die verkürzte Dauer der Weichteilanästhesie ist gerade in der Kinderzahnheilkunde von Vorteil. Bei komplizierteren Eingriffen sollte aber auf Lösungen mit höheren Adrenalinkonzentrationen zurückgegriffen werden. Die Versorgung beispielsweise der MIH (Molar Incisor Hypomineralisation) Grad C mit der reduzierten Lösung wird gerade bei Kindern mit chronischen Schmerzen keinen Erfolg haben. Insofern ist für mich der Indikationsbereich der 1/400 000-Lösung vorgegeben.

    ? Bei der nicht interventionellen Studie, die aktuell am Universitätsklinikum Gießen und Marburg durchgeführt wird [1], wird neben dem Wirkungsprofil insbesondere die Verträglichkeit von UbistesinTM 1/400 000 untersucht. Lassen sich bereits erste Aussagen zu den Ergebnissen der Studie treffen?

    Prof. Krämer: In den vergangenen Monaten haben wir 81 Kinder zwischen 4 und 16 Jahren (Mittelwert: 9,5 Jahre; mittleres Körpergewicht: 34,5 kg) mit UbistesinTM 1/400 000 behandelt. Hauptindikation war die Füllungstherapie in der 1. und 2. Dentition (49 %) und die unkomplizierte Milchzahnextraktion (42 %). In allen Fällen konnte die geplante Behandlung abgeschlossen werden, wobei in 92 % der Fälle die Anästhesie als vollständig bzw. ausreichend beschrieben wurde. Eine Nachinjektion war lediglich 6-mal (8 % der Fälle) notwendig. In allen Fällen wurde das Anästhetikum gut vertragen. Die unbefriedigende anästhesiologische Wirkung lag in den Fällen vor, in denen sich die Füllungstherapie in der 2. Dentition doch länger als geplant hinzog oder statt einer D3- eine D4-Kavitation diagnostiziert wurde. Vor diesem Hintergrund sollte das Präparat für unkomplizierte Fälle und kurze Eingriffe (max. 30 min) verwendet werden.

    ! Herr Prof. Krämer wir danken Ihnen für das Gespräch.

    Das Gespräch führte Olivia Besten.

    01 Prüfzentren: Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Poliklinik für Kinderzahnheilkunde, Prof. Dr. N. Krämer; Praxis für Kinderzahnheilkunde, Dr. J. Esch, München; Praxis für Kinder- und Jugendzahnheilkunde, Dr. H. Pfau-Pautke, München; Zahnarztpraxis Dr. Erik Vetter, Dr. U. Uhlemann, Herrsching; Zahnärztliche Gemeinschaftspraxis Pasing, Dr. Lena Piehlmeier, München; Studienleitung: PD Dr. Dr. M. Daubländer, Universitätsmedizin Mainz

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    Prof. Norbert Krämer

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    Poliklinik für Kinderzahnheilkunde

    Schlangenzahl 14

    35392 Gießen

    Email: Norbert.Kraemer@dentist.med.uni-Giessen.de

    01 Prüfzentren: Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Poliklinik für Kinderzahnheilkunde, Prof. Dr. N. Krämer; Praxis für Kinderzahnheilkunde, Dr. J. Esch, München; Praxis für Kinder- und Jugendzahnheilkunde, Dr. H. Pfau-Pautke, München; Zahnarztpraxis Dr. Erik Vetter, Dr. U. Uhlemann, Herrsching; Zahnärztliche Gemeinschaftspraxis Pasing, Dr. Lena Piehlmeier, München; Studienleitung: PD Dr. Dr. M. Daubländer, Universitätsmedizin Mainz

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    Abb. 1 Angewandte Anästhesietechniken einer Pilotstudie.

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    Abb. 2 Wirkung der angewandten Anästhesiemethoden.

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    Abb. 3 Übersicht über die Dauer der Anästhesie.