Der Klinikarzt 2010; 39(10): 436-437
DOI: 10.1055/s-0030-1268355
Medizin & Management

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Aus Fehlern lernen

Von der Arbeit der Schlichtungsstellen
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Publication Date:
02 November 2010 (online)

 
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    Rechtsanwalt Johann Neu ist Geschäftsführer der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern. Die in Hannover ansässige Einrichtung ist die mit Abstand größte Schlichtungsstelle und für die Bundesländer Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen zuständig. Seit 1976 haben sich mehr als 81 000 Patienten an diese außergerichtliche Plattform zur Klärung von Arzthaftungsstreitigkeiten gewandt.

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    Johann Neu

    ? 70 % der von den Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen für Arzthaftungsstreitigkeiten im vergangenen Jahr bearbeiteten Anträge betrafen den Klinikbereich. Werden in der Klinik mehr Fehler gemacht als im niedergelassenen Bereich?

    Johann Neu: Nein! Die Verteilung sagt nichts über die "Fehleranfälligkeit" aus, sondern hängt davon ab, ob Patienten überhaupt bemerken, dass ihre Gesundheitsstörung auf einem Behandlungsfehler beruhen könnte.

    Eine Fehlstellung des Unterarmes nach einer Osteosynthese ist für Patienten augenfälliger als eine fehlerhaft eingestellte Medikation des Blutdrucks. Daher sind "schneidende Fächer", die überwiegend in der Klinik angesiedelt sind, immer die Spitzenreiter bei den gestellten Anträgen und damit automatisch auch bei den festgestellten Fehlern.

    ? In der Klinik sind am Behandlungsfall - oft auch fachübergreifend - immer mehrere Ärzte beteiligt. Ist bei einem Antrag die Klinik die Beklagte oder der vermutlich verursachende Arzt?

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    Bild: CD49 Business and Occupations 2

    Johann Neu: Bei uns in Norddeutschland ist bei einer Krankenhausbehandlung die Klinik der Antragsgegner, bei Privatpatienten der jeweilige Vertragspartner, z. B. der Chefarzt. Das ist beispielsweise in Nordrhein anders. Dort sind Krankenhäuser nicht am Verfahren beteiligt, sondern ausschließlich die Ärzte.

    ? Die Statistik hat gezeigt, dass die Gesamtzahl der Begutachtungsanträge nahezu konstant geblieben ist. Die Zahl der geprüften Anträge und der gutachterlichen Bescheide hat 2009 allerdings zugenommen. Heißt das, die Fehlerquote nimmt zu?

    Johann Neu: Nein, nicht wesentlich. In Norddeutschland haben wir seit 2000 jährlich ca. 4 000 Anträge; die Schwankungen zwischen den einzelnen Jahren liegen unter 10 %.

    ? In der Statistik wird bei den Sachentscheidungen zwischen Behandlungsfehlern und Risikoaufklärungsmängeln unterschieden. Warum macht man diese Unterscheidung?

    Johann Neu: Eine fehlende Risikoaufklärung verletzt den Patienten in erster Linie in seinem Selbstbestimmungsrecht; während ein Behandlungsfehler primär die Gesundheit beeinträchtigt.

    ? Welche juristischen Konsequenzen haben dann Mängel der Risikoaufklärung? Ist der Risikoaufklärungsmangel für den Arzt juristisch günstiger als der Behandlungsfehler?

    Johann Neu: Nein - weil sich die Beweislast umkehrt.

    Die Beweislastverteilung im Arzthaftungsrecht ist grundsätzlich so, dass zunächst die Patientenseite einen Behandlungsfehler des Arztes und darüber hinaus auch die Kausalität zwischen Behandlungsfehler und Schaden zu beweisen hat. Dieser Beweis ist oft schwer zu führen, weil das Krankheitsrisiko und der Behandlungsfehler in vielen Fällen in dieselbe Schädigungsrichtung zielen.

    Geht es allerdings um die Frage, ob eine ordnungsgemäße Aufklärung stattgefunden hat, trifft die Beweislast den Arzt. Er hat zu beweisen, dass der Patient über Art und Umfang typischer Risiken der Behandlung, Dringlichkeit der Behandlung oder Gefahren bei Nichtdurchführung einer vorgesehenen Behandlung informiert wurde und dass das Aufklärungsgespräch zum richtigen Zeitpunkt geführt wurde. Das ist eine andere Ausgangsposition.

    ? Was ist, wenn Risikoaufklärungsmängel nicht ursächlich für einen Gesundheitsschaden waren?

    Johann Neu: Ein Aufklärungsmangel greift nur dann, wenn die Kausalität zwischen dem ärztlichen Eingriff und dem geltend gemachten Schaden erwiesen ist. Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die Schadensfolge auch wirklich durch den eigenmächtigen Eingriff des Arztes verursacht worden ist und nicht auf andere Ursachen zurückgeht, liegt auf Patientenseite. Mit anderen Worten: Wenn es keinen Zusammenhang zwischen der mangelnden Risikoaufklärung und dem Gesundheitsschaden gibt, scheitern die Ansprüche des Patienten.

    ? Bundesweit existieren 17 Landesärztekammern und 12 verschiedene Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen. Arbeiten diese unterschiedlichen Institutionen verfahrenstechnisch alle gleich?

    Johann Neu: Nein, es existieren in Deutschland 9 verschiedene Verfahren. In 7 Kammerbereichen ist je eine Kommission tätig. Im Kammerbereich Baden Württemberg gibt es sogar 4 Kommissionen.

    ? Wäre es nicht sinnvoll, wenn die Bundesärztekammer die Verfahren vereinheitlichen würde?

    Johann Neu: Ja, ohne Zweifel! Die Bundesärztekammer bemüht sich bereits seit 3 Jahren um eine Vereinheitlichung. Die Verhandlungen kommen nicht so recht voran, weil man in den verschiedenen Landesärztekammern und Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen auch unterschiedliche Vorstellungen über die Arbeit der Kommissionen hat.

    ? Bei einem Schlichtungsverfahren muss der betroffene Arzt zustimmen. Kann er ablehnen, wenn er weiß, dass die Schlichtungsstelle an der für ihn zuständigen Kammer nicht optimal arbeitet? Wenn z. B. "seine" Schiedsstelle die externen Gutachten nicht noch einmal überprüft, oder in dem Gremium kein Arzt mitarbeitet?

    Johann Neu: Er muss nicht zustimmen! Die Verfahren vor den Schlichtungsstellen/Gutachterkommissionen sind freiwillig. Sie können nicht durchgeführt werden, wenn ein Beteiligter widerspricht.

    ? Wie werden diese Schlichtungsstellen, die ja nicht zur Ärztekammer gehören, finanziert?

    Johann Neu: Die Kosten z. B. der Norddeutschen Schlichtungsstelle werden von den 9 norddeutschen Ärztekammern getragen. Die Haftpflichtversicherer zahlen, und zwar unabhängig vom Ausgang des Verfahrens, eine Verfahrenspauschale und erstatten die von der Schlichtungsstelle bezahlten Kosten der externen Gutachten. Deren Honorierung erfolgt analog der für gerichtliche Gutachten geltenden Sätze.

    ? Die Schwachstelle einer solchen Institution ist die Qualität der Gutachter. Woher nehmen Sie qualifizierte Gutachter? Ärzten, die mitten im Berufsleben stehen, fehlt die Zeit. Ärzte im Ruhestand, die Zeit hätten, sind vielleicht angesichts der rasant fortschreitenden Medizin nicht auf dem neuesten Stand. Nach welchen Kriterien vergibt die Norddeutsche Schlichtungsstelle ihre Gutachten?

    Johann Neu: Unsere Gutachter werden nach ihrer Fachkompetenz im jeweiligen Einzelfall ausgewählt. Zudem beauftragen wir in Norddeutschland Gutachter aus dem gesamten Bundesgebiet. Unser Gutachterpool besteht aus über 5 000 Gutachtern, sodass für jeden Fall der passende, kompetente Gutachter beauftragt werden kann. In kleineren Schlichtungsstellen sind da schon Probleme denkbar, wenn nur Gutachter aus der eigenen Region zur Verfügung stehen.

    Darüber hinaus veranstalten wir seit einigen Jahren in Norddeutschland Kolloquien, bei denen Gutachter speziell für Arzthaftungsgutachten fortgebildet werden. Auf diese Weise kann die Qualität kontinuierlich optimiert werden.

    ? Wie kann man verhindern, dass die Gutachter nicht neutral und unvoreingenommen sind?

    Johann Neu: Jeder Gutachter erhält von uns mit dem Gutachtenauftrag einen Fragebogen mit Fragen zu einer möglichen Besorgnis der Befangenheit. Die sind vor Annahme des Gutachtenauftrags zu beantworten. Besteht die Besorgnis der Befangenheit, wird der Gutachter nicht beauftragt.

    ? Kontrollieren Sie die Qualität der Gutachten?

    Johann Neu: Ja, das externe Gutachten wird immer durch das ärztliche Mitglied und den Juristen der Schlichtungsstelle geprüft. Dabei werden medizinische und juristische Aspekte überprüft, aber auch etwaige Stellungnahmen der beteiligten Parteien zu diesem Gutachten berücksichtigt.

    ? Sind die Gutachten für die Schlichtungsstellen verbindlich?

    Johann Neu: Die Schlichtungsstelle ist nicht an die Bewertung des externen Gutachters gebunden. Es kann durchaus sein, dass sie aufgrund der medizinischen Einschätzung des fachärztlichen Mitglieds der Schlichtungsstelle zu einer anderen medizinischen Bewertung gelangt, als der Gutachter.

    Aber es kann auch bei übereinstimmender medizinischer Beurteilung, aufgrund juristischer Erwägungen (z. B. von der Rechtsprechung entwickelten Beweislastgrundsätzen), zu einer vom Gutachten divergierenden Beurteilung des ärztlichen Handelns kommen.

    Insgesamt kommen Abweichungen in etwa 14 % der Fälle vor.

    ? Krankenkassen bieten ihren Versicherten Hilfe bei vermuteten Behandlungsfehlern an. Für wie sinnvoll halten Sie diese "Dienstleistung"?

    Johann Neu: Für die Patienten besteht der Vorteil, dass das Gutachten kostenlos ist. Ein entscheidender Nachteil ist, dass keine Verjährungshemmung eintritt, wie es bei der Einschaltung von Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Fall ist. Außerdem haben die Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen nur eine niedrige Akzeptanz bei Haftpflichtversicherern.

    ? Man muss Fehler nicht selber machen, um aus ihnen zu lernen. Ist das die Idee, die hinter der Bundesstatistik steckt? Kann man aus der Bundesstatistik lernen, Fehler zu vermeiden?

    Johann Neu: Ja und zwar mithilfe von MERS! Wir haben im Jahre 2000 das Medical Error Reporting System (MERS) in Norddeutschland etabliert, das seit 2006 auch bundesweit verwendet wird. Über dieses Register erhält die Ärzteschaft - und zwar anonymisiert - Informationen über abgeschlossene Arzthaftungsstreitigkeiten und damit Erkenntnisse zur ärztlichen Fehlerprophylaxe sowie Verbesserung der Patientensicherheit. Damit haben wir die Möglichkeit, Antworten auf viele verschiedene und unterschiedlich gestellte Fragen zu erarbeiten und können durch Aufklärungsarbeit und Fortbildungen gegensteuern. Mit MERS haben die Ärztekammern einen entscheidenden Sprung auf dem eingeschlagenen Weg zur Verbesserung der Patientensicherheit geschafft.

    ? Welche Daten sammeln Sie mit MERS?

    Johann Neu: Erfasst werden die Fachgebiete der beteiligten Ärzte, die Versorgungsebenen, die Krankheiten, deren Behandlung beanstandet wurden, die in den Verfahren festgestellten Fehler, Kausalität und Schwere der Gesundheitsschäden der beteiligten Patienten, deren Alters- und Geschlechterzusammensetzung sowie die Fallzahlen bestimmter Selektionen. Für die Auswertung steht inzwischen eine Datensammlung von mehr als 40 000 Fällen zur Verfügung.

    ! Herr Neu, vielen Dank für das Gespräch!

    Das Interview führte Anne Marie Feldkamp, Bochum

     
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    Johann Neu

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    Bild: CD49 Business and Occupations 2