ergopraxis 2010; 3(11/12): 28-31
DOI: 10.1055/s-0030-1268538
profession & perspektiven

Rollenwechsel in Der Ergotherapie – Von der Basteltante zur Ergotherapeutin

Marie Hofmann
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Publication Date:
11 November 2010 (online)

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Wenn das Handwerk in der Ergotherapie zum alten Eisen gehört, dann müsste man ganze Abteilungen auf den Kopf stellen. Dass sich dieser Aufwand lohnt, zeigt das Beispiel einer Suchtklinik. Hier haben die Ergotherapeuten den Sprung zur Klientenzentrierung geschafft. Ein Plädoyer.

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Marie Hofmann, Ergotherapeutin, studiert derzeit und arbeitet in der nordbayerischen Saaletalklinik, einer Rehaklinik für Menschen mit Abhängigkeiten.

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Ergotherapeuten kennen die Worte, die ihre beruflichen Aufgaben beschreiben, und die der Deutsche Verband der Ergotherapeuten (DVE) 2007 als Definition veröffentlichte (Kasten „Definition”). Doch wer kann wirklich von sich behaupten, Behandlungen immer mit bedeutungs vollen Betätigungen für seine Klienten zu gestalten? Wer ermöglicht ihnen tatsächlich Handlungsfähigkeit und Teilhabe im Alltag und verbessert damit ihre Lebensqualität? Wenn Ergotherapeuten das leisten, dann arbeiten sie sicherlich nicht mit Handwerk. Sie merken schon, bei diesem Thema geht es darum, Stellung zu beziehen und sich mit seiner Berufs identität als Ergotherapeutin auseinanderzusetzen.

Definition

Ergotherapie …

… unterstützt und begleitet Menschen jeden Alters, die in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt oder von Einschränkung bedroht sind. Ziel ist, sie bei der Durchführung für sie bedeutungsvoller Betätigungen in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit in ihrer persönlichen Umwelt zu stärken. Hierbei dienen spezifische Aktivitäten, Umweltanpassung und Beratung dazu, dem Menschen Handlungsfähigkeit im Alltag, gesellschaftliche Teilhabe und eine Verbesserung seiner Lebensqualität zu ermöglichen.

Deutscher Verband der Ergotherapeuten (DVE)

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Veraltet: symptombezogene Ergotherapie auf Zuweisung

In vielen Rehabilitationskliniken ist die Ergotherapie sehr stark vom Handwerk geprägt. So gestaltete sich bis 2006 die Situation auch in der Klinik, in der ich beschäftigt bin – einer Rehabilitationsklinik mit dem Schwerpunkt Sucht (Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit). Häufige Begleit erkrankungen der Klienten sind zum Beispiel Depressionen, Persönlichkeitsstörungen und Zwangserkrankungen. Unser Team besteht aus drei Ergotherapeuten. Einen interdisziplinären Austausch mit den behandelnden Ärzten gab es ursprünglich nicht, und mit den Psychotherapeuten trafen wir lediglich vereinzelt Absprachen. Wenn die Klienten in die Ergotherapie kamen, dann hatte der zuständige Psychotherapeut den kompletten Behandlungsablauf bereits festgelegt. Bewegungstherapeuten und Ergotherapeuten arbeiteten auf Zuweisung und erhoben weder einen Befund, noch trafen sie Zielvereinbarungen mit den Klienten. Die Einteilung in verschiedene Gruppen erfolgte symptombezogen. Kam beispielsweise ein Klient mit dem Ziel „Verbesserung der Entspannungsfähigkeit” aus der Psychotherapie, dann ordneten wir ihm grundsätzlich das meditative Malen zu, ohne seinen Kontext einzubeziehen. Wir führten keine regulären Zwischengespräche mit den Klienten, und am Ende der Behandlung dokumentierten wir lediglich einen Überblick über den Therapieverlauf. Wir definierten keine methodischen Schwerpunkte, sondern arbeiteten nach Indikation für die bestehenden Gruppenangebote wie Materialgruppen, meditatives Malen, Gestaltungstherapie, Projektgruppen oder kognitives Training.

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Neu: klientenzentrierte Ergotherapie individuell zugeschnitten

2007 absolvierten meine beiden Kollegen und ich eine Fortbildung zum Canadian Model of Occupational Performance (CMOP). Damit war jeder in unserer Abteilung auf demselben Wissensstand, was sicher ausschlaggebend für die anschließenden Veränderungen war. Denn: Wir gingen der Struktur von der Basis her an den Kragen und richteten die gesamte ergotherapeutische Behandlung am CMOP aus. Dafür haben wir uns fast wöchentlich im Team zusammengesetzt, Ideen ausgearbeitet und gemeinsam Entscheidungen getroffen. Seitdem orientieren wir uns am klientenzentrierten Konzept und beziehen – so gut es in einer stationären Einrichtung geht – den Kontext der Klienten ein. Konkret bedeutet das, dass wir mit jedem Klienten ein Erstgespräch führen, in dem dieser gemeinsam mit der Ergotherapeutin die Behandlung abstimmt. Das Handwerk haben wir komplett aus unserer Abteilung verbannt. Stattdessen entwickelten wir eine neue Gruppe, die den Namen Selbsthilfetraining für Handlungskompetenz im Alltag (SHA) trägt und sowohl auf dem KAWA-Modell als auch auf dem CMOP basiert. Diese Gruppe ermöglicht es unseren Klienten, die eigene Lebenssituation zu analysieren und Veränderungen schrittweise von der Klinik aus anzugehen (ergopraxis 6/09, „Selbsthilfetraining für Handlungskompetenz im Alltag”).

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Handwerk ist nicht klientenzentriert

Viele Ergotherapeuten sprechen wie selbstverständlich von Klientenzentrierung und Lebensweltorientierung. Doch was macht der Klient tagtäglich in der Behandlung? Meist nach wie vor Körbe flechten, Holz bearbeiten, Seide bemalen, Tonarbeiten und weben. Aber ist das klientenzentriert und an der Lebenswelt der Klienten orientiert? Nein!

Als Rehabilitationsziel für die ambulante Rehabilitation gilt allgemein, dass drohende oder bereits manifestierte Beeinträchtigungen der Teilhabe am Arbeitsleben und Leben in der Gesellschaft durch frühzeitig eingeleitete Rehabilitationsmaßnahmen abgewendet, beseitigt, vermindert, ihre Verschlimmerung verhütet oder die Folgen gemindert werden sollen. Die Rehabilitation soll den Rehabilitanden (wieder) befähigen, eine Erwerbstätigkeit und/oder bestimmte Aktivitäten des alltäglichen Lebens möglichst in seiner „normalen”, ihm eigenen Art und Weise und dem üblichen Ausmaß ausüben zu können. Das sind die Ziele der ambulanten Rehabilitation aus der ICF für psychische und psychosomatische Erkrankungen [1]. Warum sollte das nicht auch für die stationäre Behandlung gelten?

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Wichtig: Ergotherapie richtig interpretieren

Die Betätigung ist das erklärte Ziel der Ergotherapie und gleichzeitig Mittel zur Zielerreichung. Das AOTA-Framework definiert sie als Summe von Aktivitäten und Aufgaben des täglichen Lebens, die durch Individuen und Kultur benannt, strukturiert und mit Bedeutung belegt sind [2]. Die Definitionen von COTEC, DVE und CMOP besagen, dass Ergotherapie Menschen ermöglichen soll, bedeutungsvolle Betätigungen auszuführen. Bedeutungsvoll sind Betätigungen dann, wenn sie zielgerichtet sind und Menschen sie als signifikant sinnvoll und wertvoll empfinden [3].

Bedeutungsvolle Betätigungen von Klienten in der stationären Behandlung werden jedoch durch vorgegebene Gruppen in der Ergotherapie mit den Themen Ton, Holz oder Seidenmalerei regelrecht diktiert. Ich möchte auch behaupten, dass die Klienten diese „Bastelarbeiten” in Bezug auf die Therapie überwiegend als nicht sinnvoll oder wertvoll empfinden. Zudem entscheiden sich die Klienten nicht frei für die Behandlung, wenn von Anfang an klar ist, dass Handwerk Inhalt der Therapie sein wird. Wenn die Zielsetzung der ergotherapeutischen Arbeit lautet, Klienten „bei der Durchführung für sie bedeutungsvoller Betätigungen in den Bereichen Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit in ihrer persönlichen Umwelt zu stärken”, dann ist Handwerk nicht klientenzentriert. Mehr noch, ergotherapeutisches Arbeiten wird dann falsch interpretiert.

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Therapieziele differenzieren und messbar machen

Fragt man Klienten nach für sie bedeutungsvollen Betätigungen, indem man zum Beispiel das COPM erhebt, dann erhält man für den Bereich Freizeit Antworten wie: „Zeit für mich haben und entspannen”. Die psychotherapeutische Zielsetzung lautet zwar nach wie vor „Verbesserung der Entspannungsfähigkeit”. Das ergotherapeutische Ziel kann aber je nach Vereinbarung mit dem Klienten lauten:

  • Frau Bauer nimmt an verschiedenen Gruppen wie dem Autogenen Training teil und erlernt Entspannungstechniken.

  • Sie geht ab sofort einmal am Tag 30 Minuten allein spazieren, um zu entspannen.

  • Frau Bauer plant unter Berücksichtigung ihrer Lebensumstände, wie sie im Alltag entspannen kann.

  • Sie entwickelt Strategien zur Bewältigung von Stresssituationen.

Es wird immer wichtiger, die Effizienz und den Erfolg der ergotherapeutischen Arbeit zu belegen, sich von anderen Berufsgruppen abzugrenzen und den Berufsstand der Ergotherapie zu erhalten. Da erscheint es naheliegend, Modelle und Assessments einzusetzen, um den Erfolg der Therapie messen und beweisen zu können. Im Gegensatz dazu steht im Handwerk die ausschließliche Beschreibung des Verhaltens der Klienten durch die Therapeutin, die natürlich subjektiv urteilt, da es hier weder Standard noch Richtlinien gibt.

Befragt die Ergotherapeutin den Klienten nicht selbst zu seinem Ziel, sondern übernimmt einfach das psychotherapeutische Ziel „Verbesserung der Entspannungsfähigkeit”, dann beschreibt sie damit weder den Ist-Zustand, noch wird deutlich, wann der Klient sein Ziel erreicht hat. Bei einer ergotherapeutischen, klientenzentrierten Befunderhebung sieht das Ziel gleich ganz anders aus: „Frau Bauer geht einmal am Tag 30 Minuten allein spazieren, um zu entspannen.” Wenn dann noch der Klient bewertet, wie er diese Aktivität ausführt, wie zufrieden er mit der aktuellen Situation ist und wie wichtig dieses Ziel für ihn ist, dann kann die Ergotherapeutin die Ausgangssituation und das Ergebnis der Betätigung dokumentieren. Die Bewertung geschieht im COPM durch den Klienten, ebenso die Zielsetzung der Betätigung mit Begleitung der Therapeutin (Kasten „Zielkriterien”).

Zielkriterien

Um Therapieziele zu differenzieren und messbar darzustellen, muss man …

… die Betätigung konkret benennen.

… eine für den Klienten sinnvolle Betätigung in das Ziel integrieren.

… das Ziel überprüfbar/messbar machen.

… das Ziel in einer verständlichen Sprache formulieren.

… den Zeitfaktor integrieren.

… das Ziel in den Kontext zur Umwelt bzw. zur Person stellen.

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Der Transfer vom Handwerk zum Alltag ist zu abstrakt und kann nicht gelingen

Unter diesen Aspekten kann Handwerk nicht länger Inhalt der Therapie sein, da der Übertrag vom Korbflechten auf die konkreten Alltagsbetätigungen wie Spazierengehen für viele Klienten zu abstrakt ist und nicht gelingt. In unserer Einrichtung haben wir die Erfahrung gemacht, dass Klienten das ursprüngliche Ziel „zur Ruhe kommen und entspannen” trotz ausführlicher Besprechung komplett in den Hintergrund drängten, da das Ergebnis der Flechterei sehr rasch in den Vordergrund rückte. Somit wurde die Motivation, in die Ergotherapie zu kommen, eine andere. Zudem erfüllt das Ziel „zur Ruhe kommen und entspannen” die oben genannten Kriterien eines Betätigungszieles nicht.

Schlussendlich geht es in der Therapie laut ICF um die Teilhabe der Klienten in den von ihnen gewünschten Lebensbereichen. Daraus folgt die Aufgabe der Ergotherapeutin, den Klienten in seiner Handlungsfähigkeit so weit zu unterstützen, dass es ihm gelingt, nach der Therapie wieder teilzuhaben oder dass er in der Lage ist, neue Lebensbereiche für sich zu erschließen. Um so vorzugehen, muss sie den Klienten als selbstständiges und handelndes Wesen sehen, dessen Handlungen sich immer auf einen Kontext beziehen.

Der Vorteil des klientenzentrierten Vorgehens liegt darin, dass man viel schneller die eigentliche Motivation der Klienten erfährt. Denn: Möchten sie sich in der Rehabilitationsmaßnahme erholen und sich versorgen lassen (eine durchaus nicht seltene Erscheinung bei Suchtkranken), dann werden sie ausdrücklich nach Beschäftigung verlangen und sich mit Basteln zufrieden geben. Ist die Motivation jedoch, wieder ein vollwertiges und teilhabendes Mitglied der Gesellschaft zu werden, verhindert das Beschäftigen mit Handwerk die Auseinandersetzung mit Realitäten, die der Klient zu Hause vorfinden wird.

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Handwerkliche Beschäftigung unterstützt süchtige Muster

An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass ein Phänomen der Sucht die sogenannte „Abwehr” und somit die Ablenkung ist. Damit meine ich, dass der Betreffende der Auseinandersetzung mit sich ausweicht, indem er die verschiedensten Dinge tut. In der stationären Therapie äußert sich das im Rauchen, im Kreuzworträtsellösen, in übermäßigem Basteln oder in sonstiger großer Geschäftigkeit – außer in der Beschäftigung mit sich selbst [4]. Wenn also die Therapeutin den süchtigen Klienten in der stationären Therapie beschäftigt, unterstützt sie an dieser Stelle ein süchtiges Muster.

Im Gegensatz dazu sollten die Teilschritte der angestrebten Betätigung Inhalt der Therapie sein, um sich der eigentlichen Betätigung anzunähern. Dadurch kann der Klient sofort im Alltag der Klinik beginnen, süchtige Muster zu durchbrechen, ein neues gesundheitsförderndes Verhalten für den Alltag zu Hause entwickeln und bereits während des Aufenthaltes in der Klinik Rahmenbedingungen schaffen, um die neuen oder erneuerten Betätigungen zu Hause ausführen zu können.

Bei dem Ziel „Frau Bauer geht einmal am Tag 30 Minuten allein spazieren, um zu entspannen” könnte das wie folgt aussehen:

  • eine Betätigungsanalyse mit der Klientin durchführen

  • besprechen und aufschreiben, was sie unternehmen muss, damit das Spazierengehen in der Klinik und zu Hause klappt

  • gemeinsam herausfinden, was sie im Moment hindert und welche Ressourcen und Stärken sie nutzen kann, um ihr Ziel zu erreichen

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Umdenken stärkt die Berufsidentität!

Diese Arbeitsweise erfordert sicherlich eine grundlegende Umstrukturierung der eigenen Arbeit und der ergotherapeutischen Abteilung. Zudem steht die Ergotherapeutin vor der Schwierigkeit, in der Rehabilitationsklinik den Alltag des Klienten kaum oder oft gar nicht einbeziehen zu können. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass es sich dennoch lohnt!

Klientenzentrierte Ergotherapie im Sinne des CMOP ist mit einer tiefgehenden Auseinandersetzung und Modifizierung der therapeutischen Grundhaltung verbunden. Für die Klienten bietet die klientenzentrierte Ergotherapie die Möglichkeit, verstärkt Verantwortung für sich zu übernehmen. Dies wirkt sich positiv auf ihre Therapiemotivation und die therapeutische Beziehung aus. In unserer Einrichtung hatte die intensive Auseinandersetzung mit konzeptionellen Fragen zudem eine positive Auswirkung auf unsere berufliche Identität und unsere Selbstdarstellung. Die Erfahrungen zeigen, dass hierdurch die Kommunikation im interdisziplinären Kontext zu den Inhalten und Zielsetzungen der Ergotherapie leichter wird und erfolgreicher verläuft [5].

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