Die Bürger der Europäischen Union (EU) sollen spätestens Anfang 2013 über das Internet
freien Zugriff auf umfangreiche Informationen über Nutzen und Risiken von Arzneimitteln
haben. Das sieht ein aktualisiertes EU-Gesetz zur Arzneimittelüberwachung vor. Die
Novelle schreibt den Pharmaunternehmen vor, künftig alle Nebenwirkungen bei einer
zentralen europäischen Datenbank zu melden. Die Vorschriften treten Mitte 2012 in
Kraft und müssen dann noch in nationales Recht umgesetzt werden. Damit ist der erste
Teil des sogenannten EU-Pharmapakets, das für mehr Sicherheit und Transparenz im Umgang
mit Arzneimitteln sorgen soll, unter Dach und Fach.
Strengere Regeln bei der Arzneimittelüberwachung sowie eine zentrale Datenerfassung
sollen den Patientenschutz in der Europäischen Union erhöhen. Bisher gibt es große
Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Systemen.
Die aktualisierte Fassung eines EU-Gesetzes zur Pharmakovigilanz verpflichtet die
Pharmaunternehmen daher, künftig alle Meldungen zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen
(UAW), die nach der Markteinführung ihrer Produkte auftreten, an die EU-weite Datenbank
Eudravigilance bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) in London zu senden.
Die Eudravigilance-Datenbank soll mit den nationalen Pharmakovigilanz-Datenbanken
verlinkt werden. Sie wird künftig die alleinige Informationsquelle zur Arzneimittelsicherheit
sein. Die Datenbank wird in erster Linie für die zuständigen nationalen Behörden,
die EMA und die EU-Kommission zugänglich sein. Auf einige Daten sollen aber auch Pharmaunternehmen,
Angehörige von Gesundheitsberufen und die Öffentlichkeit unter Gewährleistung datenschutzrechtlicher
Bestimmungen Zugriff haben.
Neue Vorschriften nehmen Hersteller stärker in die Pflicht
Neue Vorschriften nehmen Hersteller stärker in die Pflicht
Nebenwirkungen werden in der EU bisher vielerorts nur zum Zeitpunkt der Zulassung
erfasst. Die neuen Vorschriften nehmen die Hersteller somit stärker in die Pflicht.
Die Neuregelungen treten Mitte 2012 in Kraft und erfordern eine entsprechende Anpassung
des Arzneimittelgesetzes. Der Ministerrat muss das Gesetz im Dezember zwar formell
noch absegnen. Die Zustimmung ist aber sicher, da sich das Parlament und die Mitgliedstaaten
bereits im Vorfeld auf eine Fassung geeinigt haben. Spätestens 2013 sollen die neuen
Vorschriften dann greifen.
Die Meldepflicht gilt künftig anders als bisher nicht nur für schwerwiegende unerwünschte
Arzneimittelwirkungen, sondern auch für vermutete Nebenwirkungen, Medikationsfehler,
wie Über- und Unterdosierungen, sowie Reaktionen, die beim Off-Label-Use auftreten.
Ökologische Auswirkungen von Arzneimitteln, wie die Verunreinigung von Gewässern,
sollen künftig ebenfalls Gegenstand des Pharmakovigilanz-Systems sein. Grund hierfür
ist, dass einige wissenschaftliche Untersuchungen den Verdacht nahelegen, dass Arzneimittelrückstände
im Wasser nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern über das Trinkwasser auch Menschen
schädigen können.
Einrichtung öffentlich zugänglicher Webportale
Einrichtung öffentlich zugänglicher Webportale
Damit sich Patienten künftig intensiver an der Arzneimittelüberwachung beteiligen,
erhalten sie das Recht, Nebenwirkungen direkt bei der Aufsichtsbehörde ihres Mitgliedstaates
zu melden. Die EU-Mitgliedstaaten werden verpflichtet, die Meldungen online oder schriftlich
zu ermöglichen, damit auch Patienten ohne Internetzugang an der Arzneimittelüberwachung
teilhaben können.
Der CDU-Europaabgeordnete und Arzt, Dr. Peter Liese, begrüßt die Änderungen. Das Gesetz
sei ein wichtiger Schritt zur besseren, unabhängigen Information der Patienten, so
Liese. Zugleich appelliert er an die Ärzteschaft, ihrer berufsrechtlichen Pflicht
zur Meldung von Nebenwirkungen künftig verstärkt nachzukommen. Die Meldequote liegt
Untersuchungen zufolge selbst bei schweren UAW derzeit bei unter 10 %.
Ebenfalls neu ist, dass die Mitgliedstaaten und die EU öffentlich zugängliche Webportale
einrichten müssen. Dort sollen auch Angehörige von Gesundheitsberufen und Patienten
umfassende Informationen über den Nutzen und die Risiken von Arzneimitteln abrufen
können. Neben den Beipackzetteln in den Landessprachen der EU sollen Informationen
über Nebenwirkungen, Bewertungen, Zusammenfassungen von Produkteigenschaften sowie
Risikomanagementpläne und Unbedenklichkeitsstudien der Hersteller online zur Verfügung
stehen. Patienten sollen so die Möglichkeit erhalten, sich auch auf Reisen schnell
und problemlos in ihrer Muttersprache über das Internet über verordnete oder mitgeführte
Arzneimittel informieren zu können.
Mehr Transparenz durch neu gestaltete Beipackzettel
Mehr Transparenz durch neu gestaltete Beipackzettel
Da viele Beipackzettel nach wie vor nicht sehr patientenfreundlich gestaltet sind,
schreibt das Arzneimittelüberwachungsgesetz der EU-Kommission zudem vor, in 2 Jahren
einen Bericht vorzulegen, wie Packungsbeilagen verständlicher und lesbarer gemacht
werden können.
Die Beipackzettel neu zugelassener Arzneimittel oder medizinischer Produkte mit einem
neuen biologischen Wirkstoff sollen mit Inkrafttreten des Gesetzes darüber hinaus
ein schwarzes Symbol sowie den Hinweis "dieses Produkt untersteht einer zusätzlichen
Überwachung" erhalten. Damit will die EU die Transparenz erhöhen. Eine Liste solcher
Produkte soll ebenfalls über das Internet abrufbar sein.
Die Neuregelungen waren nötig geworden, da in der Vergangenheit bei einigen Arzneimitteln
auch nach der Zulassung immer wieder schwerwiegende Nebenwirkungen aufgetreten sind.
Das wohl tragischste Beispiel ist der Wirkstoff Thalidomid des Beruhigungs- und Schlafmittels
Contergan®, der Ende der 50er, Anfang der 60er-Jahre zu zahlreichen Missbildungen
bei Neugeborenen führte. 2004 wiederum stellte sich in Langzeitstudien heraus, dass
das nichtsteroidale Antirheumatikum der Gruppe der selektiven COX-2-Hemmer Vioxx®
zu einer signifikant höheren Rate an Herzinfarkten, instabiler Angina Pectoris und
Schlaganfällen führte. Das Mittel verschwand daraufhin ebenfalls vom Markt.
Ziel: Schnellere Reaktion auf unerwünschte Wirkungen
Ziel: Schnellere Reaktion auf unerwünschte Wirkungen
Die EU erhofft sich durch die intensivere Vernetzung bei der Arzneimittelüberwachung,
schneller auf unerwünschte Wirkungen reagieren und die betreffenden Mittel umgehend
vom europäischen Markt nehmen zu können. Dies würde zu einem besseren Patientenschutz
beitragen. Nach Angaben der EU sterben jährlich etwa 197 000 Patienten durch Arzneimittelnebenwirkungen.
Auch die Industrie begrüßt die Änderungen im Wesentlichen. Die zentrale Meldepflicht
ermöglicht nach Ansicht von Dr. Elisabeth Storz, Referentin für Arzneimittelsicherheit
beim Verband forschender Arzneimittelhersteller, bessere und frühere Analysen und
vereinfache den Aufwand bei den Firmen und den Behörden. Andererseits befürchtet Storz,
dass die zu erwartende Zunahme von Meldungen auch von Verdachtsfällen die Suche nach
der "Nadel im Heuhaufen" nicht einfacher machen wird.
Gesetzesvorschlag zur Aufhebung des Informationsverbots über verschreibungspflichtige
Arzneimittel
Gesetzesvorschlag zur Aufhebung des Informationsverbots über verschreibungspflichtige
Arzneimittel
Ein weiterer Gesetzesvorschlag des EU-Pharmapakets, der die Aufhebung des Informationsverbots
über verschreibungspflichtige Arzneimittel betrifft, hat kürzlich ebenfalls eine entscheidende
Hürde genommen. Der Gesundheitsausschuss des Europäischen Parlaments (EP) stimmte
dafür, dass Arzneimittelhersteller nur vorab geprüfte und genehmigte Informationen
über rezeptpflichtige Präparate veröffentlichen dürfen.
Ferner forderten die Parlamentsmitglieder, dass die Beipackzettel mit einem Kasten
versehen werden sollen, der die wesentlichen Informationen über das jeweilige Arzneimittel
verständlich und übersichtlich zusammenfasst. Die Gesundheitsexperten des Europäischen
Parlaments sprachen sich außerdem dagegen aus, Informationen über verschreibungspflichtige
Arzneimittel im Fernsehen, Hörfunk und in gedruckten Medien zuzulassen. Ein weiterer
Schwerpunkt der neuen Richtlinie soll die Einführung von nationalen Webportalen sein.
Hier soll sich die Öffentlichkeit nicht nur über einzelne Arzneimittel, sondern auch
über Hintergründe von Erkrankungsbildern und andere Behandlungsmethoden informieren
können.
Der ursprünglich von Ex-Industriekommissar Günter Verheugen vorgelegte Gesetzesvorschlag
hatte für heftige Diskussionen gesorgt. Kritiker fürchteten, dass die Pharmaindustrie
die Vorschriften dazu nutzen könnte, Schleichwerbung für verschreibungspflichtige
Arzneimittel zu machen.