DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2011; 9(03): 1
DOI: 10.1055/s-0030-1271122
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Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Editorial

N. N.
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Publication Date:
05 July 2011 (online)

 

Erfahrung und Konzept

Um den Handlungs- und Erfahrungsbereich der Osteopathie zu bestimmen, wird palpatorische Erfahrung zitiert oder auf die Eckpunkte des osteopathischen Konzepts verwiesen. Passen Erfahrung und klinisches Konzept immer zusammen? Gibt es Widersprüche und Reibungsflächen?

Unser Wissen um biologische Abläufe legte manches Konzept nahe. Da es aber kein unmittelbares Übersetzungsverhältnis von Biologie in Palpation gibt, kann klinische Erfahrung nicht vorprogrammiert werden. Still schien es noch möglich, radikalen Empirismus mit höchster Konzept-Instanz zu verbinden: Nur Gott und Erfahrung wollte er zitieren. Uns dürfte diese Formel nicht mehr so leicht von der Hand gehen; Gott selbst äußert sich nur selten zitierbar zu klinischen Fragen und unsere Erfahrung ist zu situativ und kontextgebunden, um ohne Umstände in einem Konzept verallgemeinert zu werden. Weder Gott noch Erfahrung sind unmittelbar gegeben, sodass Interpretationen notwendig bleiben.

Die spirituellen Bewegungen im Umfeld der entstehenden Osteopathie haben dagegen die Quadratur des Kreises versucht: ein Glaube unmittelbar aus der Erfahrung, ganz ohne Glaubenssätze und Interpretation. Dieser Cocktail aus göttlicher Autorität und Erfahrungsoffenheit kippt oft zu einer Seite, wird autoritär-verstockt, substanzlos-beliebig oder ekstatisch-erleuchtet. In Anbetracht der Anforderungen klinischen Handelns sind diese Kippungszustände kontraindiziert. Das hat die erste Generation der Osteopathen nach Still geahnt und sich daran gemacht, die neue Wissenschaft der Osteopathie durch rationale Kernaussagen zu institutionalisieren.

Ganz im Geiste des 19. Jahrhunderts haben sie versucht, alles von ersten Prinzipien abzuleiten. Diese First Principles spielen heute noch eine bedeutende Rolle, wenn Osteopathen die Grundlagen ihrer Arbeit beschreiben: körperliche Einheit, Struktur-Funktion-Korrelation, Selbstheilung.

Prinzipien zur Begründung für das eigene Handeln heranzuziehen, setzt auf die Autorität oder Offenbarung der Setzung dieser Prinzipien. Offenbarung ist zwar die eleganteste Lösung, weil sie die Willkür menschlicher Setzungen durch unmittelbare Gewissheit überwindet, aber einem modernen Subjekt- und Wissenschaftsverständnis sind weder Offenbarung noch Autorität gut genug. Wer allgemeine Prinzipien aus jeweils besonderen Erfahrungen ableitet, verwickelt sich in die Widersprüchlichkeit und Vielseitigkeit der klinischen Erfahrungswelt. Enge konzeptuelle Vorgaben würden Wissenslust und Erfahrungsdrang entmutigen. Konzeptuell begründetes Handeln führt im Extremfall zur Immunisierung gegen Enttäuschung und Misserfolg. Wem wird es angelastet, wenn der Selbstheilungsmechanismus nicht greift: dem Patienten, dem Therapeuten oder dem Prinzip?

An den Setzungen von Prinzipien – die Erfahrung begründen und vor jeder Erfahrung gelten sollen – hat sich das 19. Jahrhundert abgearbeitet. Das 20. Jahrhundert hat davon nichts übrig gelassen. First Principles haben sich ethisch, wissenschafts- und handlungstheoretisch längst als erfahrungsfeindlicher Irrweg erwiesen. Es ist eine der Eigentümlichkeiten der Osteopathie, dass diese in ihr noch so viel Nachhall finden. Osteopathie als klinische Wissenschaft braucht dagegen erfahrungsgetränkte Konzepte und Begriffe, die sich ihrer eigenen Setzungen bewusst werden.

Die Herausgeber


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