Erfahrung und Konzept
Um den Handlungs- und Erfahrungsbereich der Osteopathie zu bestimmen, wird palpatorische
Erfahrung zitiert oder auf die Eckpunkte des osteopathischen Konzepts verwiesen. Passen
Erfahrung und klinisches Konzept immer zusammen? Gibt es Widersprüche und Reibungsflächen?
Unser Wissen um biologische Abläufe legte manches Konzept nahe. Da es aber kein unmittelbares
Übersetzungsverhältnis von Biologie in Palpation gibt, kann klinische Erfahrung nicht
vorprogrammiert werden. Still schien es noch möglich, radikalen Empirismus mit höchster
Konzept-Instanz zu verbinden: Nur Gott und Erfahrung wollte er zitieren. Uns dürfte
diese Formel nicht mehr so leicht von der Hand gehen; Gott selbst äußert sich nur
selten zitierbar zu klinischen Fragen und unsere Erfahrung ist zu situativ und kontextgebunden,
um ohne Umstände in einem Konzept verallgemeinert zu werden. Weder Gott noch Erfahrung
sind unmittelbar gegeben, sodass Interpretationen notwendig bleiben.
Die spirituellen Bewegungen im Umfeld der entstehenden Osteopathie haben dagegen die
Quadratur des Kreises versucht: ein Glaube unmittelbar aus der Erfahrung, ganz ohne
Glaubenssätze und Interpretation. Dieser Cocktail aus göttlicher Autorität und Erfahrungsoffenheit
kippt oft zu einer Seite, wird autoritär-verstockt, substanzlos-beliebig oder ekstatisch-erleuchtet.
In Anbetracht der Anforderungen klinischen Handelns sind diese Kippungszustände kontraindiziert.
Das hat die erste Generation der Osteopathen nach Still geahnt und sich daran gemacht,
die neue Wissenschaft der Osteopathie durch rationale Kernaussagen zu institutionalisieren.
Ganz im Geiste des 19. Jahrhunderts haben sie versucht, alles von ersten Prinzipien
abzuleiten. Diese First Principles spielen heute noch eine bedeutende Rolle, wenn Osteopathen die Grundlagen ihrer Arbeit
beschreiben: körperliche Einheit, Struktur-Funktion-Korrelation, Selbstheilung.
Prinzipien zur Begründung für das eigene Handeln heranzuziehen, setzt auf die Autorität
oder Offenbarung der Setzung dieser Prinzipien. Offenbarung ist zwar die eleganteste
Lösung, weil sie die Willkür menschlicher Setzungen durch unmittelbare Gewissheit
überwindet, aber einem modernen Subjekt- und Wissenschaftsverständnis sind weder Offenbarung
noch Autorität gut genug. Wer allgemeine Prinzipien aus jeweils besonderen Erfahrungen
ableitet, verwickelt sich in die Widersprüchlichkeit und Vielseitigkeit der klinischen
Erfahrungswelt. Enge konzeptuelle Vorgaben würden Wissenslust und Erfahrungsdrang
entmutigen. Konzeptuell begründetes Handeln führt im Extremfall zur Immunisierung
gegen Enttäuschung und Misserfolg. Wem wird es angelastet, wenn der Selbstheilungsmechanismus
nicht greift: dem Patienten, dem Therapeuten oder dem Prinzip?
An den Setzungen von Prinzipien – die Erfahrung begründen und vor jeder Erfahrung
gelten sollen – hat sich das 19. Jahrhundert abgearbeitet. Das 20. Jahrhundert hat
davon nichts übrig gelassen. First Principles haben sich ethisch, wissenschafts- und handlungstheoretisch längst als erfahrungsfeindlicher
Irrweg erwiesen. Es ist eine der Eigentümlichkeiten der Osteopathie, dass diese in
ihr noch so viel Nachhall finden. Osteopathie als klinische Wissenschaft braucht dagegen
erfahrungsgetränkte Konzepte und Begriffe, die sich ihrer eigenen Setzungen bewusst
werden.
Die Herausgeber