Z Sex Forsch 2011; 24(2): 111-133
DOI: 10.1055/s-0031-1271474
ORIGINALARBEIT

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Sexueller Zwang bei Primaten: Evolutionäre Ursachen und Gegenstrategien der Weibchen

Tony Weingrill, Carel van Schaik
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Publikationsdatum:
15. Juni 2011 (online)

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Übersicht:

Im Tierreich konkurrieren Männchen in der Regel um Zugang zu Weibchen und die Weibchen sind wählerisch in Bezug auf ihre Paarungspartner. Das führt zu intersexueller und intrasexueller Selektion, aber auch zu Konflikten zwischen den Geschlechtern. Dieser sexuelle Konflikt hat Konsequenzen für Verhalten, Morphologie und Physiologie beider ­Geschlechter. Sexueller Zwang (sexual coercion) durch Männchen, der vor allem bei Arten mit ausgeprägtem Geschlechtsdimorphismus vorkommt, kann als Anpassung an diesen Konflikt gesehen werden. Eine extreme Form von sexuellem Zwang ist Infantizid, der eine adaptive Reproduktionsstra­tegie der Männchen sein kann. Das Risiko, Nachkommen durch Infantizid zu verlieren, ist für Primatenweibchen besonders hoch, da die Laktations­periode länger als die Trächtigkeit dauert und die verkürzten Geburtsintervalle für kindstötende Männchen einen großen Vorteil bieten. Vor allem bei Altweltaffen findet man als Gegenstrategie der Weibchen eine Tendenz zur Verschleierung der Vaterschaft durch Promiskuität, einhergehend mit langen, rezeptiven Perioden. Auch bei Menschen kommen Kopulationen über den ganzen Zyklus und auch während der Schwangerschaft vor. Bei uns scheint diese Eigenschaft eine weitere Funktion zu haben: sie fördert langfristige Paar­beziehungen innerhalb gemischtgeschlechtlicher Gruppen. Warum sexueller Zwang trotzdem so häufig auftritt, wird anhand der Primatenbefunde und Daten von Jäger- und Sammlergesellschaften diskutiert. 

Literatur

1 In diesem Zusammenhang sollte kurz auf die Taxonomie der Primaten eingegangen werden. Primaten werden in die Unterordnungen Feuchtnasenaffen (Strepsirrhini) und Trockennasenaffen (Haplorrhini) eingeteilt. Zu den Feuchtnasenaffen gehören die Lemuren, die ausschließlich in Madagaskar leben, und die Loriartigen aus Afrika und Asien. Die meisten Arten leben solitär und sind nachtaktiv. In den gruppenlebenden Arten sind Weibchen in der Regel dominant über Männchen. Die Trockennasenaffen werden in die Teilordnungen Koboldmakis (Tarsiiformes), Neuweltaffen (Platyrrhini) und Altweltaffen (Catharrhini) unterteilt. Die in der Regel einzelgängerischen nachtaktiven Koboldmakis, von denen es nur wenige Arten gibt, leben in Südostasien. Die Neuweltaffen aus Mittel-und Südamerika (dazu gehören zum Beispiel Tamarine, Marmosetten, Kapuzineraffen, Brüllaffen und Sakis) und die Altweltaffen (Meerkatzen, Makaken, Pavianartige, Languren und Menschenaffen) werden auch als Anthropoiden zusammengefasst. Primaten dieser Unterordnung sind fast ausschließlich tagaktiv und leben mehrheitlich in stabilen, gemischtgeschlechtlichen Gruppen.

Dr. T. Weingrill

Anthropologisches Institut und Museum Universität Zürich

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