Kleines Rätsel zur Begrüßung: Was ist das invasivste diagnostische Verfahren, das
die Medizin zu bieten hat? Ein Herzkatheter? Die ERCP mit Schlitzung der Papilla vateri?
Die Hirnbiopsie bei einem unklaren neurologischen Leiden? Völlig falsch! Ich spreche
vom guten alten Hausbesuch. Mit dieser Maßnahme dringen Sie zwar nicht in den Körper
des Patienten ein, dafür aber in sein Umfeld, seine Privatsphäre, seine Lebenswelt
– kurz: das, was seine eigentliche Person ausmacht. Hier müssen Sie Risikofaktoren
z. B. nicht erfragen, Sie können sie – zum Teil – mit allen Sinnen erkennen. Nun verliert
ausgerechnet dieses zentrale ärztliche Instrument zusehends an Bedeutung. Die Zahl
häuslicher Visiten ist in den Jahren nach 1996 um über 40% zurückgegangen [1]. Die
Gründe hierfür sind vielseitig. Die miese Bezahlung für diese Dienstleistung mag eine
Rolle spielen. Anderen ist die ganze Aktion „Besuch” schlicht zu aufwendig: hinfahren,
Treppenhaus erklimmen, Schwätzchen halten, sich Probleme erzählen lassen … Bleibt
da überhaupt noch Zeit für Medizin? Die Hausärzte, mit denen wir für unseren Artikel
„Weiterbildung Allgemeinmedizin” gesprochen haben, haben da eine klare Meinung: Das
IST Medizin!
Hierzulande mögen Hausbesuche eine oft unterschätzte Stütze des Gesundheitssystems
sein. Woanders wäre ohne sie überhaupt keine Medizin möglich. Im Artikel „Im Schatten
des Waldes” erzählt der deutsche Mediziner Daniel Peter von seiner Arbeit als „Flussarzt”
bei den Urarina-Indianern am Rio Chambira im peruanischen Regenwald. Macht er sich
auf einen „Hausbesuch”, ist er in seinem kleinen Boot Tage unterwegs. Den Weg zu seinen
Patienten muss er sich mitunter mit Machete und Motorsäge freikämpfen. Die Urarina
sind ein winziges Volk von 3.300 Seelen. Ohne die Visiten der europäischen Ärzte,
die sie gegen von Holzfällern und Ölarbeitern eingeschleppte Infektionserreger impfen
und eine Minimalversorgung gewährleisten, könnten sie nicht überleben.
Noch vor 150 Jahren war es hierzulande nicht anders. Da es noch keine guten Kliniken
gab, wurden die meisten schwer kranken Patienten zu Hause behandelt. Bei Wind und
Wetter eilten die Ärzte von Haus zu Haus. Dass sich dieser Aufwand reduziert hat,
ist für die Mediziner natürlich ein Gewinn. Auf der anderen Seite: Nicht nur Patienten
profitieren von Hausbesuchen. Auch Ärzten tut es gut, wenn sie ab und an die Weißkittelbrille
abstreifen – und bei Hausbesuchen dem „prallen Leben” ins Gesicht blicken: Sei es
in Form der Blümchentapete der 90-jährigen Diabetikerin oder in Gestalt des Unrats
in der Wohnung des 30-jährigen Messies. Solche Einblicke schützen sehr effektiv davor,
sich zu sehr in einen Kokon aus Diagnose, Verordnungen und Prognose einzuspinnen …
In diesem Sinne: Viel Spaß mit dem aktuellen Hausbesuch Ihrer Via medici wünscht Ihnen
Ihr
Dr. med. Dieter Schmid, Redaktionsleitung
[1] H.-P. Romberg. „Hausbesuch – ungeliebt, aber wichtig (…)” Der Hausarzt 2005; 15:
42–47