Diabetes aktuell 2011; 9(1): 10-11
DOI: 10.1055/s-0031-1274132
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Bleibt die Therapiefreiheit erhalten? – Arzneimittelrichtlinien und Therapiehinweise richtig verstehen und um setzen

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Publication Date:
25 February 2011 (online)

 
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    Christian Dierks

    Die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine moderne Diabetestherapie gehörten zu den spannenden Themen beim IV. Diabetes-Symposium am 20.11.2010 in Hamburg. Die Arzneimittelrichtlinien und Therapiehinweise des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) sollten die Ärzte verstehen und umsetzen. Oberste Priorität muss dabei aber die therapeutische Freiheit haben, denn der Vorrang medizinischer Erfordernisse muss erhalten bleiben. Von den Richtlinien abweichende Medikationen sind zulässig, dabei ist aber eine genaue Dokumentation besonders wichtig.

    Über dieses Thema sprach im Auftrag von "Diabetes aktuell" die Journalistin Susan Röse mit dem Fachanwalt für Sozialrecht und Facharzt für Allgemeinmedizin Prof. Dr. med. Dr. iur. Christian Dierks, Lehrbeauftragter der Charité im Fachbereich der Gesundheitssystemforschung und Partner in der Kanzlei Dierks + Bohle in Berlin.

    ? Ist die Arzneimittelrichtlinie verbindlich und wenn ja für wen?

    Dierks: Die Arzneimittelrichtlinie ist für die gesetzlich krankenversicherten Patienten, die gesetzlichen Krankenkassen und die am Vertragsarztsystem teilnehmenden Ärzte verbindlich. Die Therapiehinweise sind Bestandteil der Arzneimittelrichtlinien. Deshalb sind die Vertragsärzte auch verpflichtet, die Therapiehinweise zur Kenntnis zu nehmen. Inhaltlich stellen sie allerdings nur Empfehlungen dar. Ein Regress auf der Basis eines Therapiehinweises ist beispielsweise nicht möglich. Die DMPs (Disease Management Programme) sind nicht Bestandteil der Arzneimittelrichtlinien. Sie gelten für Ärzte und Patienten nur, wenn sie an einem solchen Programm teilnehmen. Auch für ein DMP besteht eine gewisse Verbindlichkeit, allerdings hängt es vom Wortlaut ab, was verbindlich ist. Dies muss man sich im Einzelfall genau ansehen.

    ? Was bedeutet die Leitsubstanzquote für Innovationen?

    Dierks: Leitsubstanzquoten lassen Spielraum für die Verordnung von Innovationen. Sie machen nur Vorgaben für den Großteil der Patienten, indem sie den Anteil eines bestimmten Wirkstoffes, der Leitsubstanz, in einer Arzneimittelgruppe für die Gesamtheit der Verordnungen quartalsbezogen vorgeben. Solange die Quote nicht unterschritten wird, sind Verordnungen anderer Wirkstoffe möglich.

    ? Was ist eine Richtgrößenprüfung?

    Dierks: Die Richtgrößenprüfung dient der Überprüfung einer wirtschaftlichen Verordnungsweise. Bei ihr wird die Jahresrichtgrößensumme mit dem tatsächlichen Verordnungsvolumen des Arztes verglichen. Überschreitungen von mehr als 25 %, die nicht durch Praxisbesonderheiten erklärt werden können, können einen Regress auslösen.

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    Abb. 1 Die Richtgrößenprüfung erfolgt meist erst Jahre nach Verordnung eines Medikaments. Deshalb ist eine zuverlässige Dokumentation wichtig, am besten standardisiert, wie am Beispiel gezeigt.

    ? Wie sehen "rechtliche Rahmenbedingungen für eine moderne Diabetestherapie" aus und können Sie uns dazu ein Beispiel nennen?

    Dierks: Im Rahmen einer modernen Diabetestherapie muss der Vertragsarzt den medizinischen Standard, das Wirtschaftlichkeitsgebot und damit auch die Arzneimittelrichtlinie beachten. Der Therapiehinweis des G-BA zu Sitagliptin lautet beispielsweise: "Die Gabe von Sitagliptin ist auf die Fälle zu beschränken, bei denen die vorhandenen kostengünstigeren Alternativen aufgrund von Kontraindikationen nicht eingesetzt werden können, unverträglich sind oder nicht zu einer adäquaten Blutzuckerkontrolle führen. Metformin und Sulfonylharnstoffe sind bei belegtem Langzeitnutzen und günstigen Kosten orale Antidiabetika der ersten Wahl. Wenn Glitazone unter Berücksichtigung ihrer Risiken in der Second-line-Therapie nicht infrage kommen und die Insulintherapie noch nicht angezeigt ist, kann Sitagliptin eine Alternative sein". Dies muss also berücksichtigt werden, lässt aber auch ausreichend Spielraum für die Therapie von Patienten unter den dort beschriebenen Voraussetzungen.

    ? Welche Tipps haben Sie für den Hausarzt?

    Dierks: Um das Verordnungsverhalten abzusichern, sollte man nicht in jedem Einzelfall alle medizinischen und rechtlichen Vorgaben prüfen, sondern sich für die wichtigsten und besonders häufigen Medikamente eine argumentative Strategie zurecht legen. Anhand dieser sollten die einzelnen Verordnungen dann schematisch, quasi automatisch, dokumentiert werden. Entscheidend ist, dass sich rückblickend nachweisen lässt, dass Verordnungen wohl begründet erfolgten und nicht auf zufälliger Auswahl eines Präparates beruhen. Dann ist auch die Regressgefahr gebannt.

    ? Wie wichtig ist die Dokumentation?

    Dierks: Die Dokumentation spielt bei der Absicherung der Verordnungen die entscheidende Rolle. Ich kann nicht darauf vertrauen, dass ich mich in 2 bis 3 Jahren, wenn die Richtgrößenprüfung durchgeführt wird, noch genau an den Patienten und die Verordnungssituation erinnere. Eine schematische Dokumentation ist ausreichend, aber auch notwendig.

    ? Wann werden mit Mehrkosten verbundene Innovationen von der GKV geschuldet?

    Dierks: Wenn sie dem Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und keine therapeutisch gleichwertige preiswertere Alternative existiert.

    ? Wie kann es sein, dass der Gesetzgeber die kostengünstigeren Sulfonylharnstoffe als erste Wahl benennt, obwohl sich immer mehr herausstellt, dass diese mehr Nebenwirkungen aufweisen als die modernen Diabetesmedikamente?

    Dierks: Als erste Wahl werden diese Arzneimittel weder vom Gesetzgeber noch vom Gemeinsamen Bundesausschuss in der Arzneimittelrichtlinie genannt. Nur im DMP sind diese Wirkstoffe als solche beschrieben, deren Nutzen und Sicherheit nachgewiesen ist. Daraus ist nicht zwingend der Schluss zu ziehen, dass diese Mittel vorrangig verwendet werden müssen.

    ? Hätte der Gesetzgeber nicht die Pflicht, die Patienten vor solchen Medikamenten zu schützen?

    Dierks: Der Gesetzgeber ist zum Schutz der Patienten nur durch allgemeine Gesetze in der Lage. Diese sind aus meiner Sicht ausreichend. Was wir vermissen, ist ein gezieltes Innovationsmanagement in der gesetzlichen Krankenversicherung, das es dem Patienten ermöglicht, in den Genuss sicherer Innovationen zu kommen, ohne dass dabei die finanzielle Leistungsfähigkeit der Krankenversicherung gefährdet wird.

    Herr Prof. Dr. Dr. Dierks, vielen Dank für Ihre Antworten

     
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    Christian Dierks

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    Abb. 1 Die Richtgrößenprüfung erfolgt meist erst Jahre nach Verordnung eines Medikaments. Deshalb ist eine zuverlässige Dokumentation wichtig, am besten standardisiert, wie am Beispiel gezeigt.