Beim Fragilen-X-Syndrom handelt es sich um die häufigste ererbte Form einer intellektuellen
Behinderung. Das Störungsbild resultiert aus einer Mutation des FMR1-Gens, das auf
dem X-Chromosom lokalisiert ist. Sie tritt mit einer geschätzten Häufigkeit von mindestens
1:4 000 bei Jungen und 1:8 000 bei Mädchen auf. Die Ausprägung von Entwicklungs- und
Verhaltensstörungen ist bei Jungen in der Regel wesentlich stärker als bei Mädchen.
Verzögerter Spracherwerb im frühen Kindesalter
Verzögerter Spracherwerb im frühen Kindesalter
Die kognitive Entwicklung und die Entwicklung des Sprachverstehens vollziehen sich
im frühen Kindesalter verzögert, der Grad der Verzögerung ist jedoch individuell sehr
unterschiedlich. Ein Teil der Jungen zeigt soziale und kommunikative Auffälligkeiten,
die ähnlich denen sind, die bei Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung beobachtet
werden. Sie lassen sich als Schwierigkeiten der Reizverarbeitung und Impulskontrolle
verstehen. Insbesondere bei dieser Teilgruppe verläuft die expressive Sprachentwicklung
deutlich langsamer als die Entwicklung in den übrigen Bereichen.
Pragmatische Sprachauffälligkeiten bei Jungen
Pragmatische Sprachauffälligkeiten bei Jungen
Im Schulalter liegt bei der Mehrzahl der Jungen eine Intelligenzminderung vor, so
dass sie nach dem Lehrplan der Schule für geistig behinderte Kinder unterrichtet werden.
Bei einigen Jungen mit Fragilem-X-Syndrom machen besonders gut ausgeprägte visuelle
Auffassungsfähigkeiten und lebenspraktische Kompetenzen auch den Besuch anderer Schulformen
möglich. Wortschatzumfang und Satzbaufähigkeiten entsprechen im Schulalter meist dem
Niveau der übrigen Fähigkeiten.
Als Hindernis für das Gelingen sozialer Beziehungen erweisen sich aber in vielen Fällen
ausgeprägte Auffälligkeiten im Sprachgebrauch. So neigen viele Jungen zu Perseverationen
und haben große Schwierigkeiten, sich im Dialog auf das Thema des Gesprächspartners
einzustellen. Ein überhastetes Sprechtempo, eine polternde Sprechweise, Artikulationsstörungen
und begleitende Bewegungsstereotypien (z.B. Wedeln mit den Armen) erschweren die Verständigung
zusätzlich. Diese Verhaltensbesonderheiten treten kaum in vertrauten Alltagssituationen
auf, wohl aber dann, wenn die Kinder mit fremden, für sie schwierigen sozialen Anforderungen
konfrontiert werden. Sie sind zu verstehen als Ausdruck von Problemen der Selbstregulation,
Handlungsplanung und Impulskontrolle. Sie erschweren auch die Einleitung und Durchführung
einer Sprachtherapie, da die Jungen zumindest anfangs nur schwer zur Kooperation mit
den für sie neuen Anforderungen zu bewegen sind.
Soziale Scheu bei Mädchen
Soziale Scheu bei Mädchen
Auch Mädchen mit Fragilem-X-Syndrom zeigen charakteristische Verhaltensauffälligkeiten.
Bei ihnen ist die Beeinträchtigung kognitiver Funktionen jedoch in der Regel geringer
oder beschränkt sich auf Teilleistungsbereiche (z.B. Rechnen). Auch bei ihnen liegt
aber eine Störung der affektiven Selbstregulation vor, die sich vor allem in sozialer
Scheu und einer Neigung zu depressiven Stimmungen äußert.
Förderung sozialer Kompetenzen in der Therapie
Förderung sozialer Kompetenzen in der Therapie
Bei Jungen und Mädchen mit Fragilem-XSyndrom steht daher ab dem Schulalter die Förderung
sozial-kommunikativer Kompetenzen im Vordergrund. Übungen zur Verbesserung der Verständlichkeit
der Äußerungen und zur Reduzierung des Sprechtempos sowie zur Förderung von Gesprächsfähigkeiten
tragen dazu bei, Misserfolge in sozialen Kontakten zu reduzieren. Hilfreich sind dabei
sowohl strukturierende Maßnahmen, die Gesprächsabläufe ritualisieren und es den Kindern
damit leichter machen, ihre Beiträge auf den Gegenüber abzustimmen, wie auch Selbstkontrolltechniken,
die den Kindern helfen, ihr Erregungsniveau bei fremden sozialen Anforderungen zu
kontrollieren. Angesichts dieser spezifischen Ziele hat es sich bewährt, bei Kindern
mit Fragilem-X-Syndrom sprachtherapeutische Ansätze mit Elementen der Ergotherapie
(Sensorische Integrationstherapie) und Kinderverhaltenstherapie (Positive Verhaltensunterstützung)
zu kombinieren.
Fazit
Fazit
Kinder mit Fragilem-X-Syndrom reagieren auf soziale Anforderungen mit ausgeprägter
Scheu und ausweichendem Verhalten; in fremden Gesprächssituationen haben sie große
Schwierigkeiten, sich adäquat zu beteiligen. Im Vordergrund der Therapie stehen Übungen
zur Verbesserung pragmatischer Sprachkompetenzen.
Prof. Dr. Klaus Sarimski, Heidelberg