Die Studie
Dietmar Göbel ist niedergelassener Orthopäde und Unfallchirurg im badischen Donaueschingen,
Wolfgang Schultz arbeitet in der Orthopädischen Universitätsklinik Göttingen. Die
beiden wissen von Kollegen, dass Patienten regelmäßig Physiotherapieverordnungen
mit passiven Behandlungsmaßnahmen nachfordern. Die Ärzteschaft gewinne dadurch den
Eindruck, dass die verordnete Physiotherapie völlig ineffektiv sei. Da man in der
Literatur vergeblich nach Artikeln zum Thema „Kooperation zwischen Physiotherapeut
und Arzt im ambulanten Bereich“ suche, planten die beiden Ärzte ein Forschungsprojekt.
Sie wollten der Frage nachgehen, ob der verordnende Arzt die Effizienz ambulanter
Physiotherapie in Orthopädie und Unfallchirurgie überhaupt beurteilen kann. Dazu formulierten
sie folgende Fragen:
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Wie hoch ist die schriftliche Rückmelde-quote, wenn der Arzt auf der Verordnung einen
Therapiebericht anfordert?
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Führen Physiotherapeuten die Behandlungsmaßnahmen wie verordnet durch, oder ändern
sie die Maßnahmen? Und: Fragen sie den verordnenden Arzt, bevor sie die Maßnahmen
ändern?
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Leiten Physiotherapeuten die Patienten zu Eigentherapie und Prophylaxe an, wenn der
Arzt das ausdrücklich ver ordnet?
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Wie hoch ist der Anteil der angefor derten Folgeverordnungen?
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Treten durch die Behandlung Komplikationen auf?
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Kann der Erfolg der rezeptierten physiotherapeutischen Maßnahmen im Rahmen der bestehenden
Kooperation zwischen Arzt und Therapeut beurteilt werden?
264 Verordnungen kontrolliert
Um diese Fragen zu beantworten, kontrollierte Wolfgang Göbel 264 physiotherapeutische
Verordnungen, die er während eines Monats in seiner orthopädischen Praxisklinik ausgestellt
hatte. Verschrieben hatte er 167-mal KG, 37-mal MT, 26-mal KGG und 24-mal D1. Dazu
kamen 4-mal KG im Bewegungsbad, 3 Massagen, 2 Elektrotherapien und 1 Wärmetherapie.
Bei allen Verordnungen hatte er – durch Markieren des entsprechenden Kästchens – einen
schriftlichen Therapiebericht angefordert. Die schriftliche Rückmelde- und Nachforderungsquote
ermittelte er an-hand der erhaltenen Therapieberichte. Die Patienten bestellte er
5–6 Wochen, nachdem er die Verordnung ausgestellt hatte, noch einmal ein. Dann fragte
er nach dem Behandlungserfolg, der Art der Behand-lung und eventuellen Komplikationen.
Hatte er bei einem Patienten aktive Maß-nahmen verordnet, bat er ihn, die entsprechenden
Eigenübungen zu demonstrieren. Hatte er keinen Therapiebericht erhalten und äußerte
sich der Patient im Laufe des Gesprächs auch nicht zum Thema Folgeverordnung, fragte
der Arzt nach: „Was meint denn der Physiotherapeut?“ So erhielt er zusätzlich eine
sogenannte „mündliche Nachforderungsquote“.
Nachforderungsquote von 99 %
Die Rückmeldequote war ernüchternd: Zu den 264 ausgestellten Verordnungen erhielt
der Arzt lediglich 33 Therapieberichte. Das entspricht 12,5 %. Mehr als die Hälfte
davon – nämlich 17 – enthielten keine verwertbaren Informationen über den Behandlungsverlauf.
Nur 9 Berichte waren ausführlich und hilfreich. 6 Berichte drückten den Wunsch nach
Therapieände-rung im Sinne einer passiven Behandlung aus, ein Bericht unterstützte
eine aktivere Behandlung. Jedoch forderten die Therapeuten auf 90 % der Therapieberichte
eine Folgeverordnung. Zusammen mit den mündlichen Nachforderungen durch die Patienten
ergab sich eine Gesamt-Nachforderungsquote von 98,9 %. Mit anderen Worten: Nur bei
3 von 264 Patienten sollte der behandelnde Arzt – ginge es nach Physiotherapeut und
Patient – keine Folgeverordnung ausstellen.
Eigenübungen nicht gelernt
Es kommt noch schlimmer: In 193 Fällen verordnete Göbel ausdrücklich, dass der Patient
Eigenübungen erlernen sollte. Die entsprechenden Patienten bat er daher, die erlernten
Übungen zu demonstrieren. Lediglich 5 Patienten, deren Behandlung allerdings aus Krankengymnastik
am Gerät bestanden hatte, konnten zumindest verbal Übungen am Trainingsgerät beschreiben.
Unter Komplikationen nach der Physiotherapie – Schwindel, Übelkeit oder Schmerzverstärkung
– litten 6 Patienten, also 2,3 %.
Fazit: Physiotherapeuten sollen nicht selbstständig behandeln
Das Fazit der beiden Ärzte: Es besteht ein enormes „Kooperationsdefizit". Die fehlende
Rückmeldung durch die Physiotherapeuten hat Schultzs und Göbels Meinung nach zur
Folge, dass der Arzt die Effektivität der verordneten Krankengymnastik überhaupt nicht
einschätzen kann. Die beiden Orthopäden lehnen eine eigenständige, von der ärztlichen
Verordnung losgelöste Physiotherapie unbedingt ab. Sie berufen sich dabei auf eine
Veröffentlichung von Kuprian und Kollegen [2] und sehen sich durch die desaströse
Rückmeldequote in ihrem Projekt bestätigt.
Goebel D, Schultz W. Ambulante Physiotherapie in Orthopädie und Unfallchirurgie:
Kann der Erfolg überhaupt beurteilt werden? Z Orthop Unfall 2011; 149: 17–21