manuelletherapie 2011; 15(5): 239-240
DOI: 10.1055/s-0031-1281925
Kongressbericht

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Pain in Europe VII – 7th Congress of the European Federation of IASP Chapters (EFIC)

J. Schomacher1
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Publication Date:
19 December 2011 (online)

Einer der größten europäischen Schmerzkongresse vom 21.–24. September 2011 in Hamburg brachte eine Aktualisierung zur Schmerzforschung. Hauptthema war die pharmakologische und sonstige ärztliche Behandlung. Daher ist es verständlich, dass kaum Physiotherapeuten anwesend waren. Schade ist, dass die Physiotherapie minimal vorkam und bei den Vorträgen kaum erwähnt wurde. Unter den hunderten Poster-Präsentationen fanden sich nur wenige von Physiotherapeuten, die außerdem oft eine mäßige Qualität aufwiesen (von Studien ohne Kontrollgruppen bis hin zur unschönen Präsentation), was vielleicht nicht immer einen guten Eindruck hinterlassen hat ([Abb. 1]).

Da der Kongress primär von Ärzten besucht wurde, mag dieses mangelnde Erscheinen der Physiotherapie vielleicht erklären, warum sie bei vielen Schmerzzuständen nicht immer verordnet wird. Zudem waren vorwiegend Forscher anwesend, die kaum etwas von Physiotherapie erfuhren – und somit auch keinen Anreiz erhielten, Physiotherapie zu erforschen. Einige Kernaussagen mögen zeigen, dass es dennoch für Physiotherapeuten interessante Themen gab:

Bei Gelenkarthritis ist die hauptsächlich Schmerz verursachende Struktur die entzündete Synovia, gefolgt von Knochenschmerz. Dieser Schmerz ist mit einer zentralen Sensibilisierung verbunden (S. Perrot, Frankreich).

Die Manipulation der Wirbelsäule erzielt einen kleinen und klinisch nicht relevanten positiven Effekt und in 50 % der Fälle milde bis mäßige nachteilige Wirkungen. Hinzu kommen Hunderte Fälle von ernsthaften negativen Wirkungen bis hin zum Tod. Das Verhältnis zwischen Nutzen und Nachteil sei eindeutig zu Letzterem verschoben. Dabei beruft sich der Redner auf Manipulationen durch Chiropraktiker, weil diese in der Literatur zu finden sind, und auf 1 Cochrane Review ([5]; E. Ernst, England).

Die nozizeptive Innervation der Haut zeigt weniger segmentale Überlappung als die taktile, weshalb sie zur exakten klinischen Bestimmung der medullären Segmenthöhe besser geeignet ist (U. Baumgärtner, Deutschland).

Zur Schmerzpalpation in tiefer gelegenen Muskeln eignet sich besser eine große Druckfläche (15 mm), während eine kleine (5 mm) mehr in der Oberfläche reizt (T. Graven-Nielsen, Dänemark).

Durch Schmerzpalpation lässt sich ein schmerzhaftes zervikales Bogengelenk nicht lokalisieren, weil die Ausdehnung der zentralen Sensibilisierung die periphere Empfindlichkeitserhöhung überdecken kann (M. Curatolo, Schweiz). Diese auf einer guten Studie basierende Aussage [7] mag uns Physiotherapeuten gerade in der Manuellen Therapie anregen, die Palpation in Kombination mit Bewegung zur Segmentlokalisation einzusetzen [6].

Maximale und submaximale Übungen mindern die Druckschmerzschwelle (Pain pressure threshold) bei Patienten mit zentraler Sensibilisierung wie beim chronischen Fatigue-Syndrom und den mit Schleudertrauma assoziierten Störungen (Whiplash-associated syndrome, WAD). Die ideale Dosierung fehlt noch. Zentral wirkende Schmerzmedikamente können mit Übungen kombiniert werden (M. Meeus, Belgien).

Psychologische Interventionen haben im Vergleich zu aktiven Interventionen wie Physiotherapie nur einen geringen oder keinen Effekt. Als Grund dafür werden die mangelnde Methodologie der Studien und insbesondere die fehlende Bewertung individueller Behandlungsergebnisse angeführt. Des Weiteren wird in den Studien von „allgemeiner“ Psychologie gesprochen, so als würde in anderen Forschungsgebieten als Intervention „allgemeine“ Chirurgie untersucht (C. Eccleston, Großbritannien). Anmerkung: Eine ähnliche Kritik trifft wohl auf viele Studien zu, die die Wirkung von „allgemeiner“ Physiotherapie untersuchen, ohne genaue Angaben über Indikation, Technik, Dosierung usw.

Eine therapeutisch vermittelte optimistische Einstellung zum Leben und zum Schmerzproblem vermindert das Katastrophisieren und damit die Schmerzintensität und zentrale Sensibilisierung (M. Peters, Niederlande).

Referred pain (übertragener Schmerz) ist eine normale Antwort auf starken nozizeptiven Input, wie z. B. experimentellen Schmerz. Solche Referred pain auslösende Triggerpunkte können im Muskelgewebe, aber auch in Sehnen und Fettgewebe liegen (T. Graven-Nielsen, Dänemark).

Die Twitch response ist für das klinische Auffinden von Triggerpunkten nicht nötig (S. Mense, Deutschland).

In einem umfassenden Review-Vortrag zur Triggerpunktbehandlung wurde die Physiotherapie nicht erwähnt. Auf meine Frage nach dem Warum antwortete der Redner, er habe keine Studien gefunden, in denen Physiotherapie den durch Triggerpunkte ausgelösten Muskelschmerz (im Muskel entstehender Schmerz) behandelt wurde. Die Wirkung einer Behandlung wie die manuelle Triggerpunktbehandlung auf den muskuloskelettalen Schmerz sei unspezifisch und würde nicht beweisen, dass sie den durch den Triggerpunkt ausgelösten Schmerz mindere (M. Curatolo, Schweiz). Zudem können Triggerpunkte bisher nicht durch eine körperliche Untersuchung reliabel identifiziert werden [2].

Placebo wirkt über die Ausschüttung endogener Opioide auf Rückenmarks- und Gehirnebene. Je teurer ein Placebo, desto besser wirkt es. Denn die Bereitschaft, für etwas viel zu zahlen (wie z. B. in einem Auktionshaus), aktiviert die gleichen Zentren im rostralen anterioren zingulären Kortex wie das Placebo. Die Schmerzwahrnehmung verringert sich, wenn man eine anspruchsvolle intellektuelle Aufgabe ausführt. Die kognitive Modulierung von Schmerz beginnt schon auf spinaler Ebene (C. Büchel, Deutschland).

Einige Aussagen könnten entmutigend wirken, doch auch Ärzte können vieles nicht erklären. So gibt es z. B. bisher keinen bekannten ätiologischen Faktor oder anatomische Veränderungen für das Fibromyalgiesyndrom (N. Üçeyler, Deutschland). Zu dessen Behandlung wurden zwar Übungen und Balneotherapie, aber keine Physiotherapie erwähnt.

Auch mag Kritik an einigen Aussagen und Studien entstehen. So sinnvoll eine solche kritische Analyse ist, so notwendig erscheint ein vorausschauendes Handeln. Der große Unterschied zwischen diesem Forschungs- und Ärztekongress und Physiotherapiekongressen scheint mir in den Paradigmen zu liegen. Ein Paradigma ist die „Gesamtheit aller eine Disziplin in einem Zeitabschnitt beherrschenden Grundauffassungen, die festlegen, was als wissenschaftlich befriedigende Lösung angesehen werden kann“ [1]. Hier haben Ärzte und Forscher die Wissenschaften wie Physiologie und Neurologie, zu denen sie in ihren Forschungen neue Details hinzufügen, was sie Fortschritt nennen und untereinander teilen.

Ein solches einheitliches Paradigma fehlt meines Erachtens in der Physiotherapie noch weitgehend. Unsere Denkmodelle sind fast so zahlreich wie die „Konzepte“, die unseren Weiterbildungsmarkt prägen und mit denen einige sogar ihre Berufsbezeichnung ergänzen. Selbst in der Manuellen Therapie sind wir uns uneinig, wenn wir z. B. an die Frage denken, ob die Behandlungstechniken schmerzhaft sein dürfen oder nicht und wie weit die Gelenkmechanik beachtet werden sollte.

Sollten wir Physiotherapeuten nicht unsere Denkmodelle und berufsspezifischen Paradigmen vereinen, um die vorhandene Evidenz für alle nutzen zu können und gemeinsam unseren Beruf darzustellen. Wie z. B. wirkt Physiotherapie auf Schmerz? Gibt es wirklich einen Unterschied zwischen den verschiedenen Techniken, oder benutzen alle die Bewegung als Reiz und entscheidend ist vielmehr die Dosierung? Die wenigen Vergleichsstudien zwischen Konzepten zeigen keinen Unterschied hinsichtlich der schmerzlindernden Wirkung, z. B. zwischen McKenzie und OMT [3] und Maitland und McKenzie [4]. Wäre es z. B. nicht möglich, für alle Physiotherapeuten ein einheitliches Denkmodell zu erarbeiten, wie Physiotherapie über Bewegung auf den Schmerz wirkt? Dann könnten wir alle gemeinsam an der Verbesserung dieses Models arbeiten und unsere Physiotherapie wahrscheinlich nicht nur besser präsentieren, sondern auch letztendlich wirksamer machen.

Ein Redner beendete seinen Vortrag über komplementäre Medizin, zu der er auch die Manipulation/Mobilisation der Wirbelsäule zählte, mit folgendem Satz, der auch für uns gelten könnte: „We need less opinion and more scientific evidence!“ (E. Ernst, UK).

Abb. 1 Poster-Präsentationen (Quelle: Kongress-Pressestelle).

Literatur

  • 1 Brockhaus .Der Brockhaus in fünf Bänden. Mannheim: F. A. Brockhaus; 1994
  • 2 Lucas N, Macaskill P, Irwig L et al. Reliability of physical examination for diagnosis of myofascial trigger points: a systematic review of the literature.  The Clinical Journal of Pain. 2009;  25 80-89
  • 3 Paatelma M, Kilpikoski S, Simonen R et al. Orthopaedic manual therapy, McKenzie method or advice only for low back pain in working adults: a randomized controlled trial with one year follow-up.  Journal of Rehabilitation Medicine. 2008;  40 858-863
  • 4 Powers C M, Beneck G J, Kulig K et al. Effects of a single session of posterior-to-anterior spinal mobilization and press-up exercise on pain response and lumbar spine extension in people with nonspecific low back pain.  Physical Therapy. 2008;  88 485-493
  • 5 Rubinstein S M, Middelkoop van M, Assendelft W J et al. Spinal manipulative therapy for chronic low-back pain: an update of a Cochrane Review.  Spine. 2011;  36 E825-E846
  • 6 Schomacher J, Learman K. Symptom Localization Tests in the Cervical Spine: A Descriptive Study using Imaging Verification.  Journal of Manual & Manipulative Therapy. 2010;  18 97-101
  • 7 Siegenthaler A, Eichenberger U, Schmidlin K et al. What does local tenderness say about the origin of pain? An investigation of cervical zygapophysial joint pain.  Anesthesia and Analgesia. 2010;  110 923-927

Jochen Schomacher

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