Zeitschrift für Phytotherapie 2011; 32(3): 103-104
DOI: 10.1055/s-0031-1284331
Editorial

© Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Arzt und Patient im Prokrustesbett der ökonomischen Zwänge

Karin Kraft
Further Information

Karin Kraft

Publication History

Publication Date:
12 July 2011 (online)

Table of Contents
    Zoom Image

    Das Unbehagen an unserem deutschen Medizinsystem nimmt immer mehr zu. Die Patienten, die sich natürlich die bestmögliche Medizin wünschen, um wieder gesund zu werden bzw. wenigstens ihr Leben wieder besser bewältigen zu können, merken, dass dieser Anspruch im praktischen Alltag oft nicht realisiert werden kann. Das Sozialgesetzbuch schreibt zwar den Ärzten vor, den allgemeinen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis im Auge zu behalten und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen, sie sind aber immer stärker weisungsgebunden, d.h. sie müssen die Balance zwischen medizinischen Notwendigkeiten und ökonomischen Zwängen halten.

    Die ökonomischen Zwänge und die entsprechenden Auswirkungen werden immer massiver. Der Ausschluss fast aller Phytopharmaka aus der Erstattungsfähigkeit im Jahr 2004 war nur einer der vielen kleinen Bausteine, die der Kostendämpfung dienen sollten. Der weitere starke Anstieg der Arzneimittelkosten, der von den Experten damals prognostiziert wurde, ist längst eingetreten, die Ausgaben steigen trotz immer hektischer werdender Regulierungsversuche ständig weiter. Einige weitere Beispiele: Inzwischen müssen von Schwerkranken diagnostische und therapeutische Maßnahmen immer häufiger selbst bezahlt werden. Für Maßnahmen der physikalischen Therapie und Hilfsmittel müssen orthopädische Patienten oft selbst aufkommen, außer sie mutieren zum sozialversicherungsrechtlichen Fachmann. Auch wenn das Wirtschaftlichkeitsgebot für die Verordnung eines Heilmittels erfüllt und dessen Wirksamkeit belegt ist, müssen Patienten auf diese Leistung verzichten, wenn sie teuer ist, weil das Heilmittelbudget des behandelnden Arztes ausgeschöpft ist.

    Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bestimmt nach den Regeln der evidenzbasierten Medizin, d.h. nach anscheinend objektiven Kriterien, was in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgenommen wird. Nun gibt es aber eine Vielzahl von preiswerten und/oder nicht patentgeschützten Verfahren, die den Wirksamkeitsbeleg nicht erbringen können, weil niemand die ständig steigenden Kosten für eine klinische Studie übernehmen kann. Bei anderen Verfahren ist der G-BA trotz des Vorliegens von positiven Studien nicht zur eindeutigen Entscheidung gekommen, dass die jeweilige Methode für den Patienten einen Nutzen hat. Der Arzt, der die Leistungsfähigkeit eines derartigen Verfahrens kennt und im Einzelfall einen Patienten damit behandeln möchte, hat nun vier Möglichkeiten: Er behandelt den Patienten nach dem Stand der ärztlichen Kunst und riskiert einen Regress, er wendet einen »Trick« an, er wendet das Verfahren als IGeL an oder er überweist den Patienten in ein Krankenhaus, in dem das Verfahren angewendet wird, was dann für die Versicherungsgemeinschaft höhere Kosten verursacht. Leider gilt eine erfolgreiche Therapie mit diesem Verfahren aber nicht als Wirksamkeitsbeleg für den G-BA, weil es sich nur um eine Kasuistik handelt. Verweigert die betreffende GKV die Erstattung eines nicht anerkannten Verfahrens, muss sich der Patient oft bis in die oberste Instanz der Sozialgerichtsbarkeit durchklagen. Auf dieser Ebene zeigt sich die Krankenkasse dann kulant, um ein Grundsatzurteil zu verhindern.

    Bei der Verschreibung von Arzneimitteln sollen bekanntlich Generika und nicht die patentgeschützten Analogpräparate berücksichtigt werden. Da manche Patienten das empfohlene Generikum nicht vertragen, gerät der behandelnde Arzt in ein Dilemma: Entweder trifft er die richtige individuelle Entscheidung oder er folgt dem kollektiv definierten Nutzen. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient wird so zunehmend durch die gesetzlichen Vorgaben, die Regelungen der Krankenkassen, die Furcht der Ärzte vor Regressen, die Drohungen der Krankenkassen bzw. die Verwaltungsdirektoren der Krankenhäuser bestimmt. Die Erkrankung eines Patienten muss dabei wie in einem Prokrustesbett in einen vorgegebenen Standard nach ICD-10 gepresst werden, Diagnostik und Therapie werden auf die Kosten-Nutzen-Relationen reduziert. Der Verlust der Individualität des Patienten ist in diesem System erwünscht, er wird aber darüber nicht informiert, sondern vielmehr im Glauben gelassen, dass er Anspruch auf eine auf ihn abgestimmte Therapie hat, die sich am medizinischen Fortschritt orientiert. Die Spannung zwischen diesem Anspruch und den begrenzten Finanzmitteln nimmt immer mehr zu, die Therapiefreiheit steht - gewollt? - hinten an.

    Es ist wohl nicht zu vermeiden, dass eine Versorgung, die für die Solidargemeinschaft bezahlbar bleiben soll, auf dem Hintergrund begrenzter Mittel, ansteigendem Alter der Bevölkerung und teurem medizinischen Fortschritt in einem gewissen Ausmaß rationiert werden muss. Allerdings weiß man inzwischen auch, dass das Erreichen eines gesunden Alters nur zu 10% von der medizinischen Versorgung, zu 30% aber von der genetischen Ausstattung und zu 60% von der Eigenvorsorge abhängt. Hier liegt wohl die größte Chance, das Problem besser in den Griff zu bekommen. Wir müssen aber öffentlich darüber diskutieren und nicht das Arzt-Patient-Verhältnis damit belasten, sonst wird es dauerhaft beschädigt.

    Das Unbehagen ist übrigens inzwischen ganz oben angekommen: Bei der Eröffnungsveranstaltung des Internistenkongresses am 1.5.2011 stellte sich Minister Rosier in seiner Rede eine Verletzung eines seiner Kniegelenke am Jahresende vor, mit der er einen Arzt aufsucht, dem entsprechend den Vorgaben seines Verwaltungsdirektors noch einige größere operative Eingriffe am Kniegelenk bis Jahresende »fehlen« und malte sich die entsprechenden Konsequenzen aus.

    Karin Kraft

    Karin Kraft

    Zoom Image