Zeitschrift für Palliativmedizin 2011; 12(05): 208
DOI: 10.1055/s-0031-1287730
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Buchbesprechung – Lieber Jakob
Brief an meinen Sohn über das Leben und Sterben seiner Mutter

Contributor(s):
Manfred Gaspar St. Peter-Ording
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Publication Date:
20 September 2011 (online)

 
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Ein Mann schreibt ein Buch. Das ist an sich nichts Besonderes. Dieses Buch enthält, was den Mann bewegt. Auch das wurde vielfach schon beschrieben. Und auch, dass es thematisch um Krebs geht, um die Auseinandersetzung mit dieser metaphorisch hoch besetzten Krankheit, erweckt keine besondere Aufmerksamkeit. Groß ist mittlerweile die literarische Auseinandersetzung mit bösartigen Tumorerkrankungen – sowohl aus Patientensicht als auch aus der Perspektive von Angehörigen. Das Außergewöhnliche an "Lieber Jakob" sind Form und primärer Adressat, die Martin Hecht im Untertitel benennt "Brief an meinen Sohn über das Leben und Sterben seiner Mutter".

Sehr sachlich liest sich der Beginn der 320 Seiten, die primär nicht als Veröffentlichung geplant waren, obwohl oder gerade weil der Autor Publizist ist:

"Lieber Jakob, was ich auf diesen Seiten festhalten will, hat eigentlich im März 2005 begonnen. Aber lange Zeit wollte ich nicht, dass diese traurige Geschichte überhaupt stattfindet, dass sie allzu großen Raum in unserem Leben einnimmt. Dennoch, jetzt im Oktober 2007, ist die Zeit gekommen, dies alles für Dich aufzuschreiben. Denn die Tage, in denen wir die Erkrankung deiner Mutter vor die Tür schicken konnten, sind vorbei. Es sind Sätze aus einer Zeit, in der wir mit dem Rücken zur Wand stehen. Es sind Sätze, dafür gedacht, Dir irgendwann später einmal zu erklären, was damals geschah, als Du noch keine sechs Jahre alt warst und nicht alles begreifen konntest. Deine Mutter hat Krebs. Schlimmer noch, sie hat wieder Krebs. Es gab eine kurze Zeit, da dachten wir tatsächlich, wir wären ihn los.

Deshalb glaubte ich auch lange, dass es nicht nötig sei, diese Geschichte für dich festzuhalten. Heute ist das anders. Seit ein paar Tagen ist die Krankheit zurückgekehrt, und wie jetzt alles wird, ist völlig offen.

Montag, den 29. Oktober 2007. Während ich diese Zeilen schreibe, ist Deine Mama bei einer vorstationären Untersuchung im Krankenhaus. Nächste Woche soll sie wieder operiert werden. Du weißt im Moment noch nichts davon."

Die folgenden zweihundert Seiten handeln von Hoffnungen, Rückschlägen, Verzweiflungen, aber auch von Momenten voller Glück. Und ganz nebenbei ergeben sich Einblicke in den Alltag einer Palliativstation aus Patienten- und Angehörigensicht. Am 26. Juni 2009 der Aufzeichnungen heißt es dann:

"Lieber Jakob... Als Deine Mutter starb, warst du sieben Jahre, sieben Monate und 18 Tage alt. Unten links wackelte ein Milchzahn. Du warst 130 cm groß, wogst 25 Kilo. Du hattest Schuhgröße 34 und gingst in die erste Klasse. Schreibschrift hattest du gerade gelernt."

Keineswegs bildet der Tod das Ende dieses – auch ästhetisch – sehr ansprechenden Buches. Das letzte Drittel handelt vom Abschiednehmen, von Trauer und Verzweiflung, aber auch vom Beginn einer "neuen" Normalität von Vater und Sohn. Ein "Nachwort an die Leser" "macht Mut":

"Meinem Sohn geht es heute, ein Jahr nach dem Tod seiner Mutter, sehr gut. Er ist ein fröhliches, oft vergnügtes Kind, er hat einen großen Lebenshunger und lacht sehr viel. ‚Ist das Leben heute für dich schlimmer als früher?’, habe ich ihn gefragt. ‚Nö’, hat er ohne Zögern geantwortet, ‚nur manchmal ist es halt etwas trauriger – ohne die Mama.’"

(Selbst-)Reflexionen des Autors über seine Gefühle in den Rollen des Leidenden und Schreibenden, über die Emotionen seiner Frau als Subjekt und Objekt der Aufzeichnungen und über die (langfristigen) Wirkungen des Briefes an seinen Sohn zeugen von großem Verantwortungsgefühl und von Weitsicht.

Ein mutiges Buch. Emotional-ergreifend. Subjektiv-persönlich.

Berührend und kraftgebend zugleich. Ganz dem Motto und der Intention des Autors entsprechend, dass aus Liebe Trauer und aus Trauer Liebe entsteht.

Manfred Gaspar, St. Peter-Ording