physiopraxis 2011; 9(11/12): 52-55
DOI: 10.1055/s-0031-1298046
physiospektrum
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

Querschnittzentrum auf Sri Lanka – Paralympics im Krisengebiet

Cornelia Barth

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Publication Date:
25 November 2011 (online)

 

Mehr als 25 Jahre herrschte ein Bürgerkrieg auf Sri Lanka, der zahlreiche Insulaner zu Opfern machte. Kurz nach Kriegsende führte eine Hilfsorganisation ein ungewöhnliches Projekt durch: Sie errichtete ein Querschnittzentrum. Zum Team gehörte Physiotherapeutin Cornelia Barth - ohne Vorkenntnisse im Querschnittbereich, aber mit einer großen Portion Motivation.


Cornelia Barth

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Cornelia Barth ist Physiotherapeutin MSc und war von August 2009 bis März 2010 in Sri Lanka. Dort errichtete sie im Rahmen eines humanitären Projekts ein Rehabilitationszentrum - für sie eine spannende Zeit. Derzeit weilt sie im Kongo, wo sie zwei Reha-Projekte des internationalen Komitees des Roten Kreuzes leitet.
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Abb. 1-5 Reha mit Spaßfaktor. Innerhalb von drei Monaten konnten die Patienten ihren Rollstuhl perfekt beherrschen. Ein wichtiges Element dabei: der Sport. (Fotos S. 52: C. Barth) Abb. 2 Familien stärken. Manche Frauen erlitten während der Schwangerschaft eine Querschnittverletzung. In der Reha lernten sie, trotz Beeinträchtigung sich um ihre Kinder zu kümmern.

Als ich im August 2009 nach Sri Lanka kam, war der langjährige Bürgerkrieg zwischen Tamilen und Sinalesen gerade mal drei Monate beendet. Die vielen Jahre des Aufstands hatten in der Bevölkerung tiefe Spuren hinterlassen. Viele Einheimische wurden vertrieben, obdachlos und verletzt. Bei meiner Ankunft lebten rund 280.000 tamilische Flüchtlinge im Camp vor den Toren der Stadt. Verschiedene Hilfsorganisationen waren während der Krisenzeit in Vavuniya vor Ort, der Stadt kurz unterhalb der Verteidigungslinie. Auch die Organisation, für die ich angereist war. Um der Patientenflut gerecht zu werden, hatte sie provisorische Stationen im Hinterhof des Pampaimadu Ayurvedic Hospitals errichtet.

Medizinische Behandlungen erhielten die Flüchtlinge im Allgemeinkrankenhaus von Vavuniya, mit dem wir eng zusammenarbeiteten. War eine weitergehende Betreuung aufgrund von Komplikationen oder komplexer Krankheitsbilder notwendig, wurden sie in das Pampaimadu-Krankenhaus verlegt. Wir stellten fest, dass immer mehr Patienten mit Rückenmarkverletzungen eintrafen. Insgesamt benötigten rund 60 Querschnittgelähmte eine intensive Behandlung, darunter zwei Schwangere und fünf Kinder. Es mangelte an fachkundiger Versorgung, Aufklärung und Hilfsmitteln.

Für die meisten war ein Schusswechsel, in den sie während des Bürgerkriegs geraten waren, der Grund ihrer Verletzung. Zu diesem Zeitpunkt bestand ihre einzige Perspektive nach dem Krankenhausaufenthalt darin, in ihre Zelte im Flüchtlingslager zurückzukehren und zu hoffen, die Regenzeit zu überstehen. Aufgrund der Tatsache, dass Querschnittgelähmte ohne adäquate Therapie kaum eine Chance hatten, in solch einer Region zu überleben, beschlossen wir im Rahmen der Hilfsorganisation, eine multiprofessionelle Querschnittrehabilitation zu errichten. Wir wussten von Studien, dass Menschen mit einer Querschnittverletzung ohne ausreichende Therapie eine Lebenserwartung von zwei bis drei Jahren haben. Dies ist auf lebensbedrohliche Komplikationen wie Druckgeschwüre, Atemwegsinfektionen und Depressionen zurückzuführen. Mit einer Rehabilitation ist die Lebenserwartung jedoch nahezu gleich wie die von nichtbehinderten Menschen.

Rückenmarkverletzungen waren häufig durch Schusswechsel bedingt.

Der Kern unseres Teams bestand anfangs aus einer examinierten kongolesischen Krankenschwester, einem Psychologen und mir als Entsandte der Hilfsorganisation sowie einheimischen Kräften: sechs diplomierte Pfleger und fünf ungelernte Assistenten. Für drei Monate unterstützte uns auch eine Ärztin. Keiner von uns hatte zuvor Erfahrungen mit Querschnittverletzungen. Auch wenn ich als Neurophysiotherapeutin mit Hirnverletzten gearbeitet hatte, waren meine vorherigen Kenntnisse über Querschnittverletzungen kaum mehr als theoretisch.

Wir wussten nicht, welche Art von Hilfe wir anbieten konnten. Aber wir wussten, dass es keine Alternative gab. Würden wir die Flüchtlinge so in die Camps zurückschicken, würden sie das kaum überleben.

Das Rehazentrum entsteht

Ungewiss, ob das Projekt von der Zentrale unserer Organisation genehmigt und finanziert werden würde, fingen wir im August dennoch mit den Vorbereitungen an. Wir organisierten eine Grundausstattung an Materialien wie Rollstuhlzubehör und Kathetern. Ende August absolvierten drei Krankenschwestern und ich einen Workshop des „College of Surgeons“ in Colombo, der Hauptstadt von Sri Lanka. Dort lernten wir, wie umfangreich das Management der Rehabilitation von Querschnittpatienten war und was wir zu berücksichtigen hatten. Dazu gehörten unter anderem die Kalkulation von Arbeitskräften, Infrastruktur und Schulungen sowie die Nachsorge entlassener Patienten. Eine britische Physiotherapeutin stand uns als externe Beraterin zur Seite, die in der Errichtung von Querschnittzentren in Entwicklungsländern sehr erfahren war.

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Abb. 6 Lehrreicher Slalom. Beim Hindernisparcours meisterten die Patienten unebene Untergründe.
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Abb. 7 Motivierte Helfer. Cornelia Barth (5. von rechts, stehend), umringt von ihrem einheimischen Team (Fotos: C. Barth)

Bei der Planung der Räumlichkeiten waren uns zwei Dinge wichtig: Es sollten möglichst viele Patienten eine aktive Reha erhalten, und wir wollten ihnen dabei ein gewisses Maß an Privatsphäre sichern. Eigene Räume sollten Schutz beim Training des Selbst-Katheterisierens bieten und für Intimität mit dem Partner sorgen. Sobald das Projekt genehmigt war, begann unsere Logistikabteilung, drei Querschnittstationen zu errichten, auf denen jeweils zehn Patienten durch Vorhänge abgetrennte Zimmer bezogen. So konnten die ersten 30 der 60 Patienten am aktiven Reha-Programm teilnehmen. In einem Gemeinschaftsraum hatten sie die Möglichkeit zu sozialen Aktivitäten wie gemeinsam essen und reden.

Ab Oktober trafen wir uns wöchentlich, um das mittlerweile genehmigte Reha-Programm inhaltlich zu planen. Wir merkten, dass wir uns auf eine ungewisse Reise eingelassen hatten. Doch die Patienten vor Augen motivierte und bestärkte uns.


Patienten aufnehmen

Da das Reha-Programm eine aktive Beteiligung der Patienten voraussetzte, mussten drei Kriterien erfüllt sein, um daran teilnehmen zu können: Die Wirbelsäule musste röntgenologisch überprüft und von einem orthopädischen Chirurgen als stabil bewertet worden sein. Die Betroffenen durften keine oder weitestgehend verheilte Druckgeschwüre aufweisen. Als letzter Faktor musste der Schädigungsgrad anhand der ASIA-Klassifikation (American Spinal Injury Association) einschließlich des motorischen und sensorischen Status dokumentiert sein. Dieser Punkt lag in meinem Verantwortungsbereich. Um die Funktionen und Fähigkeiten der Patienten adäquat einzuschätzen, arbeitete ich mich nach dem Motto „learning by doing“ in dieses, normalerweiser von Ärzten durchgeführte, Assessment ein. Dazu gehörte zudem noch die Beurteilungsskala „Spinal Cord Independence Measure“ („Assessment SCIM“, S. 46).

Männer lieferten sich beim Sport einen Wettkampf, Frauen schauten lieber zu.

Bereits drei Monate nach Projektstart begannen 10 Frauen und 20 Männer das Programm. Ihre Reha dauerte zwischen 81 und 110 Tagen, abhängig von der Art und Höhe des Querschnitts.


Ziele im Team definieren

Einmal wöchentlich traf sich das Team zur Planung der spezifischen Rehaziele. Die Ziele wurden direkt aus der SCIM-Skala abgeleitet. Beispielsweise beschreibt Item 10 den Transfer vom Bett zum Rollstuhl. Nur wenn der Patient unabhängig und sicher ist, kann er den Transfer vom Bett in den Rollstuhl bewerkstelligen. Um dies zu erreichen, sollte er als geplante Aktivität mehrmals täglich ein klar definiertes Training durchführen.

Alle drei Wochen diskutierten wir den Fortschritt sowie alle individuellen Ziele und Aktivitäten der Patienten. Dabei lernten wir die neurologischen Probleme sowie die Lebensgewohnheiten und Mentalität unserer Patienten kennen. Beispielsweise beobachteten wir, dass die Männer das Ziel der völligen Selbstständigkeit viel hartnäckiger und erfolgreicher angingen als die Frauen. Für manche Frauen schien es kulturell bedingt eher üblich, sich von weiblichen Angehörigen umsorgen zu lassen. Sie zum Selbstständigkeitstraining zu animieren war zeitweise eine anspruchsvolle Aufgabe.


Beteiligte schulen

Für die Rehabilitation brauchten wir Assistenten. Die meisten hatten einige Monate praktische Erfahrung beispielsweise als Pflegeassistent. Keiner hatte physiotherapeutische Vorkenntnisse. Als einzige Expertin auf diesem Gebiet hatte ich alle Hände voll zu tun: Ich organisierte Hilfsmittel, Materialien und Arbeitskräfte und leitete die Assistenten täglich sechs Stunden in der Behandlung der Patienten an. In einem einwöchigen Crash-Kurs vermittelte ich ihnen Grundlagen der Anatomie, Neurologie und Physiologie sowie physiotherapeutische Begriffe und Techniken wie Lagerung, Gehtraining und Gelenkmobilisation.

Zusätzlich gab es wöchentlich ein dreistündiges Training für alle Assistenten. Ich erklärte ihnen biomechanische Grundsätze wie die Verlagerung des Körperschwerpunkts, demonstrierte den Gebrauch von Hilfsmitteln, und gemeinsam übten wir aneinander Transfers in allen Variationen. Im Anschluss daran fand ein sogenanntes „peerteaching“ statt: Die erfahrenen Assistenten bereiteten jeweils eine Unterrichtsstunde vor und erklärten dem gesamten Team ein zuvor gelerntes Thema. Das war für sie eine nützliche Wiederholung und für mich eine exzellente Methode, um ihren Kenntnisstand zu überprüfen. Als Abschluss des Trainings arbeiteten die Teilnehmer praktisch an Patienten und führten Aufgaben durch wie Atemtherapie oder ein Mattenprogramm.

Wir schulten auch regelmäßig die Patienten mitsamt Bezugspersonen in Physiologie, Rollstuhltypen und Dekubitusprophylaxe.


Gemeinschaft trägt

Besonders profitierten die Patienten davon, Teil einer Gemeinschaft und nicht allein zu sein mit ihrem Schicksal. Als tamilische Flüchtlinge waren sie eine unterdrückte Minderheit, die von der Regierung Sri Lankas extrem benachteiligt wurde. Querschnittgelähmte galten erst recht als nutzlos. Besonders für die Männer war es wichtig, zu merken, was mit einem hochwertigen, geländegängigen Rollstuhl alles möglich ist, selbstständig bei der Körperhygiene zu werden und sich nicht mehr als Behinderte zu sehen. Ein Mann meinte am Ende der Reha: „Ich weiß, dass andere Menschen mich als behinderten Menschen sehen, da ich in einem Rollstuhl sitze, aber ich empfinde mich nicht als behindert. Ich kann alles machen.“

Damit sie nach Entlassung nicht psychisch einbrechen, versuchten wir, unter den Patienten Trainer zu finden, die weiterhin in Kontakt mit den Entlassenen blieben.


Mit Spaß vorankommen

Auf Sri Lanka sind nur wenige Straßen asphaltiert, und die Wege sind holprig. Aus diesem Grund entwickelten und bauten wir einen Hindernisparcours mit Rampen und Stufen unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade. Das Rollstuhltraining fand individuell und in Gruppen statt. Da viele Betroffene ihr Zuhause und Familienangehörige durch den Krieg verloren hatten, bot ihnen der Sport die Möglichkeit, ihre Sorgen vorübergehend zu verdrängen und einfach mal Spaß zu haben. So war es besonders den Männern wichtig, den eigenen Körper wieder zu beherrschen und sich mit anderen Männern messen zu können. Bei Sportarten wie Volleyball, Basketball und Bogenschießen konnten sie sich austoben und kurzfristig ablenken. Die meisten Frauen schauten dabei gerne zu und bevorzugten selbst weniger wilde Sportarten und Gemeinschaftsspiele. Ein Wettkampf im Freien - die „Paralympics von Pampaimadu“ - stellte für uns alle das Highlight des Programms dar.

Spezialisten fertigten maßgeschneiderte Rollstühle.

Januar 2010 ging das Projekt in eine dritte Phase über, in der die gesammelten Daten ausgewertet wurden. Die ersten Patienten hatten das Reha-Programm beendet und absolvierten dank Unterstützung durch eine Sozialarbeiterin anschließend eine Arbeitsrehabilitation. Neue Patienten kamen an das Zentrum. Als die Abläufe immer routinierter wurden, verließ ich das Projekt Anfang März 2010.

Auch heute habe ich noch zu ein paar Patienten Kontakt und weiß, dass einige wieder eine Arbeit gefunden haben - beispielsweise bei einem Orthopädiemechaniker. Die übrigen Patienten blieben so lange in der Rehaeinrichtung, bis sie die Rückkehrerlaubnis in ihr Heimatgebiet vonseiten der Regierung erhalten hatten. In die Flüchtlingscamps musste, soviel ich weiß, keiner zurückkehren.



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Cornelia Barth ist Physiotherapeutin MSc und war von August 2009 bis März 2010 in Sri Lanka. Dort errichtete sie im Rahmen eines humanitären Projekts ein Rehabilitationszentrum - für sie eine spannende Zeit. Derzeit weilt sie im Kongo, wo sie zwei Reha-Projekte des internationalen Komitees des Roten Kreuzes leitet.
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Abb. 1-5 Reha mit Spaßfaktor. Innerhalb von drei Monaten konnten die Patienten ihren Rollstuhl perfekt beherrschen. Ein wichtiges Element dabei: der Sport. (Fotos S. 52: C. Barth) Abb. 2 Familien stärken. Manche Frauen erlitten während der Schwangerschaft eine Querschnittverletzung. In der Reha lernten sie, trotz Beeinträchtigung sich um ihre Kinder zu kümmern.
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Abb. 6 Lehrreicher Slalom. Beim Hindernisparcours meisterten die Patienten unebene Untergründe.
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Abb. 7 Motivierte Helfer. Cornelia Barth (5. von rechts, stehend), umringt von ihrem einheimischen Team (Fotos: C. Barth)