PPH 2012; 18(01): 4
DOI: 10.1055/s-0031-1301022
PPH|Szene
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Bruno’s Welt „Und, was darf es bei Ihnen sein?“

Bruno Hemkendreis
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Publication Date:
12 January 2012 (online)

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(Quelle: Werner Krüper)

Kinder sind ja bekanntlich unsere Zukunft und es soll erbauend sein, ihnen beim Spielen zuzuschauen. Leider ist das nicht ausnahmslos so. Phillip, 10 Jahre alt, ist einfach unerträglich, rotzfrech und dabei auch noch dumm. Beim Spielen schlägt er anderen Kindern schon mal ungebremst ins Gesicht. Wenn dann die Mütter der anderen Kinder protestieren, erklären Phillips Eltern, dass er krank sei. Phillip habe ADHS und er sei nicht dumm, sondern partiell hochbegabt. In welchem Bereich diese Begabung liegt, bleibt im Dunklen. Aber ein Pharma-Märchen-Bilderbuch über den Kraken Hippihopp weiß eine Lösung: eine kleine weiße Tablette.

Paul hat vor etwa 30 Jahren im Betrieb eine ökologische Nische gefunden. Er wird seitdem für seine Anwesenheit bezahlt, früher galt er unter Kollegen als Inbegriff der Faulheit, weil er über Jahre während seiner Arbeitzeit ein imposantes historisches Segelschiff aus Streichhölzern gebaut hat. „Faul schreibt sich vorn mit P“, hieß es damals. Heute vertreibt Paul sich die Zeit an seinem Dienst-PC mit Solitär und gilt als krank. Er leidet an einem Boreout–Syndrom, weil er am Arbeitsplatz unterfordert ist. Nicht zu verwechseln mit Burnout, denn jemals gebrannt haben weder er noch die Streichhölzer. Psychotherapie helfe ihm nun seit zwei Jahren dabei, nicht in eine Depression zu rutschen.

Nächstes Jahr werde ich 60 und lebe dann mit dem Aging-Male-Syndrom-Risiko, nämlich dem Risiko, zu den 20 Prozent der Männer zu gehören, die in die „Andropause“, d. h. einem Testosteronwert von unter 12 nmol/l, rutschen. Aber ich kann beruhigt sein, die Pharmaindustrie hat nicht nur den Grenzwert und die damit verbundene Krankheit erfunden, sondern auch ein Gegenmittel, mit dem ich mich mindestens 10 Jahre jünger fühlen werde. Wenn alle Stricke reißen, gibt es ja auch noch eine blaue Tablette - für ein Sportcoupé reicht das Geld nicht.

Die Gesundheitsindustrie kreiert laufend neue Krankheiten, um sich gesund zu erhalten. Besonders gut scheint dieses im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie zu funktionieren, da hier ohnehin wenig harte Fakten existieren. 1973 wurden beispielsweise in den USA Millionen psychisch Kranke schlagartig geheilt, indem Homosexualität aus dem Internationalen Katalog der psychiatrischen Erkrankungen (DSM) gestrichen wurde.

Heute wird der Katalog wieder munter erweitert. Ein besonders schräges Beispiel ist das von einer Pharmafirma erfundene Sisi–Syndrom, natürlich mit passgenauem Antidepressivum. 2003 erkrankten ca. 3 Millionen Frauen an dem Syndrom, wenig später entlarvten Wissenschaftler des Uniklinikums Münster das Leiden als wissenschaftlich nicht begründete Erfindung der Industrie. Die Liste erfundener Krankheiten oder willkürlich festgelegter Grenzwerte dafür, wann normale Veränderungen unseres physischen und psychischen Lebens als Krankheiten interpretiert werden ist lang, manchmal witzig, oftmals erschreckend.

Wenn wir mit Blick auf die demographische Entwicklung befürchten, dass unser Gesundheitssystem zukünftig kaum noch finanzierbar sein wird, verwundert es umso mehr, dass vormals normale Übergänge von einem Lebensabschnitt in den nächsten nunmehr behandlungsbedürftige Krankheiten darstellen.

Die Pflege ist glücklicherweise weniger als andere Berufsgruppen von Interessen der Gesundheitswirtschaft abhängig und sollte sich deshalb „gesunden Menschenverstand“ und Selbstvertrauen erhalten, um Krankheiten und Gesundheit nicht im Sinne von disease mongering - Handeln mit Krankheiten, sondern im Sinne von nicht mit dem Lineal gezogenen Lebenswegen ihrer Patienten zu unterscheiden.

Wer im Leben keine Umwege gehen durfte, hat die Umgebung nie kennen gelernt.

Ihr

Bruno Hemkendreis

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