physiopraxis 2012; 10(01): 10-11
DOI: 10.1055/s-0031-1301082
physiopolitik
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Neuer dualer Studiengang in Günzburg – Studium mit Gehalt

Elke Oldenburg

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Publication Date:
05 January 2012 (online)

 

    Rainer Vollmer, Barbara Aigner und Erich Renner haben etwas Beachtliches geschafft: Sie entwickelten einen interdisziplinären, ausbildungsintegrierenden Studiengang für Krankenpflege, Ergo- und Physiotherapie, für den die Studierenden eine Ausbildungsvergütung erhalten. Ein Novum. Drei Schulleiter über ihr Konzept und das Besondere daran.


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    Anstoß für das Günzburger Modell gab 2010 eine Studie der Landkreise Neu-Ulm und Günzburg. Was waren die Ergebnisse?

    Aigner: Über kurz oder lang wird es in beiden Landkreisen einen Fachkräftemangel geben. In der Pflege sofort, bei der Ergo- und Physiotherapie in den nächsten Jahren.

    Durch den Studiengang wollt Ihr nun diese Lücke schließen.

    Renner: Ja. Über ein attraktives Studium möchten wir interessierte und qualifizierte Kräfte für diese drei Ausbildungen gewinnen.

    Aigner: Wir drei haben von unserem Träger die Aufgabe bekommen: „Konzipiert einen praxisnahen Studiengang.“ Unser Träger will den Experten am Bett haben und nicht den theorielastigen studierten Therapeuten und Pflegenden. Als Kooperationspartner konnten wir die duale Hochschule Baden-Württemberg gewinnen. Sie war von unserem Studienkonzept überzeugt und möchte es genau so umsetzen.

    Was ist das Tolle daran?

    Renner: Eine Besonderheit ist, dass wir ein gemeinsames Studium für die drei Berufsgruppen Krankenpflege, Physio- und Ergotherapie anbieten. Es gibt klare Schnittmengen, von daher liegt es auf der Hand, die drei Ausbildungen zu verzahnen. Auch um die interdisziplinäre Kooperation früh zu fördern.

    Aigner: Das ist auch im Sinne von modernen, zukunftsfähigen Versorgungsstrukturen.

    Inwiefern?

    Aigner: Weil es künftig mehr ambulante Versorgung geben wird, die in Kombination mit ambulanten Pflegediensten ablaufen muss. Die Betreuung daheim wird in den nächsten Jahren zunehmen, die Liegedauer in Krankenhäusern wird weiter zurückgehen. Sie entlassen Schwerkranke, die dann ambulant weiter betreut werden müssen. Experten sehen in gemeinsamen ambulanten Versorgungsstrukturen die Zukunft der Therapieberufe.

    Die Ausbildungsvergütung ist eine Wertschätzung für die Therapieberufe.

    Worin hebt sich Euer Studiengang konzeptionell noch ab von den anderen?

    Vollmer: Wir wollen auf keinen Fall „abgehobene“ Studierende, sondern sehr praxisorientierte. Die künftigen Gesundheits- und Krankenpfleger, Ergo- und Physiotherapeuten werden bei und in der Praxis bleiben, aber sie werden auch einen wissenschaftlichen Bezug herstellen können.

    Aigner: Zudem bieten wir ein duales Studium an. Das Besondere daran: Durch die Vorgaben der dualen Hochschule Baden-Württemberg muss es einen Ausbildungsvertrag und eine Ausbildungsvergütung geben.

    Ist schon bekannt, wie hoch die Ausbildungsvergütung ausfallen wird?

    Aigner: Unsere Träger arbeiten fieberhaft daran. Sicher ist, dass es eine Mindestausbildungsvergütung in Anlehnung an den Tarifvertrag des öffent lichen Dienstes geben wird.

    Vollmer: Das Entgelt ist in gewisser Weise auch ein politisches Signal. An dualen Hochschulen sitzen beispielsweise Leute aus der Wirtschaft mit Ergo- und Physiotherapeuten zusammen und arbeiten gemeinsam an Projekten. Für die Studierenden aus dem Wirtschaftsbereich ist eine Vergütung von mehreren hundert Euro selbstverständlich. Da wäre es ungerecht, die Therapeuten bezahlen zu lassen. Hoffentlich setzt das jetzt ein Zeichen.

    Aigner: Das ist eine Wertschätzung für die Therapieberufe.

    Renner: Noch eine Ergänzung zur Konzeption, die so bei anderen Studiengängen nicht gegeben ist: Unsere Studierenden werden auch im vierten Jahr beim Ausbildungsträger beschäftigt und in der Praxis verankert sein. Sie stehen quasi mit einem Bein in der Hochschule und mit dem anderen am Patienten.

    Wie sind die Rollen zwischen der Berufsfachschule und der Hochschule verteilt?

    Aigner: Wir machen unsere dreijährige Ausbildung. Ab dem zweiten Ausbildungsjahr sind die Studierenden dann blockweise an der Hochschule in Heidenheim und werden dort sogenannte Grundlagenmodule absolvieren.

    Renner: Das sind größtenteils übergeordnete Module, die Inhalte vermitteln, die für alle drei Berufsgruppen relevant sind. In den Vorlesungen an der Hochschule sitzen also die Ergoneben den Physiotherapeuten und den Gesundheits- und Krankenpflegern.

    Was für Themen greifen die Grundlagenmodule an der Hochschule auf?

    Renner: Das ist zum Beispiel der Themenbereich Anthropologie und Ethik. Zudem Themen aus dem Bereich Management, Gesundheitsrecht, Gesundheitspolitik, Gesundheitsökonomie, angewandte Sozialwissenschaften und natürlich wissenschaftliches in Kombination mit evidenzbasiertem Arbeiten. Und dann gibt es im letzten Jahr noch Differenzierungsmodule, die die berufsspezifischen Kompetenzen erweitern sollen.

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    Rainer Vollmer (rechts) leitet an den Bezirkskliniken in Günzburg die Ergotherapieschule, Barbara Aigner die Physio therapieschule und Erich Renner die Krankenpflegeschule. Innerhalb eines Jahres haben die drei einen ausbildungsintegrierenden dualen Studiengang für Ergo-, Physiotherapeuten und Pflegende konzipiert: das „Günzburger Modell“. Über das Studium wollen sie die praktischen Fertigkeiten stärken und früh das interdiszipli näre Arbeiten und Denken fördern. Ihr Ziel: selbstbewusste Praktiker.
    (Foto: M. Hammerschmidt)

    Welche Differenzierungsmodule sind für die Ergo- und Physiotherapie vorgesehen?

    Aigner: Wir planen die Module Schmerzmanagement in Prävention und Rehabilitation, evidenzbasierte Praxis, Evaluation sowie Bewegung und Gesundheit. Jede Berufsgruppe wird das dann spezifisch vertiefen.

    An der Hochschule in Heidenheim ist der Bereich Gesundheit bislang noch sehr klein. Woher werden die Dozenten kommen?

    Aigner: Es wird eine Professur geben, die unseren Studiengang organisiert und begleitet. Die Personalfrage ist noch nicht geklärt. Wir sind mit die Ersten, die in der geplanten Fakultät „Gesundheit“ verankert werden sollen. Heidenheim möchte einen „Standort Gesundheit“ aufbauen und auch andere Gesundheitsfachberufe wie Logopäden und Hebammen akademisieren.

    Wie wollt Ihr es schaffen, dass am Bett ein studierter Praktiker steht, der nicht auf die theoretische Ebene abdriftet?

    Aigner: Einfach dadurch, dass die Studierenden in den vier Jahren sehr viel Praxis machen werden. Zu den normalen Praxisstunden während der Ausbildung kommt im vierten Jahr eine Halbtagstätigkeit in den jeweiligen Berufen dazu. Das überzeugt an diesem Konzept. Zudem müssen die Studierenden interprofessionelle Versorgungsprozesse gestalten.

    Wann geht beispielsweise der Physiotherapeut das erste Mal in den klinischen Einsatz?

    Aigner: Ab dem zweiten Ausbildungsjahr. Wir unterliegen nach wie vor den bayerischen Schulgesetzen sowie der Ausbildungs- und Prüfungsordnung. Die müssen und werden wir in Gänze erfüllen.

    Werden die Praxiseinsätze begleitet?

    Aigner: Ja. Im Rahmen der Berufsfachschulausbildung sowieso, denn in Bayern ist das streng verankert. Im vierten Jahr aber auch. Dann werden Hochschul-Mentoren schauen, was die Studierenden in der Praxis tun.

    Da Ausbildung und Studium parallel laufen, dürfte der Stundenplan ganz schön voll sein.

    Vollmer: Ja. Die Hochschule hat da ein Auge darauf, wie viele „Workloads“ zumutbar sind.

    Sie könnten ja argumentieren, dass die Studenten durch die Ausbildungsvergütung nebenher weniger jobben müssen.

    Renner: Richtig. Aber wegen der Doppelbelastung durchs Studium müssen sie dennoch sehr leistungsfähig und leistungsbereit sein.

    Wofür sind die Ergo- und Physiotherapeuten durch den Studiengang besonders gerüstet?

    Aigner: An erster Stelle für das Erbringen einer hoch qualifizierten Therapie. Ganz allgemein für Leitungs- und Führungsaufgaben, weil wir eine ganze Menge Sozialkompetenzen vermitteln, mehr als in der Ausbildung. Die Absolventen könnten auch im Bereich der Leitlinienerstellung tätig werden und im Aufbau interdisziplinärer Versorgungsstrukturen.

    Weil sie Kenntnisse darüber erwerben, wie das Gesundheitssystem organisiert ist und wie interdisziplinäres Arbeiten funktioniert?

    Aigner: Ja. Doch das steht in keinem Curriculum. Der Heilmittelkatalog ist dort übrigens auch nicht aufgeführt.

    Ihr strebt also dahin, Gestalter auszubilden.

    Renner: Ja. Ein sehr schöner und passender Begriff. Persönlichkeiten auszubilden oder Gestalter, die Zusammenhänge erkennen und aufgrund ihrer akademischen Basics wie Wissenschaftskompetenz und Problemlösungskompetenz in der Lage sind, neue Konzepte oder Ideen zu entwickeln und diese auch umzusetzen – und zwar vor Ort. Die den Blick auf die Praxis und den Patienten mit seinen Bedürfnissen haben, aber auch auf die anderen Akteure im Gesundheitswesen.

    Aigner: Die Absolventen wären zudem für den Direktzugang gerüstet.

    Das Gespräch führte Elke Oldenburg.

    ECKPUNKTE

    Günzburger Modell

    Voraussichtlich im Herbst 2012 startet der neue Studiengang. Je acht Abiturienten können sich über das „Günzburger Modell“ zu Pflegenden, Ergooder Physiotherapeuten akademisch ausbilden lassen. Sie erhalten eine Ausbildungsvergütung. In vier Jahren erwerben sie 210 ETCS. Dafür absolvieren sie die Ausbildung an den Berufsfachschulen für Gesundheitsberufe der Bezirkskliniken Schwaben und erlangen nach drei Jahren das Staatsexamen. Nach dem ersten Jahr kommt die duale Hochschule Baden-Württemberg in Heidenheim ins Spiel. Dort belegen die Studierenden vom zweiten bis zum vierten Jahr interdisziplinäre und berufsspezifische Module. Als Abschluss erhalten sie den Bachelor in „Gesundheit in Pflege und Therapie“, der inter national anerkannt sein wird.


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    Rainer Vollmer (rechts) leitet an den Bezirkskliniken in Günzburg die Ergotherapieschule, Barbara Aigner die Physio therapieschule und Erich Renner die Krankenpflegeschule. Innerhalb eines Jahres haben die drei einen ausbildungsintegrierenden dualen Studiengang für Ergo-, Physiotherapeuten und Pflegende konzipiert: das „Günzburger Modell“. Über das Studium wollen sie die praktischen Fertigkeiten stärken und früh das interdiszipli näre Arbeiten und Denken fördern. Ihr Ziel: selbstbewusste Praktiker.
    (Foto: M. Hammerschmidt)