Verantwortlich für diese Rubrik: Karl H. Beine, Hamm
Die ACKPA-Jahrestagung 2011 fand vom 3.–5.11.2011 in Völklingen statt. Unter dem Titel
"Individualisierte Psychiatrie und Psychotherapie in der Gemeinde" versammelten sich
rund 70 leitende Kolleginnen und Kollegen aus psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern.
Am Vorabend der Tagung traf sich wie immer der Qualitätszirkel "Psychopharmakotherapie"
unter Leitung von Frau Munk, Berlin-Neukölln, der im Schwerpunkt ein wie immer topaktuelles
und breit recherchiertes Referat von Herrn Bschor, Schlosspark-Klinik Berlin, über
die Problematik "QTc-Verlängerung und Torsadede-Pointes-Risiko unter Psychopharmaka"
diskutierte. Das traditionelle Vorabendessen zur Tagung war, wie auch der Rest der
gesamten Tagung, durch die Völklinger Gastgeberin Frau Birkenheier perfekt organisiert.
Der individuelle Meinungsaustausch bei Tisch gemäß dem Tagungsmotto gab dem Einzelnen
Hinweise, Hilfe und auch Gelegenheit, die stets unvermeidliche politische Dimension
sozialpsychiatrischen Denkens und Handelns zu reflektieren. Der Wert dieser Treffen
von ACKPA liegt ja auch in den ehrlichen und ungeschminkten Berichten bei Tisch und
in der Pause, wie es den anderen in ihren Abteilungen denn wirklich geht.
Neben den Dauerbrennern Personalgewinnung im ärztlichen und zunehmend im pflegerischen
Bereich und "Neues Entgeltsystem" plagen Kolleginnen und Kollegen dabei weiterhin
die inhärente Spannung mit der betriebwirtschaftlichen Leitung der Krankenhäuser (bis
hin zu Aussagen wie "fünf Geschäftsführer in vier Jahren").
Die Tagung am Freitag wurde dann von Frau Birkenheier mit einem weiten geschichtlichen
Bogen eingeleitet, der von der Frühzeit über die Römer bis zur bereits seit 20 Jahren
konsequent dezentralisierten psychiatrischen Versorgung im Saarland gespannt war.
Nach den Grußworten von Ministerium und Geschäftsführung war es dann an Karl Beine,
Hamm, als Sprecher und Vorsitzender der ACKPA inhaltlich ins Tagungsthema einzuführen.
Er machte deutlich, inwiefern individualisierte Psychiatrie in der Gemeinde etwas
anderes ist als die bloße "personalisierte Psychiatrie und Psychotherapie", die Ende
November das Motto des DGPPN-Kongresses in Berlin darstellen wird. Dort geht es nach
seinen Worten eher um Nutzung spezifischer individueller biologischer Merkmale (sog.
Biomarker) für Prävention, Diagnostik und Therapie. Diese individualisierte Medizin
orientiere sich aber nicht am Individuum im Jasperʼschen Sinne oder an dessen persönlichen
Bedürfnissen. Auch die entindividualisierte Diagnostik mittels ICD oder DSM oder die
Formulierung überpersönlicher allgemeiner Behandlungsleitlinien erfordern nach Beine
für das Individuum im Zentrum sozial- oder gemeindepsychiatrischen Arbeitens die "Reindividualisierung"
oder "Entallgemeinerung" dieser Instrumente. "Eine Person, ein Individuum, ist mehr
als die Summe seiner Biomarker", vielmehr beschreiben Leidens-, Versagens- und Beziehungsaspekte
viel exakter und individueller die Dimensionen psychischen Krankseins, denen wir uns
zu stellen haben und auf die wir die wirklich individuellen, "personalisierten" Antworten
immer gemeinsam mit dem Betroffenen zu finden haben. Der Respekt vor dem "unauflösbaren
subjektiven Fundament" des Menschen stehe im Zentrum gemeindepsychiatrischen Krankheitsverständnisses,
das neben naturwissenschaftlichen eben auch selbstverständlich geistes- und sozialwissenschaftliche
Befunde und Sichtweisen zu berücksichtigen und diese auch für die Therapie zu nutzen
hat.
Den ersten Tagungsvortrag hielt dann Thomas Bock, Hamburg, zum Thema "Individualisierte
Schizophreniebehandlung". Er wies u. a. auf tautologische Absurditäten des klinischen
Alltagsjargons hin: "Warum ist Herr X wieder psychotisch? Antwort: Er hat eine Psychose"
und zeigte auf, dass bis zu 50% der Betroffenen auch positive Aspekte in ihren psychotischen
Erfahrungen sehen, die zu konstruktiven Lebensveränderungen geführt hätten. Wenn Betroffene
Verbindungen zur individuellen Lebensgeschichte herstellen könnten, seien sie optimistischer
und hätten eine höhere Lebensqualität, daraus leitet sich für Bock der Psychotherapieauftrag
ab, "Aneignungshandeln" zu fördern. Er stellte dann das "Hamburger Modell" zur integrierten
Versorgung psychosekranker Patienten vor und wies abschließend auf das wichtige Thema
"Peerberatung" bei dieser Patientengruppe hin.
Herr Rommel, Treuenbrietzen, wies in seinem Vortrag "Individualisierte Psychopharmakotherapie"
u. a. darauf hin, dass auch bei der Psychopharmakotherapie neben der Individualität
des Patienten auch die des Behandlers zu berücksichtigen sei. Die Beachtung des "bio-psychosozialen
Modells" sei oft zu einem reinen Lippenbekenntnis zugunsten eines in Wahrheit "bio-bio-biologischen
Modells" geworden. In der Psychotherapie helfe die Anwendung von Psychopharmaka zur
Minderung des Leidensdrucks, um überhaupt Psychotherapiefähigkeit herzustellen. Dabei
sei aber die Öffnung eines therapeutischen Fensters zu beachten, unterhalb dessen
die Therapiemotivation wiederum zu schwach werde.
Frau Reuber-Woll, Völklingen, stellte dann unter dem Titel "Individualisierte und
integrative Psychotherapie" das hoch ausdifferenzierte psychotherapeutische Gruppen-
und Einzeltherapiekonzept der Völklinger Klinik vor, das u. a. eine sehr gut integrierte
Schnittstelle zwischen voll- und teilstationär sowie ambulant unter Beibehaltung der
personalen Kontinuität bietet. Interessant ein Nebenaspekt: Diagnosespezifische Therapiegruppen
werden nicht als Psychose- oder Suchtgruppe, sondern bewusst mit Buchstaben bezeichnet,
um Diskriminierungsaspekten entgegenzuwirken.
Die Mitgliederversammlung der ACKPA nach der Mittagspause war im Rundgespräch aus
den Bundesländern u. a. von der Frage der Bettenplanung hinsichtlich der Neuausweisung
psychosomatischer Betten in einzelnen Ländern geprägt.
Herr Schill, Hanau, berichtete über den neu abgeschlossenen Vertrag zur integrierten
Versorgung mit AOK und TKK im Sinne eines Regionalbudgets. Das Thema "alternative
Modelle zur OPS-Finanzierung" im Sinne von weiteren Regionalbudgets und den vielfältigen
Bestrebungen der entsprechenden Arbeitsgruppe auch im politischen Raum auf der Bundesebene
"Netzwerk Steuerungs- und Anreizsysteme für eine moderne psychiatrische Versorgung"
unter Federführung von Herrn Deister, Itzehoe, nahm breiten Raum in der Debatte ein.
Herr Beine gab einen umfassenden Bericht der Aktivitäten von ACKPA im Zuge der weiteren
politischen Umsetzung des neuen Entgeltsystems. Dabeiwurden die Positionen Detailverbesserung
vs. "Fundamentalopposition" nicht als entweder/oder, sondern als ein sowohl/als auch
v.a. auch deswegen letztlich konsentiert, weil nach außen ein möglichst geschlossenes
Meinungsbild der deutschen Abteilungspsychiatrie dem politischen Prozess förderlicher
erscheint. Am Abend stand das erste von der UNESCO 1994 zumWeltkulturerbe erklärten
Industriedenkmal "Völklinger Hütte" auf dem Programm. Es ist eine von derzeit 36 Welterbestätten
der UNESCO in Deutschland. In seiner Bedeutung steht die ehemalige Stahlproduktionsstätte
gleichberechtigt neben den Pyramiden, der Großen Mauer Chinas, dem Kölner Dom oder
dem Great Barrier Reef in Australien.
In der Kommende-Tagung am Samstag stellte sich der Jurist Gero Bieg den zahllosen,
hier wegen ihrer Detailliertheit nicht sinnvoll referierbaren Fragen des Publikums
hinsichtlich aktueller Rechtsprechung zum Thema Unterbringung nach §1906 BGB und Zwangsmedikation.
Herr Küthmann, Memmingen, gab einen Überblick zum Thema "Rechtssicherheit bei nicht
einvernehmlichen Therapieentscheidungen" und zuletzt setzte sich Herr Trabert, Emden,
mit einem auch didaktisch und medial farbigen und detailreichen Vortrag mit dem Thema
"Ordnungspolitische Instrumentalisierung der Psychiatrie und Psychotherapie" auf dem
Hintergrund des sog. "Therapieunterbringungsgesetzes" auseinander. Solcherart erfrischt
und mit Informationen gesättigt begann das verbleibende Wochenende mit der Heimfahrt.
Abschließend lud Karl Beine zur Frühjahrstagung nach Kassel am Montag, den 13.2.2012
und zur nächsten Herbsttagung vom 8.–10.11.2012 nach Nordhausen ein.
Dr. med. Roser, Nürtingen