Die gängigen Anatomie-Lehrbücher behandeln Faszien geradezu stiefmütterlich. Erst
in jüngerer Zeit wird deutlich, welche Aufgaben die Hülle unserer Organe erfüllt.
Einer, der maßgeblich zur Faszienforschung beiträgt, ist Dr. biol.hum. Robert Schleip,
Direktor des "Fascia Research Program" der Universität Ulm. Ihn lud das Reha-Zentrum
Hess, Bietigheim, als Referenten einer ärztlichen Fortbildung zum Thema Faszie ein,
die vergangenen November stattfand.
Unser größte Sinnesorgan
Nachdem Andrew Taylor Still, Begründer der Osteopathie, bereits 1899 Mechanorezeptoren
in den Faszien beschrieben hatte, geriet dieses Wissen wieder in Vergessenheit. Und
noch immer ist der Begriff "Faszie" nicht endgültig definiert. Sprach man zunächst
nur beim straffen, die Muskeln umhüllenden Gewebe von Faszien, wird der Begriff inzwischen
immer weiter gefasst. Er beinhaltet heute auch Kapseln, Ligamente und Sehnen im Sinne
von lokalen Verdickungen des fasziellen Gewebes.
Erst Robert Schleip wies vor einigen Jahren kontraktionsfähige Myofibroblasten in
den Faszien nach (Schleip R, Klingler W, Lehmann-Horn F. 5th World Congress of Biomechanics
2006) – die Kontraktilität ist heute auch ein Erklärungsmodell für die Frozen-Shoulder.
In den Faszien lassen sich aber auch Golgi-Sehnenorgane, Pacini- und Ruffini-Körperchen
nachweisen, sodass in der Gesamt-Betrachtung die Faszien als das größte Sinnesorgan
des Menschen bezeichnet werden können – insbesondere, da es eigentlich falsch sei,
so Schleip, von den Faszien zu sprechen, da genau betrachtet, alle Faszien verbunden
seien, es sich somit nur um eine einzige, große Faszie in unserem Körper handele.
Wie wichtig die Propriozeptionsfähigkeit der Faszien ist, demonstrierte Schleip anhand
eines Videos über Ian Waterman ("The man who lost his Body"). Waterman besitzt krankheitsbedingt
keine Propriozeption mehr, und lernte trotzdem und mit dem Aufwand eines Hochleistungssportlers
zu laufen – als einziger Patient mit dieser Erkrankung. Die Propriozeptionsfähigkeit
sinkt auch bei Lumbalgien, ein Erklärungsmodell für die steifen, eher ungeschickt
anmutenden Bewegungen von Rückenschmerzpatienten. Inadequate Propriozeption erhöht
dafür die Schmerzsensibilität des Bindegewebes – ein Teufelskreis.
Im Eigenversuch konnten die Teilnehmer des Symposiums fühlen, dass beim Vornüberbeugen
die Rückenstrecker nur bis zu einem Winkel von 20–30° anspannen. Danach werden sie
wieder locker, und die Faszien "übernehmen". Schleip belegte anhand von Studien auch,
dass man an dem Sinn des klassischen Dehnens zweifeln kann: Bspw. beim Straight-Leg-Raise-Test
erfolgt die größte Längenzunahme nicht in der ischiocruralen Muskulatur, sondern mit
240 % im Tractus und mit 145 % in der ipsilateralen Lumbalfaszie. Zu dem verpufft
der Großteil der Dehnung in den sehr elastischen Muskelfasern, während fasziale Gewebe
wie z. B. die Sehnen auf lange Sicht nicht elastischer, sondern eher steifer werden.
Die Faszie besteht aus faserreichen Bindegewebs-Schichten und -Strängen, sie umschließt
und durchdringt u.a. die Muskeln, Knochen, Nervenbahnen und Blutgefäße des Körpers.
Nach neuerem Verständnis zählen auch Bänder, Sehnen oder Gelenkkapseln zur Faszie,
die sich je nach den jeweiligen Belastungsverhältnissen aus dem Gewebenetzwerk verdichten
und in der Regel kontinuierlich ineinader übergehen. Faszien bestehen aus einem hohen
Anteil an Kollagenfasern und haben eine hohe viskoelastische Zugbelastbarkeit.(Grafik:
Wesker K, Prometheus – Lernatlas der Anatomie, Hrsg. Schünke M/ Schulte E/Schumacher
U, Thieme 2004)
Faszien und chronischer Rückenschmerz
Faszien und chronischer Rückenschmerz
Bezüglich chronischer Rückenschmerzen, die laut Panjabi nur zu ca. 20 % Bandscheiben-bedingt
sind, stellte Schleip die Theorie auf, dass hier häufig Mikroverletzungen der Lumbalfaszie
und insbesondere der oberflächlichen Faszie ursächlich sein könnten, Belege gibt es
noch keine. Die Mikroverletzungen könnten dann zu Verklebungen der Faszie führen,
die letztlich die Propriozeptionsfähigkeit und Elastizität einschränken, mit den oben
beschriebenen Folgen.
Langerin zeigte bereits, dass die Lumbalfaszie im hochauflösenden Ultraschall bei
chronischen Rückenschmerz-Patienten signifikant verdickt ist und zudem weniger verschieblich.
Unklar ist, ob diese Beobachtungen Ursache oder Folge der Rückenschmerzen sind. Beobachtet
wurde auch, dass bei Frozen-Shoulder-Patienten vermehrt Myofibroblasten in der Faszie
vorliegen, teils findet sich diese Beobachtung auch bei LWS-Patienten. Es stellt sich
also die Frage, ob beide Krankheitsbilder verwandt sind (Frozen Spine?).
Vermutlich erfolgt auch ein Großteil der Propriozeption nicht über die Gelenkrezeptoren,
die allenfalls im Endbereich von Bewegungen "Alarm schlagen", sondern über die oberflächlichen
Faszien. Sie können allein aufgrund der größeren Entfernung zum Drehzentrum und den
dadurch verlängerten Hebeln frühzeitiger ansprechen. Dies wäre auch ein Erklärungsmodell
für den Erfolg oberflächlicher Behandlungen und auch ein Ansatz, um den Erfolg des
Kinesiotapes zu erklären.
Das Beste zum Schluss: Faszien sind trainierbar
Das Beste zum Schluss: Faszien sind trainierbar
Auch wenn es eine eher langwierige Prozedur zu sein scheint, laut Schleip sind Faszien
sogar trainierbar. Durch spezielle Übungen sei es bei einer degenerierten Faszienstruktur
möglich, die gesunde wieder herzustellen. Eine gesunde Faszie zeigt scherengitterartig
angeordnete Fasern, die selbst sanft gewellt sind, während in degeneriertem Gewebe
diese Anordnung verloren gegangen ist und die Fasern selbst glatt und gerade erscheinen.
Ziel eines Trainings ist, aus dem "Filz" wieder eine elastische Struktur – vergleichbar
einer Nylonstrumpfhose – zu generieren.
Ziele der Übungen ist zum einen, das Lösen von Verklebungen zwischen den Faszienschichten,
z. B. mithilfe von Rollen wie der Black Roll©, die im Sinne einer Selbstmassage verwendet
wird. Zum Anderen sollen die Faszien gedehnt werden. Hier sollten statische Übungen
durch federnde, elastische Bewegungen – teils schnellere, teils langsamere – ersetzt
werden. Die schnellen Bewegungen erinnern hier stark an die wippenden Dehnübungen
der 80er Jahre. Die langsamen "bearbeiten" eher die gesamten Faszienketten oder "Anatomic
Trains" nach Myers. Wie oft und in welcher Intensität das Training durchzuführen ist,
muss allerdings noch geprüft werden. Klar ist, dass weniger mehr ist, also deutlich
geringere Umfänge und Frequenzen als beim Muskelaufbautraining Anwendung finden, da
die Kollagen-Re-Synthese langsamer vonstattengeht.
Als Fazit bleibt: Das faszielle Gewebe wurde bis dato stark unterschätzt. Die aktuelle
Forschung fördert viele hochinteressante Erkenntnisse zutage, die Anlass dazu geben,
im orthopädischen Bereich viele Theorien zu überdenken. Aus den neuen Erkenntnissen
werden sicherlich auch neue Therapiestrategien entwickelt, zunächst sind aber noch
viele Fragen zu klären.
Dr. Christoph Lukas, Orthopäde am Reha-Zentrum Hess in Bietigheim und Mannschaftsarzt
des Basketball-Bundesligisten EnBW Ludwigsburg