Sportverletz Sportschaden 2011; 25(04): 198-199
DOI: 10.1055/s-0031-1301152
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Faszien – vom Aschenputtel ins akademische Rampenlicht

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Publication Date:
31 January 2012 (online)

 

Die gängigen Anatomie-Lehrbücher behandeln Faszien geradezu stiefmütterlich. Erst in jüngerer Zeit wird deutlich, welche Aufgaben die Hülle unserer Organe erfüllt. Einer, der maßgeblich zur Faszienforschung beiträgt, ist Dr. biol.hum. Robert Schleip, Direktor des "Fascia Research Program" der Universität Ulm. Ihn lud das Reha-Zentrum Hess, Bietigheim, als Referenten einer ärztlichen Fortbildung zum Thema Faszie ein, die vergangenen November stattfand.

Unser größte Sinnesorgan

Nachdem Andrew Taylor Still, Begründer der Osteopathie, bereits 1899 Mechanorezeptoren in den Faszien beschrieben hatte, geriet dieses Wissen wieder in Vergessenheit. Und noch immer ist der Begriff "Faszie" nicht endgültig definiert. Sprach man zunächst nur beim straffen, die Muskeln umhüllenden Gewebe von Faszien, wird der Begriff inzwischen immer weiter gefasst. Er beinhaltet heute auch Kapseln, Ligamente und Sehnen im Sinne von lokalen Verdickungen des fasziellen Gewebes.

Erst Robert Schleip wies vor einigen Jahren kontraktionsfähige Myofibroblasten in den Faszien nach (Schleip R, Klingler W, Lehmann-Horn F. 5th World Congress of Biomechanics 2006) – die Kontraktilität ist heute auch ein Erklärungsmodell für die Frozen-Shoulder. In den Faszien lassen sich aber auch Golgi-Sehnenorgane, Pacini- und Ruffini-Körperchen nachweisen, sodass in der Gesamt-Betrachtung die Faszien als das größte Sinnesorgan des Menschen bezeichnet werden können – insbesondere, da es eigentlich falsch sei, so Schleip, von den Faszien zu sprechen, da genau betrachtet, alle Faszien verbunden seien, es sich somit nur um eine einzige, große Faszie in unserem Körper handele.

Wie wichtig die Propriozeptionsfähigkeit der Faszien ist, demonstrierte Schleip anhand eines Videos über Ian Waterman ("The man who lost his Body"). Waterman besitzt krankheitsbedingt keine Propriozeption mehr, und lernte trotzdem und mit dem Aufwand eines Hochleistungssportlers zu laufen – als einziger Patient mit dieser Erkrankung. Die Propriozeptionsfähigkeit sinkt auch bei Lumbalgien, ein Erklärungsmodell für die steifen, eher ungeschickt anmutenden Bewegungen von Rückenschmerzpatienten. Inadequate Propriozeption erhöht dafür die Schmerzsensibilität des Bindegewebes – ein Teufelskreis.

Im Eigenversuch konnten die Teilnehmer des Symposiums fühlen, dass beim Vornüberbeugen die Rückenstrecker nur bis zu einem Winkel von 20–30° anspannen. Danach werden sie wieder locker, und die Faszien "übernehmen". Schleip belegte anhand von Studien auch, dass man an dem Sinn des klassischen Dehnens zweifeln kann: Bspw. beim Straight-Leg-Raise-Test erfolgt die größte Längenzunahme nicht in der ischiocruralen Muskulatur, sondern mit 240 % im Tractus und mit 145 % in der ipsilateralen Lumbalfaszie. Zu dem verpufft der Großteil der Dehnung in den sehr elastischen Muskelfasern, während fasziale Gewebe wie z. B. die Sehnen auf lange Sicht nicht elastischer, sondern eher steifer werden.

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Die Faszie besteht aus faserreichen Bindegewebs-Schichten und -Strängen, sie umschließt und durchdringt u.a. die Muskeln, Knochen, Nervenbahnen und Blutgefäße des Körpers. Nach neuerem Verständnis zählen auch Bänder, Sehnen oder Gelenkkapseln zur Faszie, die sich je nach den jeweiligen Belastungsverhältnissen aus dem Gewebenetzwerk verdichten und in der Regel kontinuierlich ineinader übergehen. Faszien bestehen aus einem hohen Anteil an Kollagenfasern und haben eine hohe viskoelastische Zugbelastbarkeit.(Grafik: Wesker K, Prometheus – Lernatlas der Anatomie, Hrsg. Schünke M/ Schulte E/Schumacher U, Thieme 2004)

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Faszien und chronischer Rückenschmerz

Bezüglich chronischer Rückenschmerzen, die laut Panjabi nur zu ca. 20 % Bandscheiben-bedingt sind, stellte Schleip die Theorie auf, dass hier häufig Mikroverletzungen der Lumbalfaszie und insbesondere der oberflächlichen Faszie ursächlich sein könnten, Belege gibt es noch keine. Die Mikroverletzungen könnten dann zu Verklebungen der Faszie führen, die letztlich die Propriozeptionsfähigkeit und Elastizität einschränken, mit den oben beschriebenen Folgen.

Langerin zeigte bereits, dass die Lumbalfaszie im hochauflösenden Ultraschall bei chronischen Rückenschmerz-Patienten signifikant verdickt ist und zudem weniger verschieblich. Unklar ist, ob diese Beobachtungen Ursache oder Folge der Rückenschmerzen sind. Beobachtet wurde auch, dass bei Frozen-Shoulder-Patienten vermehrt Myofibroblasten in der Faszie vorliegen, teils findet sich diese Beobachtung auch bei LWS-Patienten. Es stellt sich also die Frage, ob beide Krankheitsbilder verwandt sind (Frozen Spine?).

Vermutlich erfolgt auch ein Großteil der Propriozeption nicht über die Gelenkrezeptoren, die allenfalls im Endbereich von Bewegungen "Alarm schlagen", sondern über die oberflächlichen Faszien. Sie können allein aufgrund der größeren Entfernung zum Drehzentrum und den dadurch verlängerten Hebeln frühzeitiger ansprechen. Dies wäre auch ein Erklärungsmodell für den Erfolg oberflächlicher Behandlungen und auch ein Ansatz, um den Erfolg des Kinesiotapes zu erklären.


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Das Beste zum Schluss: Faszien sind trainierbar

Auch wenn es eine eher langwierige Prozedur zu sein scheint, laut Schleip sind Faszien sogar trainierbar. Durch spezielle Übungen sei es bei einer degenerierten Faszienstruktur möglich, die gesunde wieder herzustellen. Eine gesunde Faszie zeigt scherengitterartig angeordnete Fasern, die selbst sanft gewellt sind, während in degeneriertem Gewebe diese Anordnung verloren gegangen ist und die Fasern selbst glatt und gerade erscheinen. Ziel eines Trainings ist, aus dem "Filz" wieder eine elastische Struktur – vergleichbar einer Nylonstrumpfhose – zu generieren.

Ziele der Übungen ist zum einen, das Lösen von Verklebungen zwischen den Faszienschichten, z. B. mithilfe von Rollen wie der Black Roll©, die im Sinne einer Selbstmassage verwendet wird. Zum Anderen sollen die Faszien gedehnt werden. Hier sollten statische Übungen durch federnde, elastische Bewegungen – teils schnellere, teils langsamere – ersetzt werden. Die schnellen Bewegungen erinnern hier stark an die wippenden Dehnübungen der 80er Jahre. Die langsamen "bearbeiten" eher die gesamten Faszienketten oder "Anatomic Trains" nach Myers. Wie oft und in welcher Intensität das Training durchzuführen ist, muss allerdings noch geprüft werden. Klar ist, dass weniger mehr ist, also deutlich geringere Umfänge und Frequenzen als beim Muskelaufbautraining Anwendung finden, da die Kollagen-Re-Synthese langsamer vonstattengeht.

Als Fazit bleibt: Das faszielle Gewebe wurde bis dato stark unterschätzt. Die aktuelle Forschung fördert viele hochinteressante Erkenntnisse zutage, die Anlass dazu geben, im orthopädischen Bereich viele Theorien zu überdenken. Aus den neuen Erkenntnissen werden sicherlich auch neue Therapiestrategien entwickelt, zunächst sind aber noch viele Fragen zu klären.

Dr. Christoph Lukas, Orthopäde am Reha-Zentrum Hess in Bietigheim und Mannschaftsarzt des Basketball-Bundesligisten EnBW Ludwigsburg


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Die Faszie besteht aus faserreichen Bindegewebs-Schichten und -Strängen, sie umschließt und durchdringt u.a. die Muskeln, Knochen, Nervenbahnen und Blutgefäße des Körpers. Nach neuerem Verständnis zählen auch Bänder, Sehnen oder Gelenkkapseln zur Faszie, die sich je nach den jeweiligen Belastungsverhältnissen aus dem Gewebenetzwerk verdichten und in der Regel kontinuierlich ineinader übergehen. Faszien bestehen aus einem hohen Anteil an Kollagenfasern und haben eine hohe viskoelastische Zugbelastbarkeit.(Grafik: Wesker K, Prometheus – Lernatlas der Anatomie, Hrsg. Schünke M/ Schulte E/Schumacher U, Thieme 2004)