manuelletherapie 2012; 16(01): 6-7
DOI: 10.1055/s-0032-1304752
Forschung kompakt
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz Neufassung August 2011

Kommentierte Zusammenfassung der Empfehlungen für physiotherapeutische Interventionen
K. Lüdtke
1   Rückenzentrum am Michel, Ludwig-Erhard-Str. 18, 20459 Hamburg
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Kerstin Lüdtke

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Publication Date:
22 February 2012 (online)

 

Am 01.08.2011 veröffentlichte die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) die Neufassung der Nationalen Versorgungsleitlinie (NVL) Kreuzschmerzen [3]. Das Dokument soll bis Oktober 2014 gültig bleiben.

Hierbei handelt es sich um eine als S3 klassifizierte Leitlinie, also ein Dokument, das allen Elementen einer systematischen Entwicklung (Logik-, Entscheidungs- und Outcome-Analyse) entspricht. Die genauen Empfehlungen für die Entwicklung einer S3-Leitline sind auf der Website der AWMF nachzulesen [2]. Der Prozess beinhaltet eine systematische Recherche und Qualitätsbegutachtung der vorhandenen Evidenz durch ein interdisziplinäres Gremium und resultiert in konkreten evidenzbasierten Handlungsempfehlungen für Kliniker und Patienten.

Die Autoren definieren die Rolle einer Versorgungsleitlinie als eine „evidenzbasierte ärztliche Entscheidungshilfe für die strukturierte medizinische Versorgung im deutschen Gesundheitssystem“ [3]. Es handelt sich also nicht um eine gesetzlich bindende Handlungsanweisung, sondern vielmehr um eine Unterstützung bei der Entscheidungsfindung im klinischen Alltag mit Rückenschmerzpatienten.

An der Erstellung der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerzen waren eine Reihe medizinischer Verbände aller Fachrichtungen, ein Berufsverband der Psychologen, die Deutsche Gesellschaft für das Studium des Schmerzes, der Deutsche Verband der Ergotherapeuten und stellvertretend für den Beruf der Physiotherapeuten der Deutsche Verband für Physiotherapie (ZVK) vertreten. Patientengremium ist die Deutsche Vereinigung Morbus Bechterew.

Rückenschmerzen werden im Rahmen dieser Leitlinie wie folgt definiert: „Rückenschmerzen im Allgemeinen sind unterschiedlich starke Schmerzen des menschlichen Rückens, die ganz verschiedene Ursachen haben können. Die Empfehlungen dieser Leitlinie beschränken sich auf die Versorgung der Patientengruppe mit nichtspezifischem Kreuzschmerz“ [3].

Explizite Zielsetzung der NVL ist „eine beschwerdeorientierte und individuelle Therapie des Kreuzschmerzes, die auf Schmerzkontrolle und möglichst rasche funktionelle Wiederherstellung ausgerichtet sein soll“ [3].

Im Rahmen der evidenzbasierten Medizin ist eine leitliniengemäße Patientenversorgung wünschenswert, aber wie hilfreich ist die vorliegende NVL für den Beruf der Physiotherapeuten?

Bereits ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis weckt erste Zweifel, wie gut Physiotherapeuten bei der Erstellung dieser NVL tatsächlich vertreten waren. Zwar wird Ergotherapie als nicht medikamentöse Behandlung aufgeführt, nicht jedoch Physiotherapie, die sich unter den Rubriken Bewegungstherapie, Massage, Mobilisation/Manipulation, Elektrotherapie, Thermotherapie und Rückenschule verbirgt. Da sowohl Ergo- als auch Physiotherapeuten mehrere dieser Interventionen durchführen, ist unklar, warum das Inhaltsverzeichnis auf diese Art und Weise erstellt wurde. Auch die Abschnitte zu den Therapieempfehlungen und zur zugrundeliegenden Evidenz geben keinen Aufschluss über diese Entscheidung.

Kommentierte Empfehlungen für physiotherapierelevante Interventionen

  1. Bewegungstherapie (auch Krankengymnastik) soll zur Behandlung von akutem nicht spezifischem Kreuzschmerz nicht verordnet werden Die Empfehlung, bei akuten Rückenschmerzen keine Physiotherapie zu verordnen, beruht auf 4 Übersichtsarbeiten, unter anderem den European Guidelines for the Management of Acute Low Back Pain [4] und einem Cochrane Review [5], die alle bereits vor 2007 veröffentlicht wurden. Interventionsstudien, die in den Übersichtsarbeiten nicht berücksichtigt wurden und zum Teil aktueller sind als deren Literaturrecherchezeitraum, wurden nicht ausgewertet, wie z. B. die Studien von Lau et al. [7] und Wand et al. [8]. Beide Studien zeigen, dass eine frühe physiotherapeutische Intervention bei akuten Rückenschmerzen die Schmerzen reduziert und die Funktion bzw. Lebensqualität verbessert [7]. Zudem verdeutlichen die Studien zur segmentalen Stabilisation der LWS, dass gezielte physiotherapeutische Maßnahmen eine wichtige Rolle bei der Sekundärprävention und damit der Vermeidung von Rezidiven spielen [6]. Zugegebenermaßen ist die Evidenzlage jedoch mangelhaft und eine klare Aufforderung an unseren Beruf, methodisch hochwertige Effektivitätsnachweise für physiotherapeutische Interventionen zu liefern, gerade im Hinblick auf die Prognose für akute Rückenschmerzpatienten. Bei subakuten und chronischen Rückenschmerz ist die Evidenzlage eindeutig, und Bewegungstherapie wird klar empfohlen, nicht jedoch explizite Physiotherapie.

  2. Elektrotherapie (Interferenztherapie, PENS, TENS) sollten bei akuten oder subakuten/chronischen Rückenschmerzpatienten nicht angewendet werden; das Gleiche gilt für Kurzwellendiathermie, Laser- und Magnetfeldtherapie. Wärmetherapie kann bei akuten Rückenschmerzen, soll aber nicht bei chronischen Rückenschmerzen verordnet werden

  3. Ergotherapie soll bei akuten Rückenschmerzen nicht, aber bei chronischen Rückenschmerzen im Rahmen multimodaler Programme durchgeführt werden Aufschluss darüber, welche ergotherapeutischen Interventionen hier gemeint sind, gibt ein Blick in den nächsten Abschnitt der NVL zur Hintergrundliteratur, auf der diese Empfehlungen basieren. Die Empfehlung bezieht sich auf das Training arbeitsplatzspezifischer Bewegungsabläufe, meist Work conditioning oder Work hardening genannt. Die dieser Empfehlung zugrundeliegende Literatur erwähnt jedoch nicht, dass es sich hierbei um ergotherapeutische Maßnahmen handelt. In deutschen interdisziplinären Schmerzzentren werden diese Maßnahmen meist von Physiotherapeuten durchgeführt. Die Rubrik ist somit ungünstig gewählt und führt zu einer Konkurrenz zwischen den Berufen, anstelle einer interdisziplinären Zusammenarbeit. Es wäre günstiger gewesen, auch hier die Berufsbezeichnung durch eine Beschreibung der Intervention zu ersetzen, so wie es bei allen physiotherapeutischen Interventionen geschehen ist.

  4. Manipulation/Mobilisation kann sowohl bei akuten als auch subakuten/chronischen Rückenschmerzen (in Kombination mit Bewegungstherapie) angewendet werden Die Formulierung „kann“ bedeutet, dass die Evidenzlage zu diesem Thema noch offen ist, also weder für den Einsatz manueller Techniken noch dagegen spricht. Unklar bleibt, ob es sich hier um ärztliche Manuelle Therapie, Osteopathie oder physiotherapeutische Manuelle Therapie handelt.

  5. Massage soll bei akuten Rückenschmerzen nicht und kann bei chronischen Rückenschmerzen angewendet werden

  6. Rückenschule kann bei subakuten und sollte bei chronischen Rückenschmerzen angewendet werden. Betont wird, dass sie auf einem biopsychosozialen Ansatz beruht Hier werden Rückenschulmaßnahmen berücksichtigt, die sowohl von Physio- als auch Ergotherapeuten und ärztlichen Fachkräften durchgeführt wurden.

Insgesamt entsteht bei der Lektüre der NVL der Eindruck, dass zwar in den Kompetenzbereich von Physiotherapeuten fallende Interventionen berücksichtigt wurden, im Gegensatz zur Ergotherapie wird jedoch Physiotherapie nicht ausdrücklich erwähnt – außer bei der Empfehlung gegen Bewegungstherapie bei akuten Rückenschmerzen (hier mit „Krankengymnastik“ bezeichnet). Als Entscheidungshilfe für den behandelnden Arzt geht also nicht eindeutig hervor, dass bei akuten Rückenschmerzen eine Verordnung physiotherapeutischer Manueller Therapie sinnvoll sein kann und bei subakuten und chronischen Rückenschmerzen Physiotherapie als Bewegungstherapie verordnet werden sollte (dazu optional Massagen, Rückenschule, Manuelle Therapie), sondern nur, dass z. B. Bewegungstherapie im Allgemeinen empfohlen wird.

Die Empfehlungen stehen zum Teil im Widerspruch zu internationalen Guidelines, wie z. B. den Positionspapieren des Australischen Physiotherapieverbandes (APA), die Manuelle Therapie und Übungsbehandlungen bereits für akuten Rückenschmerz empfehlen [1]. Darüber hinaus werden in Deutschland primär von Physiotherapeuten durchgeführte Interventionen, wie z. B. Work hardening und Rückenschule teilweise ganz anderen Berufsgruppen zugeordnet.

Insgesamt hinterlässt die eigentlich erfreuliche Entwicklung einer aktuellen NVL aus der Sicht einer Physiotherapeutin einen etwas schalen Nachgeschmack und 2 brennende Fragen: (1) Ist die Evidenz für die physiotherapeutische Behandlung wirklich so dünn gesät und (2) Wurde die Physiotherapie bei der Erstellung der NVL überzeugend vertreten?


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Kerstin Lüdtke