manuelletherapie 2012; 16(01): 9-17
DOI: 10.1055/s-0032-1304754
Schwerpunkt SIG
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Differenzierungs-/Provokationstests und Behandlung für das SIG

M. Laslett
1   AUT University, Auckland, New Zealand
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Mark Laslett

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
22. Februar 2012 (online)

 

Zusammenfassung

DAS KREUZ MIT DEM KREUZ: Es gibt viele SIG-Tests. Wenige sind aussagekräftig. Der Autor dieses Artikels entmystifiziert das Thema und stellt ein Clinical-Reasoning-Modell vor, das Sie zur Prognose von intraartikulären SIG-Schmerzen verwenden können. Außerdem sorgt er in seinem Update zum Thema SIG-Tests, das er speziell für die Zeitschrift manuelletherapie zusammenstellte, für Klarheit bei den Definitionen von SIG-Dysfunktion und SIG-Schmerzen. Für die Untersuchung von Patienten mit SIG-Dysfunktionen sind Palpationen und Mobilitätstests gängige Methoden. Sind diese Untersuchungsmethoden nicht reliabel und valide, eignen sie sich auch nicht für die Behandlung der Patienten. Benötigen wir nicht nur andere Untersuchungsmethoden, sondern auch andere Behandlungsmethoden?


Vita

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Mark Laslett - FNZCP, PhD, Dip MT, Dip MDT, Senior Research Fellow


Mark Laslett ist Experte auf dem Gebiet SIG und der einzige Physiotherapeut mit PhD in Neuseeland, der noch klinisch arbeitet (wie er selbst sagt). Er ist beratender Physiotherapeut und Gutachter für muskuloskelettale Patienten. Ärzte und andere Physiotherapeuten überweisen ihre Patienten zu ihm.

Über den Zusammenhang zwischen dem Sakroiliakalgelenk (SIG) und Schmerzen der LWS wird nach wie vor diskutiert. Manche Therapeuten betrachten SIG-Schmerzen als wesentlichen Aspekt, der zu Problemen im LWS-Bereich beiträgt [31], andere hingegen halten sie für unbedeutend oder irrelevant [137]. Zu berücksichtigen sind 2 unterschiedliche Sichtweisen:

  • Einerseits ist das SIG eine belastungsübertragende mechanische Verbindungsstelle zwischen Becken und Wirbelsäule, die entweder das SIG selbst oder andere Strukturen veranlasst, schmerzhafte Stimuli zu erzeugen.

  • Andererseits kann das SIG selbst eine Schmerzquelle sein.

Die erste Sichtweise unterstellt, dass im SIG eine wie auch immer geartete Fehlfunktion vorliegt; für gewöhnlich wird der Begriff „Dysfunktion“ verwendet, um die Komplexität der möglicherweise daraus resultierenden mechanischen Probleme zu erfassen. Unglücklicherweise werden die Begriffe „SIG-Dysfunktion“ und „SIG-Schmerzen“ häufig synonym verwendet, so als ob sie dieselbe Bedeutung hätten [65]. Dieser Artikel differenziert streng zwischen diesen beiden Begriffen.

Hinweis

Sakroiliakalgelenk (SIG) oder Iliosakralgelenk (ISG)?

In der Ausbildung und im Studium lernen die meisten Physiotherapeuten das ISG kennen. Auch im deutschsprachigen Gesundheitswesen ist eher vom ISG als vom SIG die Rede. Die Kollegen im angloamerikanischen Ausland tauschen sich dagegen über das Sacroiliac joint (SIJ) aus. Will man sich an diesen fachlichen Diskursen beteiligen, kommt man mit dem Begriff ISG nicht weit, z. B. bei der Literaturrecherche. Deshalb hat sich die manuelletherapie entschieden, ab dieser Ausgabe den Begriff „SIG“ zu verwenden.

SIG-„Dysfunktion“

Die „Dysfunktion“, als ein weitgefasstes Konzept, umfasst sämtliche mechanischen Störungen und Schmerzzustände. Diese Auffassung trägt jedoch eher zur Verwirrung bei, denn die Unterscheidung zwischen schmerzlosen mechanischen Abweichungen und symptomatischen Veränderungen ist unklar. Bezeichnet „SIG-Dysfunktion“ dagegen eine mechanische Störung der SIG-Strukturen impliziert dies keinen Zusammenhang mit Schmerzerfahrungen.

Für diese Definition spricht die keineswegs überzeugende Evidenz, dass zwischen SIG-Dysfunktionen und Rücken- bzw. ausstrahlenden Schmerzen ein Zusammenhang besteht [39]. Sturesson stellte fest, dass der Bewegungsumfang des SIG gering ist – weniger als 4 ° Rotation und bis zu 1,6 mm Translation [75], [122], [121], [124]. Außerdem stellte er fest, dass bei Patienten, bei denen das SIG als Schmerzquelle vermutet wurde, der Bewegungsumfang zwischen der symptomatischen und der asymptomatischen Seite gleich waren [122].

Reliabilität von SIG-Palpationstests zur Identifizierung von Dysfunktionen

Es gibt viele klinische Tests zur Bewertung von Bewegung und Asymmetrie des SIG. Studien unterschiedlicher Qualität untersuchten diese Tests auf ihre Intra- und Intertester-Reliabilität. Abgesehen von einigen Tests mit angemessener Reliabilität [72] ist die Intertester-Reliabilität der einzelnen Tests im Großen und Ganzen unzureichend [63], [107], [132], [133]. Außerdem gibt es Evidenz für die Annahme, dass die Reliabilität umso geringer ist, je mehr Erfahrung der Kliniker mit diesen Tests hat [70], [97].


Kann das Clustern von Tests die Reliabilität verbessern?

In einigen Studien versuchten die Forscher, das Problem der geringen Reliabilität der SIG-Palpationstests anzugehen, indem sie ganze Gruppen oder Cluster von Tests bewerteten. Sie hatten dabei sogar einen gewissen Erfolg [3], [17], [48], [107], [129]. Therapeuten, die diese Tests häufig anwenden, werden sich durch diese Untersuchungen ermutigt fühlen. Davon abgesehen ist jedoch nicht zuerkennen, welchen wirklichen Wert die Tests haben sollen. Das Clustern von individuell unzuverlässigen Tests mag die Reliabilität erhöhen, aber es mangelt dieser Vorgehensweise an Inhaltsvalidität (Augenscheinvalidität).


Diagnostische Genauigkeit von SIG-Palpationstests zur Identifizierung von Dysfunktionen

Sensitivität und Spezifität

Die diagnostische Genauigkeit lässt sich ermitteln, indem man die Resultate eines Tests mit denen eines Referenzstandards vergleicht, der sich für das Erstellen einer Diagnose bereits bewährt hat. Sensitivität und Spezifität sind die statistischen Schlüsselwerte. Mit ihnen kann man die Validität bewerten und die Wahrscheinlichkeitsverhältnisse eines positiven oder negativen Testausgangs berechnen.

Ein Test mit hoher Sensitivität und geringer Spezifität eignet sich nicht zur Diagnostik. Er fällt zwar in vielen Fällen positiv aus, ist aber in Bezug auf den Referenzstandard negativ, d. h. es gibt eine hohe Rate falscher positiver Ergebnisse. Umgekehrt kann man einen Test mit geringer Sensitivität und hoher Spezifität durchaus zur Diagnostik heranziehen. Obwohl in vielen Fällen, die gemessen am Referenzstandard positiv sind, die Tests negativ ausfallen werden und es damit eine hohe Rate falsch negativer Ergebnisse gibt [1], [111].


Gibt es einen Referenzstandard für SIG-Dysfunktionen?

Wenn ein Therapeut eine SIG-Dysfunktion untersuchen möchte, müssen die entsprechenden Tests, gemessen an einem akzeptablen Referenzstandard, eine hohe Spezifität haben. Das Problem ist, dass es keinen allgemein akzeptierten Referenzstandard für SIG-Dysfunktionen gibt. Jeder Referenzstandard muss dasselbe Phänomen wie die Tests messen bzw. identifizieren können. Der bisher glaubwürdigste und am weitesten entwickelte Referenzstandard für die Mobilität des SIG, der sowohl angewandt wird als auch untersucht wurde, ist die radiostereometrische Röntgen-Analyse bei Flexion/Extension. Die Untersucher versehen dabei das Sakrum und Ilium mit metallenen Markern [122].


Studien zur diagnostischen Genauigkeit von Palpationstests

In einer Studie untersuchten Dreyfuss et al. [39] die diagnostische Genauigkeit von häufig eingesetzten Palpationstests zur Bewertung der Position und Mobilität des SIG. Die Ergebnisse setzten sie in Relation zu den Resultaten einer diagnostischen Anästhesieinjektion in das SIG. Als schlecht beurteilten sie die Sensitivität und Spezifität folgender Tests:

  • Gillet-Tests;

  • Flexionstests im Stehen;

  • Federungstests.

Da sich der verwendete Referenzstandard auf SIG-Schmerzen bezog (nicht auf SIG-Dysfunktionen), war dieses Ergebnis zu erwarten. In einer früheren Studie hatten dieselben Autoren bei asymptomatischen Patienten die Prävalenz folgender Tests ermittelt [37]:

  • Gillet-Test: 16 %;

  • Flexionstest im Stehen: 13 %;

  • Flexionstest im Sitzen: 8 %.

Cibulka et al. [17] berichteten von einer Sensitivität von 82 % und einer Spezifität von 88 % bei drei aus vier auf Palpation basierenden Tests:

  • Flexiontest im Stehen;

  • Position der Spina iliaca posterior superior im Sitzen (SIPS-Position);

  • Aktiver Wechsel aus der Rückenlage in den Langsitz (Derbolowsky-Zeichen bzw. Test);

  • Knieflexion in Bauchlage.

Diese Resultate überzeugen jedoch aus drei Gründen nicht:

  • Sie setzten einen ungeeigneten Referenzstandard ein (das Auftreten oder Fehlen von LWS-Schmerzen).

  • Es fand keine Verblindung der Untersucher statt.

  • Da die Untersucher ein Cluster von individuell unzuverlässigen Tests verwendeten, mangelte es an Inhaltsvalidität.

Insgesamt ist die Aussagekraft von Palpationstests für Bewegung, Position und Symmetrie des SIG aus vielen Gründen eingeschränkt. Normale Abweichungen der Gelenkform und die häufig vorkommende natürliche Fusion sind wesentliche Gründe [27], [28], [138].




SIG-Schmerzen

Intraartikuläre Schmerzquelle

Da die SIG-Strukturen innerviert werden [5], [9], [22], [52], [53], [55], [59], [73], löst die Stimulation des SIG bei asymptomatischen Freiwilligen Schmerzen aus [51]. Schmerzen im Gesäß und in den Beinen lassen sich mit einem lokalen Anästhetikum in den Gelenkraum eliminieren (unter Einsatz eines Bildwandlers; [113]). Für symptomatische Patienten gibt es außerdem festgelegte Schmerzausstrahlungsgebiete [51], [50].

Das sind gewichtige Gründe anzunehmen, dass bei bestimmten Patienten mit Gesäß- und Beinschmerzen die intraartikulären Strukturen des SIG eine potenzielle und möglicherweise die einzige Schmerzquelle sind [6], [48], [49].


Auch extraartikuläre Schmerzquellen sind möglich

Der in den genannten Studien verwendete Referenzstandard ist nicht perfekt. Man kann zwar davon ausgehen, dass der synoviale Teil des Gelenks durch intraartikuläre Blockaden anästhetisiert wurde, aber auch die extraartikulären ligamentären Strukturen können Schmerzen verursachen [126], [128]. Um diejenigen Fälle zu identifizieren, in denen die ligamentären Strukturen die Schmerzen auslösen, wäre eine andere Art der Anästhetisierung erforderlich (Blockade des lateralen Ramus) [8], [38]. Meines Wissens gibt es keine veröffentlichten Daten über den Vergleich von Resultaten klinischer Tests mit lateralen Ramus-Blockaden, daher beschränkt sich der Schwerpunkt dieses Artikels auf die klinische Prognose von intraartikulären Blockaden.


Korrekte Anästhesierungen zur SIG-Diagnostik sind schwierig

Bei diagnostischen Injektionen muss immer ein Bildwandler verwendet werden, da es nur selten gelingt, die Injektion „blind“ genau in die Gelenkhöhle des SIG einzubringen [65], [109]. Die optimale Injektionstechnik wurde 1992 etabliert [2] und wird in der aktuellen Ausgabe der von der International Spine Intervention Society herausgegebenen Praxisrichtlinien beschrieben [7]. Weil falsch-positive Reaktionen auf einzelne diagnostische Blockaden in Synovialgelenken häufig auftreten [114], hält man mittlerweile vergleichende oder Placebo-kontrollierte Blockaden für erforderlich, bevor eine Diagnose von SIG-generierten Schmerzen bestätigt werden kann.


Schmerzprovokationstests

Nicht-invasive klinische Tests für SIG-Schmerzen basieren auf Schmerzprovokationstests, bei denen der Therapeut die SIG-Strukturen belastet und die dem Patienten vertrauten Schmerzen auslöst. Die Schlüsseltests wurden detailliert in früheren Veröffentlichungen beschrieben [86], [87], [82]:

Der von Robinson et al. [108] beschriebene Drop-Test ([Abb. 1] a u. b) ist zuverlässig und in der täglichen Praxis sehr nützlich. Er kann meiner Meinung nach jeden der Schlüsseltests ersetzen.

(Videos zu den Tests mit freundlicher Genehmigung von Mark Laslett)

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Abb. 1 a u. b Drop-Test für das rechte SIG. a Der Patient hebt beide Fersen vom Boden ab und übernimmt das Körpergewicht fast komplett auf das rechte Bein. b Dann lässt er die Ferse ruckartig auf den Boden zurückfallen. Dabei bleibt das rechte Kniegelenk extendiert. Der Test bewirkt eine kranial gerichtete Scherkraft im rechten SIG.

Reliabilität von SIG-Schmerzprovokationstests

Während frühe Studien zur Intertester-Reliabilität von Schmerzprovokationstests [13], [94], [103], [134] zu uneinheitlichen Ergebnissen kamen, wiesen spätere Untersuchungen nach, dass diese Tests zumindest dann über eine akzeptable Reliabilität verfügen, wenn man sie in hohem Maße standardisiert [79], [86], [108], [132].


Validität von SIG-Schmerzprovokationstests

Mehrere Tests müssen positiv sein, um falsch positive Ergebnisse zu vermeiden

Im Vergleich zur akzeptierten Prävalenz von SIG-Schmerzen fallen Provokationstests für das SIG bei Patienten mit Rückenschmerzen häufiger positiv aus [80]. Dies deutet darauf hin, dass individuelle Tests häufig falsch-positiv ausfallen. Das spricht dafür, dass vom SIG erzeugte Schmerzen nur dann als Diagnose in Frage kommen, wenn mehrere Tests positiv ausfallen und der Therapeut andere Schmerzursachen ausschließen kann.

Vor diesem Hintergrund und trotz der Unmenge an Evidenz für die Behauptung, dass kein klinisches Bild in der Lage sei, Schmerzen zu charakterisieren, die im SIG entstehen [36], [92], [113], [117], starteten wir eine Studie zur Untersuchung der diagnostischen Genauigkeit von ausgewählten Schmerzprovokationstests für das SIG (siehe Schmerzprovokationstests). Diese Studie bestätigte, dass die Vorhersagekraft von drei oder mehr Schmerzprovokationstests für das SIG in Relation zu kontrollierten vergleichbaren SIG-Blockaden mäßig ist. Sensitivität und Spezifität betrugen 91 % bzw. 78 % [87].

In einer zweiten Studie analysierten wir die Daten detaillierter und in Relation zu einem Einfachblockade(Injektion)-Referenzstandard, um die diagnostische Genauigkeit von mehreren miteinander kombinierten Tests zu prüfen. Wir fanden heraus, dass die optimale Anzahl positiver Tests drei oder mehr beträgt [82]. Ein anderes Forscherteam mit mehr Testpersonen bestätigte unsere Ergebnisse. In dieser Studie waren mehrere Untersucher beteiligt. Die diagnostische Injektion, diesmal in Relation zu einem Doppelblockaden-Standard, verabreichte ein Arzt, der nicht zu den Untersuchern gehörte [131]. Obwohl beide Forscherteams unterschiedliche SIG-Tests kombinierten, stimmen die Resultate der beiden Studien erstaunlicherweise sehr stark überein [81]. Bei Patienten, bei denen man eine ankylosierende Spondylitis im Anfangsstadium vermutet, scheinen außerdem Cluster von Provokationstests über eine akzeptable diagnostische Validität zu verfügen. Auch wenn die Tests einzeln keine diagnostische Aussagekraft haben. Als Bezug für die Validität nutzte man in diesem Fall MRT-Befunde [101].


Zentralisation nach McKenzie eignet sich zur Differenzierung

Wie doppelte nervale SIG-Blockaden und Provokationsdiskographie zeigen, treten SIG-Schmerzen und diskogene Schmerzen nur selten gemeinsam auf [85], [115]. Einzelfälle zeigen, dass Provokationstests für das SIG positiv ausfallen, wenn Nervenwurzelschmerzen bestehen, die ein lumbaler Bandscheibenvorfall verursacht. Die SIG-Provokationstests fallen außerdem positiv aus, wenn der Therapeut bei einer körperlichen Untersuchung nach McKenzie Symptome zentralisieren kann [80]. Das Phänomen der Zentralisation ist in der klinischen Praxis häufig zu beobachten, wenn man Patienten mit LWS-Schmerzen mit standardisierten Testbewegungen und gehaltenen Körperpositionen untersucht. Als Erster beschrieb McKenzie dieses Phänomen [95]. Zahlreiche Autoren haben es seitdem in Bezug auf seine Reliabilität und Validität beschrieben und evaluiert [21], [40], [76], [77], [88]-[91], [106], [140]–[148]. Das Phänomen der Zentralisation erwies sich als äußerst spezifisch für diskogene Schmerzen. Bei Patienten mit bestätigten SIG-Schmerzen oder Facettengelenkschmerzen ist es jedoch nicht zu beobachten [62], [78], [84], [85].

Hinweis

Auf dieser Grundlage erscheint die Annahme gerechtfertigt, dass positive SIG-Tests falsch-positiv sind, wenn gleichzeitig das Phänomen der Zentralisation auftritt. Sie sollten deshalb ignoriert werden.


Clinical-Reasoning-Modell: das SIG als Schmerzquelle identifizieren

Die Beschränkung der Interpretation von SIG-Tests auf Fälle ohne Zentralisation verbessert die Spezifität von drei oder mehr positiven Schmerzprovokationstests für das SIG von 78 auf 87 % bei einer gleich bleibenden Sensitivität von 91 % [87]. Bei Patienten mit diesen beiden Kriterien ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die SIG-Schmerzen durch die diagnostische Injektion eines lokalen Anästhetikums bestätigt werden. Dieser Prozess des Clinical Reasoning kann als ein geeignetes Clinical-Reasoning-Modell betrachtet werden, um eine bestimmte Patientengruppe zu identifizieren. Nämlich die Patienten, deren Schmerzen höchstwahrscheinlich im SIG entstehen. Der Einfachheit halber bezeichnen wir dies als „Sakroiliakalgelenk Clinical-Reasoning-Modell“ (SIGCRM).


Positives und negatives Wahrscheinlichkeitsverhältnis

Wahrscheinlichkeitsverhältnisse sind Zusammenfassungsstatistiken, die man von den Sensitivitäts- und Spezifitätswerten ableitet. Das Wahrscheinlichkeitsverhältnis für einen positiven Test ist eine Schätzung der Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Krankheit vorliegt. Zufälliges Raten entspricht einem positiven Wahrscheinlichkeitsverhältnis von 1,0, Werte über 1,0 repräsentieren eine Wahrscheinlichkeit, die über diesem Zufallsergebnis liegt. Je höher der Wert, desto besser ist der Test. Wenn beispielsweise ein Test ein positives Wahrscheinlichkeitsverhältnis von 10 hat, bedeutet dies, dass ein positives Testergebnis bei Patienten, die an der entsprechenden Krankheit leiden, zehn Mal so wahrscheinlich ist, wie bei Patienten, von denen man weiß, dass sie nicht an dieser Krankheit leiden.

Das Wahrscheinlichkeitsverhältnis eines negativen Tests beschreibt dessen Fähigkeit, die Krankheit oder Störung auszuschließen, für die der Test angewandt wird. Je stärker der Wert eines negativen Wahrscheinlichkeitsverhältnisses gegen Null geht, desto „perfekter“ ist die Fähigkeit dieses Tests, die fragliche Krankheit auszuschließen. Umgekehrt gilt: Je näher der Wert eines negativen Wahrscheinlichkeitsverhältnisse bei 1,0 liegt, desto mehr entspricht die Fähigkeit des Tests, die Krankheit auszuschließen, dem Zufallsergebnis [112].


Fagan-Nomogramm

Wenn sowohl die Prävalenz der Störung als auch die Resultate eines Tests bekannt sind, erlauben die Wahrscheinlichkeitsverhältnisse die Berechnung der Wahrscheinlichkeitsveränderungen und der Wahrscheinlichkeit, ob eine Störung vorliegt oder nicht [111], [112]. Vor einer Untersuchung entspricht die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Störung vorliegt, der Prävalenz dieser Störung. Wenn beispielsweise die Prävalenz von SIG-Schmerzen 13 % beträgt, beträgt ihre Wahrscheinlichkeit vor der Untersuchung 0,13. Der diagnostische Wert eines Tests zeigt sich darin, wie stark die Wahrscheinlichkeit der Störung zunimmt, wenn der Test positiv ausfällt, und wie stark sie abnimmt, wenn der Test negativ ausfällt. Der diagnostische Wert eines bestimmten Tests lässt sich mit Hilfe des Fagan-Nomogramms abbilden (http://araw.mede.uic.edu/cgi-bin.testcalc.pl). Die Grafik eines Fagan-Nomogramm zeigt die:

  • Wahrscheinlichkeit vor dem Test;

  • Prävalenz;

  • Positiven und negativen Wahrscheinlichkeitsverhältnisse;

  • Wahrscheinlichkeit nach dem Test.

[Abb. 2] zeigt ein auf Daten von Laslett et al. [87] basierendes Fagan-Nomogramm. Dargestellt sind drei oder mehr positive SIG-Tests als positiv für SIG-Schmerzen (ohne Berücksichtigung des Vorhandenseins des Zentralisationsphänomens). Das Wahrscheinlichkeitsverhältnis für einen positiven Test (drei oder mehr SIG-Tests rufen die dem Patienten vertrauten Schmerzen hervor) beträgt 4,16. Die Wahrscheinlichkeit von SIG-Schmerzen nimmt daher um mehr als das Doppelte zu und steigt von 26 auf 59 %. Das Wahrscheinlichkeitsverhältnis für einen negativen Test beträgt 0,12, was nach dem Test zu einer Wahrscheinlichkeit von 4 % führt.

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Abb. 2 Fagan-Nomogramm, gewonnen aus Daten von Laslett et al. [87] (N = 43; Wahrscheinlichkeit vorher [Odds]: 26 % bzw. 0,3). Positiver Test: Positive Likelihood Ratio (LR): 4,16, 95 %-Konfidenzintervall [2,10, 8,21]; Wahrscheinlichkeit nachher (Odds): 59 % (1,4), 95 %-Konfidenzintervall: [42 %, 74 %]. Negativer Test: Positive LR: 0,12, 95 %-Konfidenzintervall: [0,02, 0,76]; Wahrscheinlichkeit nachher (Odds): 4 % (1,4), 95 %-Konfidenzintervall: [1 %, 21 %]. Odds =Wahrscheinlichkeit/(1-Wahrscheinlichkeit) +LR = Sensitivität/(1-Spezifizität) –LR = (1-Sensitivität)/Spezifizität Odds nachher = Odds vorher x LR).

SIGCRM und Fagan-Nomogramm

Wendet man das SIGCRM an (Zentralisierer sind in diesem Fall ausgeschlossen), lässt sich die diagnostische Leistungsfähigkeit mit Hilfe des Fagan-Nomogramms graphisch darstellen ([Abb. 3]). Da 9 Zentralisierer bei der Berechnung nicht berücksichtigt wurden, beträgt die Stichprobengröße 34 und die Prävalenz steigt auf 32 %. Das positive Wahrscheinlichkeitsverhältnis beträgt 7,0, was einer Wahrscheinlichkeit nach dem Test von 77 % entspricht. Das negative Wahrscheinlichkeitsverhältnis beträgt 0,10, was einer Wahrscheinlichkeit nach dem Test von ungefähr 5 % entspricht.

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Abb. 3 Fagan-Nomogramm, gewonnen aus Daten von Laslett et al. [87] (N=34; Wahrscheinlichkeit vorher [Odds]: 26 % bzw. 0, 5). Positiver Test: Positive Likelihood Ratio (LR): 6,97, 95 %-Konfidenzintervall [2,39, 20]; Wahrscheinlichkeit nachher (Odds): 77 % (3,3), 95 %-Konfidenzintervall: [53 %, 91 %]. Negativer Test: Negative LR: 0,10, 95 %- Konfidenzintervall: [0,02, 0,68]; Wahrscheinlichkeit nachher (Odds): 5 % (0,0), 95 %-Konfidenzintervall: [1 %, 25 %]. Odds = Wahrscheinlichkeit/(1-Wahrscheinlichkeit) +LR = Sensitivität/(1-Spezifizität) –LR = (1-Sensitivität)/Spezifizität Odds nachher = Odds vorher x LR).
Hinweis

Der praktische Wert dieser Daten liegt auf der Hand: Wenn bei ungefähr 30 % der Patienten mit LWS-Schmerzen ihren Ursprung im SIG haben, und bei einem individuellen Patienten drei oder mehr SIG-Provokationstests positiv ausfallen, beträgt die Wahrscheinlichkeit 59 %, dass dieser Patient an SIG-Schmerzen leidet. Stellt der Therapeut außerdem bei einer McKenzie-Untersuchung mit wiederholten Bewegungen kein Zentralisationsphänomen fest, steigt die Wahrscheinlichkeit auf 77 %.

Für diese Sichtweise sprechen auch Untersuchungen aus jüngerer Zeit [67], [110], [118], [127], [135].




Behandlung von SIG-„Dysfunktionen“

Mobilisation oder Manipulation sind nicht reliabel und nicht valide

Im manualtherapeutischen Unterricht setzen Dozenten sehr viele Bücher, einzelne Kapitel, Artikel und Webseiten ein über die Diagnose und Behandlung des Sakroiliakalgelenks. Die meisten dieser Literaturquellen beruhen explizit oder implizit, ganz oder teilweise auf der Annahme, dass irgendeine biomechanische Fehl- oder Dysfunktion entweder das SIG selbst oder andere Strukturen dazu veranlasst, die Schmerzen des Patienten zu bewirken [4], [12], [14], [16], [18]-[20], [26], [30], [32]–[34], [54], [58]. Diese Hypothese ist jedoch alles andere als belastbar, da die Testmethoden, mit denen solche Dysfunktionen identifiziert werden, auf Sand gebaut sind. Die Flut der veröffentlichten Daten, die allesamt zeigen, dass die entsprechenden Tests unzuverlässig und nicht valide sind, spült die Testmethoden nur zu leicht hinweg. Schon vor 25 Jahren habe ich die Mobilisation und Manipulation des SIG aufgegeben, nachdem ich zu der Überzeugung gelangt war, dass die zur Verfügung stehenden Tests keine ausreichende Reliabilität haben.


Mobilisation oder Manipulation basieren auf einem fehlerhaften Konzept

Wenn eine SIG-Dysfunktion auf der Grundlage von Palpationstests diagnostiziert wird, die auf irgendein mechanisches Problem hindeuten, hilft dies dem Patienten bei der Entscheidung, welche Behandlungsmethode am besten geeignet ist, keinen Schritt weiter. Für Kliniker, die diesem diagnostischen Verfahren vertrauen, mag es verführerisch sein, ihre Behandlung in Form von Mobilisation oder Manipulation fortzusetzen, um die angebliche mechanische Störung zu beheben, aber die ganze konzeptuelle Konstruktion ist von Grund auf fehlerhaft und sollte meiner Meinung nach aufgegeben werden.



Behandlung von SIG-Schmerzen

Hypothetische Schmerzursachen

Sehr viele klinische Zustände können SIG-Schmerzen verursachen, dazu zählen:

Rheumatische Erkrankungen wie ankylosierende Spondylitis, Arthrose, Infektionen, Stressfrakturen, postoperative Beschwerden durch Wirbelfusionen [29], [41], [43], [45], [46], [56], [64], [74], [98], [99], [102], [104], [105].

Darüber hinaus können auch durch Verletzung oder Geburt verursachte Instabilitäten für wiederholte kleinere Traumata verantwortlich sein, die Entzündungsprozesse im Gelenk auslösen, aufrechterhalten oder verstärken [96], [121], [125], [136].


Manipulation des SIG beeinflusst die LWS

Diese Hypothesen über die Ursachen von SIG-Schmerzen sind nach wie vor spekulativ und können nur durch sorgfältig durchgeführte Forschungsarbeiten verifiziert oder falsifiziert werden. Es gibt jedoch bereits zahlreiche höchst aufschlussreiche Untersuchungen zu Rückenschmerzen, SIG-Tests und Manipulation des SIG. In einer Studie jüngeren Datums versuchten Forscher, retrospektiv eine klinische Vorhersageregel zu finden, mit der sich das positive Ergebnis einer weit verbreiteten SIG-Manipulationsmethode vorhersagen ließe [15], [47]. In der ursprünglichen Studie suchten die Autoren ganz eindeutig nach einem klinischen SIG-Syndrom, das auf eine spezifische, häufig angewandte SIG-Manipulationsmethode anspricht. Zusätzlich zu vielen anderen Variablen, die in ihrer Regressionsanalyse berücksichtigt wurden, evaluierten sie 21 SIG-Tests, u. a. für Symmetrie, Schmerzprovokation und Bewegungstestung. Keiner dieser Tests erwies sich als zuverlässiger Prädiktor für das Ergebnis der Manipulation. Die Autoren schrieben: „Manipulation gilt als indiziert bei Hypomobilität. Interessanterweise war es die lumbale Hypomobilität, die Eingang in das Vorhersagemodell fand, obwohl die in dieser Studie angewandte Technik die SIG-Region betraf. Dieses Ergebnis untermauert die Annahme, dass die Manipulationstechnik nicht spezifisch für die SIG-Region ist, sondern sich auch auf die LWS auswirkt“ [47].


Interpretation der Forschungsergebnisse

Die Resultate lassen fünf unterschiedliche Interpretationen zu:

  1. Keiner der evaluierten SIG-Tests trägt zur Identifizierung der SIG-Läsion bei, von der man annimmt, dass sie durch Manipulation behandelt werden kann.

  2. Nur wenige Patienten der Stichprobe litten tatsächlich an SIG-Schmerzen oder einer SIG-Dysfunktion.

  3. Die angewandte Manipulationstechnik hat keinen nennenswerten Einfluss auf das SIG.

  4. Ein nicht mechanischer Mechanismus ist verantwortlich für die SIG-Schmerzen der Patienten.

  5. Eine Kombination der Interpretationen 1 bis 4 ist zutreffend.

Wenn man davon ausgeht, dass Provokationstests für das SIG nachweislich sowohl reliable als auch valide Prädiktoren für SIG-Schmerzen sind, ist Interpretation 1 zumindest teilweise falsch. Es ist höchst wahrscheinlich, dass eine oder mehrere der Interpretationen 2 bis 4 zutreffen.


Wie behandelt man Patienten mit SIG-Schmerzen?

Wie also sollen wir Patienten behandeln, die mit hoher Wahrscheinlichkeit an SIG-Schmerzen leiden? Die Fachliteratur über mit Schwangerschaft assoziierte Beckengürtelschmerzen (BGS) liefert dazu einige äußerst hilfreiche Hinweise. Ungefähr 54 % der Frauen mit schwangerschaftsbedingten Beckengürtelschmerzen genügen den Anforderungen des CR-Modells für das SIG (SIGCRM) [61]. Die Studie von Gutke et al. beinhaltete zwar keine randomisierte Interventionskontrolle, aber andere Forscher führten Studien mit vergleichbaren Populationen durch.


Spezifische Stabilisationsübungen

Stuge et al. verglichen die Wirkung spezifischer Stabilisationsübungen mit der einer individuellen Physiotherapie ohne Stabilisationsübungen bei Frauen, die nach der Entbindung an BGS litten [119]. Nach einem Jahr stellten sie die folgenden Wirkungen des spezifischen Stabilitätstrainings fest:

  • Die Beeinträchtigungen bzw. Behinderungen hatten um 50 % abgenommen.

  • Auf einer visuellen Analogskala von 100 mm hatten sich die Schmerzen um 30 mm reduziert.

  • Die Lebensqualität hatte sich verbessert.

Bei einer Kontrollgruppe beobachteten die Forscher dagegen nur nicht-signifikante Veränderungen. Eine weitere Untersuchung nach zwei Jahren bestätigte sowohl diese Behandlungswirkung als auch die Unterschiede zwischen der Behandlungs- und der Kontrollgruppe [120]. Eine ähnliche Studie zeigte, dass die Behandlung mit Stabilisationsübungen einer „Standardbehandlung“ überlegen war und dass durch Akupunktur weitere Verbesserungen erreicht werden konnten [42]. Es gibt eine Evidenz dafür, dass Übungen, die nicht spezifisch auf die Verbesserung der Stabilität im Lenden-Becken-Bereich abzielen, nicht effektiver sind, als andere übliche Behandlungsmethoden [100]. Es gibt also zumindest indirekte Evidenzen für die Annahme, dass ein Stabilisationstraining Patienten mit SIG-Schmerzen helfen kann. Soweit ich weiß, wurde jedoch bisher keine randomisierte kontrollierte Studie durchgeführt, um diese Hypothese ganz konkret zu überprüfen.


Minimal-invasive Verfahren

Bei der Behandlung von Patienten mit chronischen SIG-Schmerzen gibt es weitere nützliche Interventionen. Physiotherapeuten dürfen diese Interventionen jedoch nicht anwenden:

Kortikosteroid-Injektionen [60], [93], [116], Phenol-Injektionen [139], Radiofrequenz-Neurotomie [11], [23], [30], [44], [149].

Diese minimal-invasiven Verfahren scheinen in bestimmten Fällen von SIG-Schmerzen effektiv zu sein, vor allem wenn eine bildgebende Evidenz für eine Sakroiliitis vorliegt.

Manche Autoren empfehlen eine Prolotherapie (Injektionstherapie zur Bänderstraffung), aber die diesbezügliche Evidenz ist unzureichend. Außerdem sind die Methoden und die in Frage kommenden Patienten sehr unterschiedlich [25].

Chirurgisches Debridement (Wundtoilette) [68] und Fusion [10] sind invasiver. Sie scheinen aber bei Patienten mit bestätigten SIG-Schmerzen, die auf konservativere Interventionen nicht ansprechen, Schmerzen zu reduzieren und die Funktion zu verbessern.



Wo stehen wir und wie kann es weitergehen?

Dieser Artikel ist kein systematischer Review der bestehenden Fachliteratur, sondern repräsentiert die Sichtweise des Autors. Viele Jahre der klinischen Praxis sowie kritische und reflektierende Lektüre der Fachliteratur bildeten meine Meinung. Diese Sichtweise ist möglicherweise unvollständig, und viele Leser werden nicht mit allen Schlussfolgerungen einverstanden sein. Ich versuche, eine Synthese aus der umfangreichen medizinischen Fachliteratur zu entwickeln, in der es mindestens vier wesentliche Denkrichtungen gibt:

  • Chirurgie: Diejenigen, die das SIG in der klinischen Praxis für irrelevant bzw. nur in Ausnahmefällen für relevant halten. Kliniker mit chirurgischem Hintergrund dominieren diese Gruppe. Sie bieten hauptsächlich chirurgische Lösungen für klinische Frage an.

  • Schmerzmedizin: Diejenigen, die die klinische Untersuchung für völlig oder weitgehend nutzlos halten und nur den Referenzstandard der Diagnose gelten lassen, also kontrollierte intraartikuläre anästhetische Injektionen. Kliniker mit schmerzmedizinischem Hintergrund bilden diese Gruppe. Im Allgemeinen akzeptieren sie zwar das SIG als signifikante Quelle von Rücken- und ausstrahlenden Schmerzen, betrachten aber nur Injektionen und Neurotomie (operative Durchtrennung eines Nervs) als geeignete Behandlungsmethoden.

  • Manuelle Therapie u. a.: Diejenigen, die die strukturellen und biomechanischen Aspekte des SIG und der Wirbelsäule als Schlüsselfaktoren von Rückenschmerzen im Allgemeinen und SIG-Schmerzen im Besonderen betrachten. Sie kommen zum größten Teil aus der Physiotherapie, Chiropraktik, Osteopathie oder der manuellen Medizin.

  • Evidenzgeführte Manuelle Therapie: Diejenigen, die akzeptieren, dass das SIG bei Patienten mit Rückenschmerzen selten die Schmerzquelle ist, aber bei schwangerschaftsbedingten Rückenschmerzen sehr oft. Zu dieser Gruppe gehöre auch ich. Obwohl Stabilisationsübungen ein therapeutisches Potenzial haben, das Physiotherapeuten nutzen können, erfordern die meisten Fälle invasivere Verfahren, wie intraartikuläre Kortikosteroid-Injektionen oder Radiofrequenz-Neurotomie. Sehr schwere hartnäckige Fälle erfordern sogar chirurgische Eingriffe.

Weitere Forschungsarbeiten sind notwendig

Ein Ziel dieses Artikels ist, die zukünftige Forschung in die Bereiche mit den größten Fortschrittspotenzialen zu lenken. Strukturelle und biomechanische Anomalien kennzeichnen Patienten mit Rückenschmerzen. Das Fokussieren auf diese Aspekte erfordert Testverfahren, deren Reliabilität und Validität problematisch sind. Fokussieren Therapeuten sich dagegen auf die Schmerzen und Beeinträchtigungen/Behinderungen, können sie die Testverfahren direkt bei ihren Patienten anwenden. Denn die mit dieser Perspektive assoziierten Tests sind ausreichend reliabel und valide.


Konkreter Forschungsbedarf

Studien mit Patienten mit gesicherten SIG-Schmerzen, in denen die Forscher die Effektivität, Effizienz und den therapeutischen Wert der Behandlungsmethoden untersuchten, liegen gegenwärtig nicht vor. Im Idealfall bestätigen bei einer solchen Studienkohorte vergleichbare oder plazebo-kontrollierte SIG-Blockaden unter fluoroskopischer Kontrolle die SIG-Schmerzen der Patienten. In einer derartigen Studie geht es nicht um Schmerzen, die von den extraartikulären und für injizierte lokale Anästhetika unerreichbaren SIG-Bändern ausgehen. Diese Studie wäre der erste Schritt, um Behandlungsmethoden für intraartikuläre SIG-Schmerzen zu identifizieren. Untersucher sollten sich darüber im Klaren sein, dass intraartikuläre SIG-Schmerzen keine homogene Untergruppe der Kreuzschmerzen sind. Für viele Patienten mit SIG-Schmerzen sind Stabilisationsübungen adäquat, für manche richtungsabhängige schmerzspezifische Übungen [71] oder intraartikuläre Kortikosteroid- oder Phenol-Injektionen und für wieder andere eignen sich Behandlungsmethoden wie Manipulation oder Prolotherapie [24], [25], [69]. Nur wenige Patienten benötigen eine chirurgische Fusion [68].


Stabilisationsübungen und Steroidinjektionen in einer Studie kombinieren

Die Behandlungsmethoden mit dem größten Potenzial, um Schmerzen und Behinderungen zu reduzieren, sind meiner Meinung nach: die Stabilität im Lenden-Becken-Bereich verbessernde Übungen und intraartikuläre Steroidinjektionen. Forscher könnten diese Behandlungsmethoden zwar einzeln untersuchen, beide in einer umfassenden Studie zu integrieren, wäre jedoch besser. In der Studie sollte die Behandlung mit Stabilisationsübungen beginnen. Anschließend bekommen Patienten ohne zufrieden stellende Ergebnisse Steroidinjektionen. Die Kontrollgruppe der Studie sollte nacheinander zwei andere Behandlungsmethoden erhalten.


Mit dem CR-Modell SIG geeignete Probanden identifizieren

Ein brauchbares und realisierbares Studienprotokoll nutzt die Tatsache, dass inzwischen ein CR-Modell für das SIG existiert, mit dessen Hilfe die Forscher eine bestimmte Patientenuntergruppe identifizieren können. Nämlich diejenigen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit an SIG-Schmerzen leiden. Ausgehend von den aktuellen Daten genügen 70–80 % einer normalen heterogenen Population mit Kreuzschmerzen, die den Anforderungen des CR-Modells für das SIG entsprechen, auch einem Referenzstandard für die Diagnose von SIG-Schmerzen. Wendet man dasselbe CR-Modell auf eine Kohorte von Frauen mit schwangerschaftsbedingten BGS an, wäre der Prozentsatz wahrscheinlich noch höher. Berechnet man die Wahrscheinlichkeit nach dem Test anhand der Daten von Gutke et al. [61], [88], ergibt sich eine 89 %ige Wahrscheinlichkeit (95 % KI 83–93 %), dass diejenigen, die dem Modell entsprechen, an SIG-Schmerzen leiden.

Auch wenn es in einer solchen Kohorte immer noch Fälle gäbe, bei denen die Schmerzen von anderen Strukturen als den intraartikulären Strukturen des SIG ausgehen, scheint es doch äußerst wahrscheinlich, dass die Forscher unterschiedliche Ergebnisse zwischen den Behandlungsmethoden identifizieren würden – immer vorausgesetzt, dass es effektive Behandlungsmethoden für SIG-Schmerzen gibt. Meiner Meinung nach sind die Stabilität verbessernde Übungen im Lenden-Becken-Bereich und intraartikuläre Steroidinjektionen die Behandlungsmethoden mit dem größten Potenzial, um Schmerzen und Beeinträchtigungen/Behinderungen zu reduzieren.


Manipulative Techniken beruhen auf rationalistischen Konzepten

Kliniker, die immer noch meinen, dass sie hypothetische Bewegungs- und Positionsanomalien durch Palpation diagnostizieren können und dass nur manipulative Therapien die Symptome verbessern, haben den Anschluss an die zeitgenössischen Konzepte verloren.

Das mag sehr barsch klingen, aber an dieser Schlussfolgerung kommt man einfach nicht vorbei. Viele manipulative Therapeuten unterschiedlicher Fachrichtungen entwickelten umfangreiche und komplizierte konzeptuelle Konstrukte, die auf detaillierten biomechanischen Analysen basieren [16], [35], [57]. Diese rationalistischen Konstruktionen sind jedoch reine „Luftschlösser“. Fakten und Evidenz widerlegen sie. Wenn der wissenschaftliche Ansatz zur Behandlung von Patienten mit Rückenschmerzen sich fortschrittlich weiterentwickeln soll, müssen wir diese Konzepte aufgegeben.


Wie können überzeugte Manualtherapeuten dieses Dilemma lösen?

Ich verstehe dieses Dilemma sehr gut. Als meine Ko-Autoren und ich mit der Arbeit an unserer ursprünglichen Validitätsstudie begannen, stand die damals aktuelle Evidenz ganz klar im Widerspruch zu der Hypothese, dass Therapeuten SIG-Schmerzen mit klinischen Mitteln diagnostizieren können. Wir zogen daher sogar in Betracht, unseren Versuch aufzugeben. Aber die vielen methodischen Fehler in den veröffentlichten Daten ermutigten uns weiterzumachen. Wer immer noch überzeugt ist von Palpationstests und Manipulation für die Behandlung von mit dem SIG assoziierten Schmerzen, dem rate ich:

  • Identifizieren Sie zuerst die Tests, deren Intertester-Reliabilität ausreichend ist.

  • Weisen Sie anschließend nach, dass die Fehlstellungen oder Bewegungsanomalien, die Sie wahrzunehmen glauben, in Bezug auf einen realistischen Referenzstandard diagnostisch valide sind.

  • Falls Sie eine solche Validität nachweisen, prüfen Sie die Tests in einer Studie mit Rückenschmerzpatienten, um festzustellen, ob die Positions- und Bewegungsanomalien tatsächlich existieren.

  • Anschließend müssen Sie nachweisen, dass Ihre Behandlungen wirklich die Anomalien wie vorhergesagt verändern. Erst dann wäre die Annahme gerechtfertigt, dass es eine Untergruppe von Patienten mit Kreuzschmerzen gibt, bei denen Manipulationen, die den biomechanischen Status des SIG verändern, tatsächlich Schmerzen und Beeinträchtigungen/Behinderungen verringern.

Das ist eine große Herausforderung, deren Bewältigung ich bezweifle. Hier gilt ein althergebrachtes Prinzip: Die Beweislast liegt bei denen, die behaupten, die aktuelle Evidenz sei falsch, fehlerhaft oder in entscheidenden Punkten unvollständig.


Zusammenfassung und klinische Implikationen

Schmerzprovokationstests für das SIG sind nur zuverlässig, wenn Therapeuten sie sehr standardisiert durchführen, und wenn sie genug Kraft ausüben, um das SIG zu belasten. In Relation zu einem ausreichenden Referenzstandard (fluoroskopisch kontrollierte intraartikuläre Injektion eines lokalen Anästhetikums) haben diese Tests eine gewisse Validität. Die Validität ist noch größer, wenn der Untersucher nur die Testergebnisse der Patienten interpretiert, bei denen er eindeutig eine andere Schmerzquelle ausschließen kann (z. B. diskogene Schmerzen). Da das McKenzie-Evaluationssystem einen signifikanten Prozentsatz der Rückenschmerzpatienten mit diskogenen Schmerzen indentifiziert, können Therapeuten das Clinical-Reasoning-Modell für das SIG problemlos auf sehr viele Patienten mit Rückenschmerzen anwenden. Die Regel lautet:

  • Drei oder mehr Provokationstests lösen die dem Patienten vertrauten Schmerzen aus.

  • Bei einer McKenzie-Evaluation mit wiederholten Bewegungen/gehaltenen Körperpositionen findet keine Schmerzzentralisation statt.

Hinweis

Sakroiliakalgelenk (SIG) oder Iliosakralgelenk (ISG)?

Patienten mit Kreuzschmerzen, die dieser Vorhersageregel entsprechen, leiden mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 70 % an SIG-Schmerzen. Bei Frauen mit schwangerschaftsbedingten BGS beträgt die Wahrscheinlichkeit fast 90 %. Das Clinical-Reasoning-Modell für das SIG ist ein praktisches und leicht anzuwendendes Auswahlkriterium für zukünftige randomisierte kontrollierte Studien zur Untersuchung potenziell wertvoller Behandlungsmethoden für Patienten mit SIG-Schmerzen. Die Behandlungsmethoden mit dem größten Potenzial für eine erfolgreiche Behandlung intraartikulärer SIG-Schmerzen sind Übungsprogramme zur Stabilisierung des Lenden-Becken-Mechanismus und fluoroskopisch kontrollierte intraartikuläre Kortikosteroidinjektionen.

weitere Infos

Glossar

Reliabilität: Maß für die Zuverlässigkeit einer (wissenschaftlichen) standardisierten Untersuchung bzw. eines Tests. Ein Verfahren ist zuverlässig, wenn es das zu ermittelnde Merkmal exakt erfasst, d. h. wenn der Untersucher das Verfahren erneut einsetzt, kommt er zum gleichen Ergebnis.

Intratester-Reliabilität: Ein Untersucher kommt zum gleichen Ergebnis, wenn er das Untersuchungsverfahren mehrmals hintereinander einsetzt.

Intertester-Reliabilität: Mehrere Untersucher kommen unabhängig zum gleichen Ergebnis, wenn sie das gleiche Untersuchungsverfahren einsetzen.

Sensitivität: Empfindlichkeit eines Tests; Anteil der durch den Test korrekt positiv identifizierten Personen im Verhältnis zur Gesamtzahl der untersuchten Probanden.

Spezifität: Anteil der durch den Test korrekt negativ identifizierten Personen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Probanden.

Validität: Gültigkeit; Grad der Genauigkeit, mit der ein standardisiertes Untersuchungsverfahren das misst, was es zu messen vorgibt. Um die Validität zu beurteilen, nutzt man > Spezifität und > Sensitivität.





Korrespondenzadresse
Mark Laslett


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Abb. 1 a u. b Drop-Test für das rechte SIG. a Der Patient hebt beide Fersen vom Boden ab und übernimmt das Körpergewicht fast komplett auf das rechte Bein. b Dann lässt er die Ferse ruckartig auf den Boden zurückfallen. Dabei bleibt das rechte Kniegelenk extendiert. Der Test bewirkt eine kranial gerichtete Scherkraft im rechten SIG.
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Abb. 2 Fagan-Nomogramm, gewonnen aus Daten von Laslett et al. [87] (N = 43; Wahrscheinlichkeit vorher [Odds]: 26 % bzw. 0,3). Positiver Test: Positive Likelihood Ratio (LR): 4,16, 95 %-Konfidenzintervall [2,10, 8,21]; Wahrscheinlichkeit nachher (Odds): 59 % (1,4), 95 %-Konfidenzintervall: [42 %, 74 %]. Negativer Test: Positive LR: 0,12, 95 %-Konfidenzintervall: [0,02, 0,76]; Wahrscheinlichkeit nachher (Odds): 4 % (1,4), 95 %-Konfidenzintervall: [1 %, 21 %]. Odds =Wahrscheinlichkeit/(1-Wahrscheinlichkeit) +LR = Sensitivität/(1-Spezifizität) –LR = (1-Sensitivität)/Spezifizität Odds nachher = Odds vorher x LR).
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Abb. 3 Fagan-Nomogramm, gewonnen aus Daten von Laslett et al. [87] (N=34; Wahrscheinlichkeit vorher [Odds]: 26 % bzw. 0, 5). Positiver Test: Positive Likelihood Ratio (LR): 6,97, 95 %-Konfidenzintervall [2,39, 20]; Wahrscheinlichkeit nachher (Odds): 77 % (3,3), 95 %-Konfidenzintervall: [53 %, 91 %]. Negativer Test: Negative LR: 0,10, 95 %- Konfidenzintervall: [0,02, 0,68]; Wahrscheinlichkeit nachher (Odds): 5 % (0,0), 95 %-Konfidenzintervall: [1 %, 25 %]. Odds = Wahrscheinlichkeit/(1-Wahrscheinlichkeit) +LR = Sensitivität/(1-Spezifizität) –LR = (1-Sensitivität)/Spezifizität Odds nachher = Odds vorher x LR).