Psychiatr Prax 2012; 39(06): 261-262
DOI: 10.1055/s-0032-1305093
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Persönlichkeitsstörungen sind emotionale Teilleistungsstörungen – Pro & Kontra

Personality Disorders are Emotional Disorders – Pro & Contra
Sven Barnow
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Sven Barnow
Psychologisches Institut der Universität Heidelberg
Hauptstraße 47–51
69117 Heidelberg

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Publication Date:
27 August 2012 (online)

 

Kontra

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Prof. Dr. Sven Barnow

Linden u. Mitarb. gehen in ihrem dimensionalen Modell zur Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen (PS) davon aus, dass eine Teilleistungsstörung des Emotionssystems, die früh erworben wurde bzw. auch genetisch bedingt sein kann, psychische Störungen und speziell die Entwicklung von PS begünstigen [1] [2]. Deutlich würde dies durch die Interaktionsprobleme, speziell jedoch durch den unmittelbaren Eindruck („first impression“) „als eigenartig oder unangemessen“, den solche Personen bei ihren Interaktionspartnern auslösen. Linden versteht diese Defizite als unmittelbare Folge einer emotionalen Teilleistungsstörung. Dabei wird postuliert, dass die Störung der Affektregulation primär ist. Erst daraus resultieren (sekundär) Probleme in der affektiven Kommunikation und Interaktion. Tertiär werden schließlich kognitive Schemata herausgebildet (wie bspw. die von Beck [3] postulierten Grundannahmen „ich bin wertlos“, „ich bin nicht liebenswert“), die letztendlich (quaternär) allgemeine Anpassungsprobleme (Psychopathologie) nach sich ziehen. Dieses Stufenmodell geht also anders als viele kognitive Ansätze von einem Primat der Emotion aus. Ich begrüße diesen Ansatz zutiefst, denn momentan werden Konzepte favorisiert, die von einer durchgehenden Emotionskontrolle ausgehen und der Kognition die entscheidende Bedeutung für zielorientiertes Handeln und seelische Gesundheit beimessen. Dabei werden kognitive Faktoren oft überbewertet und emotionale Dimensionen erscheinen als randständig.

Mein Hauptkritikpunkt bezieht sich eher darauf, dass Linden u. Mitarb. wenig konkret beschreiben, was sie genau unter einer emotionalen Teilleistungsstörung verstehen. Handelt es sich dabei um Störungen der Generierung von Emotionen?; der tatsächlichen oder erlebten Intensität von Basisemotionen?; oder willkürlichen bzw. unwillkürlichen Regulation von Emotionen? Wo sollen sich diese minimalen Verarbeitungsdefizite im Gehirn genau manifestieren: in Regionen des Präfrontalen Kortex (PFC)? oder eher in subkortikalen Strukturen, die für die Bottom-up-Generierung von Emotionen zuständig sein sollen (u. a. Amygdala, Übersicht s. [4]). Im ersteren Falle hätten wir es primär mit kognitiven Störungen zu tun (damit wäre der Ansatz eigentlich auch ein „kognitiver“), im letzteren mit einer Störung subkortikaler Strukturen, die eher mit der Generierung und Konditionierung von emotionalen Prozessen in Verbindung gebracht werden.

Mein zweiter Kritikpunkt bezieht sich auf die Kausalitätsvermutung, die explizit im Modell vorgenommen wird. Linden et al. [1] [2] postulieren dabei ein Entwicklungsmodell, in dem bestimmte Entwicklungsstufen nacheinander angeordnet werden. Dieser deterministische Ansatz ist empirisch kaum zu belegen und auch schwer zu untersuchen. Es ist wenig wahrscheinlich, dass sich emotionale, kognitive und interaktionale Probleme überhaupt eindeutig voneinander abgrenzen lassen. Das Theoriekonzept beruht auch eher auf Beobachtungen aus dem klinischen Alltag, nach denen Personen mit PS oft schon in der „first impression“ problematisch wirken (s. o.). Die Autoren werten dies als Beleg für die Theorie der primär emotionalen Störung, ohne jedoch einen überzeugenden experimentell überprüfbaren Ansatz darzustellen, der die einzelnen Entwicklungsstufen nachvollziehbar macht.

Drittens bleibt es unklar, welche Vorhersagen das Modell genau tätigt, wie es sich falsifizieren lässt und welche Alternativhypothesen das „First-impression“-Phänomen ebenso plausibel erklären könnten. Zum Beispiel: Was während einer kurz andauernden Interaktionssituation wahrgenommen und gefühlt wird, sind möglicherweise eher die Interaktionsbesonderheiten und die sozialen Defizite von Personen mit PS. Solche Defizite oder Abweichungen im Interaktionsverhalten werden offensichtlich sofort vom Gegenüber dechiffriert und lösen Befremden, oftmals auch komplementäre Emotionen aus. In einer bisher noch nicht veröffentlichten Studie unserer Arbeitsgruppe ließen wir bspw. Personen einen (genormten) Wetterbericht vorlesen. Vier dieser Personen hatten eine PS (narzisstisch, histrionisch, antisozial, selbstunsicher), 8 keine Störung. Die Ergebnisse zeigen, dass Probanden, die diese etwa 20 s andauernden Filmsequenzen sahen und die jeweiligen „Vorleser“ bewerteten, Personen mit PS signifikant häufiger als „psychisch gestört“ einschätzten im Vergleich zu den gesunden Filmpersonen. Besonders interessant war jedoch der Befund, nachdem die jeweiligen PS komplementäre Emotionen bei den Betrachtern signifikant häufiger auslösten (histrionisch: die Beobachter fühlten sich eher sexuell erregt, bei gleichzeitiger Aversion gegenüber der Filmperson; selbstunsicher: diese Filmperson löste hingegen stärker Gefühle wie Mitleid, Sympathie und Fürsorge aus [immer im Vergleich zu den berichteten Emotionen bei den Filmpersonen ohne psychische Störung]).

Diese Befunde stützen zwar den klinischen Eindruck wie von Linden angenommen, was sie aber genau bedeuten, lässt sich nicht eindeutig ableiten. Sie verdeutlichen jedoch eine gewisse Funktionalität von Persönlichkeitsstörungsmustern, wenn beispielsweise die selbstunsichere PS beim gegenüber Nachsicht und Fürsorge induziert, selbst in einer normierten, eher neutralen Situation. In einer weiteren Studie gingen wir genau andersherum vor: Diesmal zeigten wir Patienten mit Borderline-PS, depressiven Patienten ohne PS und gesunden Kontrollen mehrere 10 s andauernde Filmclips, in denen zu sehen war, wie eine Person (psychisch gesunde Studentinnen oder Studenten) einen Raum betrat und sich wortlos setzte. Diesmal mussten die Probanden die jeweils gezeigten Filmpersonen so schnell wie möglich auf verschiedenen Persönlichkeitsdimensionen bewerten (z. B. freundlich, brutal, aggressiv usw.). Hierbei zeigte sich, dass Borderline-Patienten, sowohl im Vergleich zu den gesunden als auch zu den depressiven Probanden, die Filmpersonen als signifikant aggressiver und brutaler bewerteten [5]. Diese Befunde sind konsistent mit den Annahmen der kognitiven Theorie der PS von Beck, denn dieser geht davon aus, dass bedingt durch die Grundannahmen von Borderline-Patienten (u. a. „die Welt und andere sind feindselig“ und „ich bin vulnerabel und verletzlich“) diese anderen Personen spontan als gefährlicher und bedrohlicher einschätzen.

Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Die Theorie einer primären emotionalen Teilleistungsstörung bei Personen mit PS ist interessant, muss aber konkretisiert werden. Außerdem mangelt es bisher an einer nachvollziehbaren Operationalisierung und damit Messmöglichkeit von emotionalen Teilleistungsstörungen. Auch fehlen Belege für das vorgeschlagene Entwicklungsmodell; hierzu wären längsschnittliche Studien notwendig. Linden stößt mit seinem Modell jedoch eine hilfreiche Debatte an, indem er viel stärker auf die Bedeutung emotionaler Prozesse bei PS abhebt.

Mein Beitrag ist also nicht direkt als Kontraschrift zu werten. Vielmehr möchte ich weitere Forschung stimulieren und eine Konkretisierung des theoretischen Modells anregen. Meine eigenen Vorstellungen beinhalten einen dimensionalen Ansatz, der stärker Aspekte der Emotionsregulation berücksichtigt (Review s. [6]). Hierbei gehe ich von einem kontinuierlichen Zusammenspiel von Kognition und Emotion aus, wobei jedoch zentral gedächtnispsychologische Befunde berücksichtigt werden. In Anlehnung an Ideen der 2-System-Modelle, wie sie u. a. von Kahnemann [7] beschrieben worden sind, gehe ich davon aus, dass sich ein implizites System von einem expliziten, eher kognitiven System unterscheiden lässt, wobei beide Systeme zusammenwirken und sich mehr oder weniger gegenseitig beeinflussen. Während das (sehr schnelle) implizite System assoziativ arbeitet und Aspekte des impliziten Gedächtnisses repräsentiert (also u. a. unbewusste Schemata), ist das kognitive System an den expliziten Gedächtnisinhalten orientiert und arbeitet deutlich langsamer (Wissen, Fakten, höherer kognitiver Load). Ich vermute nun, dass die von Linden beschriebenen Besonderheiten der „First impression“ bei PS eher dem impliziten System anzulasten sind (ich nenne es bewusst NICHT affektives oder impulsives System). Emotionale und Verhaltenstendenzen werden in kürzester Zeit (oft in weniger als einer Sekunde) auf Grundlage assoziativ nahestehender Informationen ausgelöst. Das oft Irritierende in der „first impression“ bei Personen mit PS ließe sich damit dadurch erklären, dass diese so reagieren wie sie es hoch automatisiert in den meisten Situationen gelernt und im impliziten Gedächtnis abgespeichert haben, wobei keine Kontrolle durch das langsamere kognitive System erfolgt, welches demzufolge für die „first impression“ weniger relevant ist.

Dies hat bedeutsame Implikationen: Ich unterscheide also nicht mehr zwischen Emotion versus Kognition, sondern stattdessen zwischen verschiedenen Verarbeitungssystemen (Gedächtnisstrukturen) im Gehirn. Psychische Störungen sind damit Störungen des impliziten oder des explizit-kognitiven Systems bzw. deren Zusammenwirkens. Personen mit PS müssen also weder emotionale Teilleistungsstörungen aufweisen, noch exekutive Einbußen zeigen, sondern sind meiner Auffassung nach eher durch Störungen einzelner Verarbeitungssysteme und der unzureichenden Integration unterschiedlicher Situationen gekennzeichnet, was dann zu emotionalen und kognitiven Besonderheiten führt, die stabil und überdauernd sind.


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  • Literatur

  • 1 Linden M. Minimal emotional dysfunctions (MED) in personality disorders. Eur Psychiatry 2006; 21: 325-332
  • 2 Linden M. Persönlichkeitsstörungen. In: Barnow S, Freyberger HJ, Linden M, et al., Hrsg. Von Angst bis Zwang. Bern, New York: Huber Verlag; 2007: 176-189
  • 3 Beck AT, Butler AC, Brown GK et al. Dysfunctional beliefs discriminate personality disorders. Behav Res Ther 2001; 39: 1213-1225
  • 4 Wager TD, Davidson ML, Hughes BL et al. Prefrontal-subcortical pathways mediating successful emotion regulation. Neuron 2008; 59: 1037-1050
  • 5 Barnow S, Stopsack M, Grabe HJ et al. Interpersonal evaluation bias in borderline personality disorder. Behav Res Ther 2009; 47: 359-365
  • 6 Barnow S. Emotionsregulation und Psychopathologie: Ein Überblick. Psychologische Rundschau 2012; 63: 11-24
  • 7 Kahnemann D. Thinking: Fast and slow. New York: Farrar, Straus and Giroux; 2012

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Prof. Dr. Sven Barnow
Psychologisches Institut der Universität Heidelberg
Hauptstraße 47–51
69117 Heidelberg

  • Literatur

  • 1 Linden M. Minimal emotional dysfunctions (MED) in personality disorders. Eur Psychiatry 2006; 21: 325-332
  • 2 Linden M. Persönlichkeitsstörungen. In: Barnow S, Freyberger HJ, Linden M, et al., Hrsg. Von Angst bis Zwang. Bern, New York: Huber Verlag; 2007: 176-189
  • 3 Beck AT, Butler AC, Brown GK et al. Dysfunctional beliefs discriminate personality disorders. Behav Res Ther 2001; 39: 1213-1225
  • 4 Wager TD, Davidson ML, Hughes BL et al. Prefrontal-subcortical pathways mediating successful emotion regulation. Neuron 2008; 59: 1037-1050
  • 5 Barnow S, Stopsack M, Grabe HJ et al. Interpersonal evaluation bias in borderline personality disorder. Behav Res Ther 2009; 47: 359-365
  • 6 Barnow S. Emotionsregulation und Psychopathologie: Ein Überblick. Psychologische Rundschau 2012; 63: 11-24
  • 7 Kahnemann D. Thinking: Fast and slow. New York: Farrar, Straus and Giroux; 2012

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