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DOI: 10.1055/s-0032-1305967
Erinnerungsarbeit
Publication History
Publication Date:
09 March 2012 (online)
- Gibt es eine passende Form des Gedenkens?
- Gibt es einen passenden Ort des Gedenkens?
- Gibt es eine passende Zeit des Gedenkens?
- Literatur
Am Ende der großen Ferien, auf dem Heimweg aus dem Allgäu nach Stuttgart, machten wir in Dachau Halt. Ich war vielleicht 10 oder 11 Jahre alt. Die Beklemmung von damals trage ich mit mir. Es kommt vor, dass sie sich lange Zeit nicht meldet und ebenso, dass sie mich plötzlich überkommt. Lehrer und Verwandte erklärten unisono, das sei nichts für Kinder in diesem Alter.
Gibt es eine passende Form des Gedenkens?
Die Historikerin Carola Sachse führte anlässlich der Gedenkfeier im November 2010 für die während der NS-Zeit ermordeten psychisch Kranken in Deutschland aus, dass es womöglich keine passende Form des Gedenkens gebe. Die Nachkommen der Täter sind nicht schuldig und können sich doch der Verantwortung nicht ganz entziehen. Das Gedenken ohne Entschuldigung weckt den Verdacht, die Schwere des Verbrechens nicht ernst zu nehmen. Allerdings – so eine Antwort jüdischer KZ-Überlebender – könne die Bitte um Verzeihung nicht angenommen werden: Zum einen sei wirkliche Ent-Schuldung nicht möglich. Zum anderen berge Verzeihung die Gefahr in sich zum Vergessen beizutragen.
Meine Beklemmung aus Dachau war nicht die erste. Anfang der 60er-Jahre während der Familienferien in Holland fiel mir auf, dass Menschen vor uns zurückwichen oder Fragen nicht beantworteten und sich abwandten. Beim Versuch der Erklärung, habe ich meine Eltern zum ersten Mal ratlos gesehen. Warum hat es so etwas in Deutschland gegeben, wie war das möglich, warum hat niemand dem Einhalt geboten, wie können Menschen das tun, habe ich meine Eltern gefragt. Sie haben erzählt von der Bedrängung in ihrer Schulzeit und Adoleszenz, von der Rolle der Großeltern, von Verwandten, von Widerstandskämpfern, z. B. den Stauffenbergs, Bonhoeffer…Sie schenkten mir das Tagebuch der Anne Frank. Später las ich von der Vernichtung der Juden, Browns "ganz normalen Männern" und nach Beginn der psychiatrischenTätigkeit über die Psychiatrie im Ersten und Zweiten Weltkrieg, die "Maschinengewehre hinter der Front", das "Überlebendensyndrom", die "Psychiatrie der Verfolgten"; "auf dem Dienstweg", "Hungersterben"… Erst als Frank Schneider am 26.11.2010 anlässlich des DGPPN-Kongresses die Gedenkfeier unter dem Titel "Erinnerung und Verantwortung" eröffnete, begriff ich, dass sich unsere Fachgesellschaft bis dahin nicht geäußert hat. Wie konnte es sein, dass ich darüber nicht nachgedacht hatte?
Mit guten Kollegen zusammen suchte ich schon früh im noch leeren großen Saal des Kongresszentrums einen Platz. Jeder hing seinen Gedanken nach. Mein persönliches Kongressprogramm hatte ich mir erst wenige Tage vor Abflug zusammengestellt. Hatte ich die Wahl meiner Reiselektüre tatsächlich ohne Kenntnis des Tagungsprogramms getroffen? Am 30.10.2010 war Harry Mulisch verstorben. Ich hatte nicht viel von ihm gelesen, einiges zwiespältig begonnen und wieder beiseitegelegt. Die FAZ beschrieb am 1.11.2010 sein Ringen darum "…die nationalsozialistischen Schrecken zu ergründen". Sie zogen sich mitten durch sein Leben als Sohn eines österreichischen Offiziers aus dem Ersten Weltkrieg, eines Nazikollaborateurs, der mit der Arisierung jüdischer Vermögen befasst war und einer jüdischen Bankierstochter aus Antwerpen bzw. Frankfurt [ 1 ]. Was ich nicht wusste, war, dass Mulisch 1961 als Journalist am Prozess gegen Eichmann teilgenommen und seine Reportagen auch als Buch publiziert hatte – die "Strafsache 40/61" [ 2 ].
Ich hatte nach einer Ausgabe gesucht und feststellen müssen, dass keine lieferbar war. Die letzte war seit Jahren vergriffen trotz horrender Auflagen seiner anderen Bücher. Die bestellte Fernleihe-Ausgabe war am Vortag des Flugs nach Berlin eingetroffen. Der Text war zügig geschrieben, in der Atmosphäre des Jerusalemer Prozesses entstanden. Ich war mit Mulisch aufgebrochen, in den Zug gestiegen, hatte mit ihm Schlange am Check-in gestanden, an der Passkontrolle und war gefangen, bis die Flugbegleitung Getränke anbot. Nicht die Flugetappen, sondern die geschilderten Grausamkeiten waren es, die mich zu Unterbrechungen meiner Lektüre gezwungen hatten.
Im Saal wurde es dunkel. An zwei kleinen Tischen begannen Simone Schatz und Peter Veit auf der großen Bühne zu lesen – aus persönlichen Bittbriefen und Fragen nach dem Verbleib von kranken Angehörigen. Sigrid Falkenstein erzählte von der Spurensuche nach ihrer Tante, mit der ihr Vater zunächst große Mühe hatte. Die beharrliche Spurensuche und Erinnerungsarbeit seiner Tochter aber konnte verdrängte Schuldgefühle lösen und Trauer ermöglichen [ 3 ], [ 4 ]. Anfängliche vereinzelte Recherchen nach psychisch kranken Familienangehörigen sind in den vergangenen Jahren so zahlreich geworden, dass sie nicht mehr zu überhören sind. Das persönliche Schicksal psychisch Kranker, das in ihre Ermordung mündete, ist Teil vieler deutscher Familiengeschichten, nicht nur der NS-Geschichte. Bereits am Morgen hatte ich an einem Symposium zur Geschichte der Psychiatrie in der NS-Zeit teilgenommen. Diskutanten hatten Fragen nach dem Verhalten der Ärzte gestellt.
Volker Roelckes Antwort war unmissverständlich: Nicht Zwang hatte Ärzte zu Zudienern der Aktion T4 gemacht, sondern vorauseilender Gehorsam und die Sorge um ihr finanzielles Auskommen.
Dawar sie wieder, die Banalität des Bösen. Es ist leichter ihr zu widersprechen als der alltäglichen Selbstverständlichkeiten verlustig zu gehen – dass Gehorsam verwerflich sein könnte, eine funktionierende Verwaltung, oder dass die Sorge um das finanzielle Auskommen nicht immer eine bürgerliche Tugend ist. Harry Mulisch habe in seinen Reportagen den Eichmann- Prozess besser gedeutet als Hannah Arendt, behauptete Dirk Schümer in seinem Nachruf. "Mit der profunden Weisheit der eigenen Familienschizophrenie und am Ende in einer Berliner Abbruchvilla an Eichmanns Schreibtisch sitzend, gelingt es Mulisch, die unterwürfig-perfide Mentalität seines Objekts so eiskalt zu umreißen und in die Bürokratie des Bösen einzupassen, dass man grausam versteht, wie das alles funktionieren konnte" [ 1 ].
Mulisch zeichnet Eichmann als Maschinenmenschen, weshalb er als Buchtitel die Nummer der Strafakte passend fand, die "Strafsache 40/61". Ich habe sie am Abend nach der Gedenkveranstaltung – am dritten Kongresstag – zu Ende gelesen.
Die 14 Reportagen wurden 1961 in "Elseviers Weekblad" publiziert. Für die Buchausgabe [ 2 ] sei nichts im Nachhinein "geradegefeilt" worden, teilt Mulisch im Vorwort mit, nur in den zwei Jerusalemer Tagebüchern einigeNachlässigkeitenverbessert. Es sind Momentaufnahmen, die viel von der Atmosphäre dieser Monate zwischen April und August 1961 einfangen. Sie werden ergänzt durch Reiseberichte – aus Berlin im Mai 1961 und bereits 1956, in die Wilhelmstraße 102, die Prinz-Albrecht-Straße, nach Wannsee und in die Kurfürstenstraße 116 – an den Arbeitsplatz Eichmanns. Die nahm man ihm übel, verglich sie mit einer Pilgerfahrt [2:160].
Buchenwald hatte Mulisch ebenfalls 1956 aufgesucht, Warschau und Auschwitz-Oswiezim im September 1961. Da war Eichmann bereits hingerichtet. Was tut Mulisch, frage ich mich. Er setzt Eichmann 1961 in Bezug zu ganz unterschiedlichen Dingen. Er zeichnet Kontraste, die das Unbegreifliche von Eichmanns Person und seinen Taten Konturen geben. Er stellt seine Taten und seine Person der Tatsache des Schädel-Hirn-Traumas im Alter von 26 Jahren gegenüber, seiner Biografie, der Nazi-Hierarchie, dem Jerusalemer Alltag 1961, dem sprühenden Leben des jungen Staates, dem Judentum und Eichmanns
Faszination und intensiver Beschäftigung mit dem Judentum, dem Leben in Warschau und Auschwitz nach 1945 und Mulischs eigenem Denken und Empfinden: "…der Fall Eichmann hat mehr mit mir zu tun, als ich es selber weiß" [2:163]. Sein Ziel ist es nicht, eine Erklärung zu liefern. Eher betont er das Skizzenhafte, seine Sprache des Augenblicks, die es ihm erlaubt, trotz oder gerade auf dem Hintergrund seiner Recherchen die Bilder sprechen zu lassen und ihre Vieldeutigkeit nicht auf eine Perspektive auszurichten: die emotionale Kälte eines Maschinenmenschen steht neben Ängsten, den banalen menschlichen Zügen, der persönlichen Orientierungslosigkeit ohne Ideologie und dem Heischen nach öffentlicher Aufmerksamkeit. "Ichweiß, dass ich mich vage und rätselhaft ausdrücke", erklärt er, "wer sich aber hier deutlicher ausdrückt, betrügt" [2:20]. Vor allem verwahrt sich Mulisch des quasireligiösenTons, indemüber Eichmann gesprochen wurde, als sei das Böse lokalisiertworden. Es komme einem Glauben an den Antichristen gleich, und solche Phantasien bedeuteten einen Betrug, der nicht hingenommen werden dürfe. Mulisch endet mit Eindrücken aus Warschau und Auschwitz. Eichmann sei Geschichte. Menschliche Vernichtung nicht: "Und kein Amerikaner oder Russe wird sich, wenn der Befehl eintrifft, weigern, Bomben in das weiche Fleisch ganzer Völker zu werfen… wenn wir an uns selber denken, so starren wir in eine Kloake…" [2:162].
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Gibt es einen passenden Ort des Gedenkens?
Nach einer unruhigen Nacht brauche ich Luft, eine Atempause. Am Samstagmorgen breche ich nach einem kurzen Frühstück zu Fuß auf, die Friedrichstraße abwärts bis zur Spree, vor dem Bahnhof, das Reichstagsufer entlang am Reichstag vorbei, durchquere das obere Ende des Tiergartens und biege in die nächste Straße ein. Die Aktion T4 hatte so lange abstrakt geklungen, bis ich in der Tiergartenstraße beinahe über den Erinnerungsstein gestolpert wäre. Stehen bleiben, bis die Kälte in die Knochen zieht. Weiter zu Fuß durch den Tiergarten, den ich bei der Budapester Straße verlasse, mich zum Ku’damm wende, in die Fasanenstraße einbiege und im Literaturhaus die Buchhandlung Kohlhaas betrete. Müde gelaufenwerde ich beim Stöbern findig und lasse mich nieder mit dem Ausstellungskatalog zu Nelly Sachs [ 5 ], Mendelsohns Verlorene [ 6 ], Wellershoffs Erfahrbarkeit der Welt [ 7 ]. Ich möchte wissen, ob Schümer recht hat, wenn er meint, Mulisch habe Eichmann als Person eher erfasst als Arendt. Ich finde eine neue Ausgabe, 2010 nachgedruckt [ 8 ]. Soll ich mir für den Rückflug einen Sack voll Bücher aufladen? Ich gehe zur Kasse, die Stufen bis zum Parterre und weiter in den Wintergarten des Literaturcafés.
Auch Arendts Berichte erschienen erstmals 1961 – in 5 Beiträgen des New Yorker, im Mai 1963 erstmals als Buch, deutsch 1964. Auch bei ihr gibt es flüssig zu lesende, zeitnahe Beschreibungen. Sie verfolgt ein anderes Ziel, sie möchte verstehen. Trotz ihrer klaren, flotten Sprache werde ich müde über den vielen, fast endlosen Details dessen, was rund um den Prozess alles nicht rund lief, ja schon vorher bis zur Verhaftung Eichmanns, aber auch bei den Judenräten in der Nazi-Zeit, bei den Allierten, und,während sie im Gerichtssaal sitzt, bei der Vernehmung der Zeugen. Sie hat sich durch die Literatur über die Vernichtung der Juden gearbeitet. Es ist ihr ein Anliegen zu zeigen, warum der Prozess nötig ist weit über die Verurteilung Eichmanns hinaus. Hellwach, aber überbetont sachlich beschreibt sie zwar den Vernichtungsapparat, aber zugleich auch die vielen Unachtsamkeiten, Unbedachtheiten, Versäumnisse, Schlupflöcher, in denen Eichmann Gestaltungsmöglichkeiten fand. Gerade dadurch wird erlebbar, was sie mit der Banalität des Bösen meinte, und was man ihr übel nahm.
Und ob bei ihr Eichmann als Person spürbar, fassbar wird. Hier entsteht keine vorläufige Skizze. Gerade durch diese ihre Darstellung steht zwischen allen Zeilen das Grauen auf, nistet sich in die Kleider ein und fährt unter die Haut. Es schleicht sich aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Das ist keine Bettlektüre. Ich verlasse das Literaturcafé, trottle Richtung Bahnhof Zoo und nehme die S-Bahn bis Friedrichstraße. Reichstag, Tiergartenstraße 4, Präsenz deutscher Geschichte, derjenigen, der ich nachsuche und die, die ich erinnere – Bahnhof Friedrichstraße, Tränenpalast. Um die Ecke weiß ich die ersten Artikel des Grundgesetzes an den Glasstelen die Spree entlang. Anna Lehnkering, die Tante Sigrid Falkensteins, erhielt 2009 einen Stolperstein.
Wie vielen bin ich heute begegnet? Auf dem Fußweg zurück ins Hotel kommen mir die zehn auf einmal in den Sinn, die ich zwei Wochen zuvor in Frankfurt vor einem Haus gesehen habe. Wie viele der ermordeten psychisch Kranken finden sich unter ihnen? Der Schlaf will sich lange nicht einstellen. Am nächsten Morgen im Flieger verdichtet sich die Beklemmung zu einem schmerzenden Kloß im Hals. Mich drückt das Gefühl der Mitverantwortung für etwas, das lange vor meiner Zeit geschehen ist, die Mitverantwortung als Deutsche, als Psychiaterin. Frank Schneider hatte die Präsidenten und Ehrenpräsidenten der DGPPN erwähnt, die an der Euthanasie aktiv beteiligt waren. Manwolle sie nachträglich aus der Gesellschaft ausschließen. Ihre Namen auf der Liste zu löschen, könnte zum Vergessen beitragen, grüble ich. Wie wird der Ausschluss aussehen?
Mulisch warnt vor einer gesellschaftlichen Entwicklung, die Maschinenmenschen befördern würde. Es ist müßig, seinen Maschinenmensch Eichmann gegen Arendts Hinweise auf seine Subalternität auszuspielen. Ihr geht es in erster Linie darum, die Kontinuitäten zwischen alltäglichen Unaufmerksamkeiten, Nachlässigkeiten, Ausnahmen im Kleinen und dem sichtbar zu machen, was sich zum großen Bösen auswächst. Dieses Buch kann ich nur in Etappen lesen. Dazwischen schiebe ich Mendelsohns "Verlorene" [6]. Mendelsohns Großonkel samt seiner Familiewurden ermordet. Er rekonstruiert nicht nur die verlorene Familie. Er erzählt von der jahrzehntelangen Suche und den plötzlichen und unvermittelten Annäherungen, von der Reise nach Bolechow und einer Geschichte vom Brudermord. Seine Suche wird Teil seiner eigenen Biografie. Er lässt Unausgetragenes, Unversöhnliches zwischen Geschwistern neben unvermittelten Bezügen stehen – den Autor und seinen Bruder, den Großvater und seinen Bruder. Ukrainer, Juden und Deutsche erscheinen als Geschwister gegenüber der Unfassbarkeit des Quälens und Auslöschens. Arendt sagt, es gibt Schlimmeres als der Tod.
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Gibt es eine passende Zeit des Gedenkens?
Meine Zeitungslektüre setze ich mit veränderter Aufmerksamkeit fort. Ich finde Nemirovskys "Suite française" [ 9 ] in der NZZ vom 6.12.2010, den Hinweis auf einen weiteren Roman von ihr, der auf Deutsch übersetzt wurde und auf eine Ausstellung in Paris. Im April 2011 folgen die Beiträge in der Tagespresse zum 50. Jährung des Eichmann-Prozesses. Martin Eich kündigt die Publikation der Arbeiten Bettina Stangneths an, die für sich in Anspruch nehme, Eichmanns Rolle bei der Vernichtung des europäischen Judentums einer Neubewertung unterzogen und "seine von Hannah Arendt übernommene Selbststilisierung zum subalternen Bürokraten enttarnt zu haben…" [ 10 ]–[ 12 ]. Die Ermordung der psychisch Kranken, erinnert Mulisch, wurde beendet wegen des Protestes der Kirchen. Den Mord an den Juden hätten die Kirchen bis 1945 schweigend geduldet. Viele psychiatrische Kliniken haben in den letzten Jahrzehnten ihre Geschichte in der NS-Zeit aufgearbeitet, Archive und Gedenkorte errichtet. Das breite, gesellschaftliche Gedenken der ermordeten psychisch Kranken aber beginnt – im Gegensatz zum Gedenken an die Ermordung der Juden – erst jetzt.
Noch hat es seinen festen Platz im kollektiven Gedächtnis nicht gefunden. Und wie wenn diese Erkenntnis nicht nur mit der Scham und der Angst vor Behinderung zu tun hat, sondern mit der tief sitzenden Annahme, die sich die Nazis zu eigen machten, und die ja bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa und USAweitverbreitet war, dass es so etwas gäbe wie lebensunwertes Leben?
Die Lektüren haben mich – in Etappen – ein Jahr lang begleitet. Wieder begebe ich mich zum DGPPN-Kongress nach Berlin und nehme an Symposien zur Geschichte der Psychiatrie in der NS-Zeit teil. Maike Rotzoll berichtet über ihre Forschungen über "Gefährdetes Leben. Anstaltspatienten und ihre Geschichte bis zur Ermordung in der NS-Euthanasie-Aktion T4".
Sie arbeitet die Dokumente auf, die die Patientinnen und Patienten selbst geschrieben, gezeichnet, gemalt oder auf andere Weise produziert haben, um sie als Kontrapunkt den medizinischen Dokumenten gegenüberzustellen [ 13 ]. Psychisch Kranke sind Teil ganz normaler Familien. Die Scham über die Ermordung von Familienangehörigen ist absurd. Weniger absurd ist die Suche nach einem Grund für diese Scham: Sie könnte die Scham über die Nähe zu psychischem Kranksein verbergen. Ich frage mich, ob sie mit der Angst zu tun hat, dass die Diskriminierung die eben nachlässt, vielleicht schon in neuen Startlöchern stehen könnte. Auch wir Psychiaterinnen und Psychiater können für die Erinnerungsarbeit kein passendes Ende finden. Wahrscheinlich müssen wir die Geschichte noch oft von vorn erzählen, wie das jüdische Mädchen im Dachbodenversteck, das die Nazi-Schergen kommen hörte und sich den erwünschten Ausgang phantasierte,während der Großvater mahnte: Du musst die Geschichte noch einmal von vorn erzählen. Vielleicht gibt es tatsächlich keine stimmige Form des Gedenkens, und vielleicht ist es wichtig, dass die Dissonanzen spür- und hörbar bleiben, da jede Erinnerung nur Annäherung sein kann ohne ganz zu erfassen, was geschehen ist und gerade deshalb unabgeschlossen bleibt.
Ulrike Hoffmann-Richter, Luzern
E-Mail: ulrike.hoffmannrichter@suva.ch
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Literatur
- 1 Schürmer D. Der himmlische Puppenspieler. FAZ 01.11.2010; 254: 27
- 2 Mulisch H. Strafsache 40/61. Eine Reportage über den Eichmann-Prozess. nl. 1962, dt. Nürnberg: Tiamat 1963; Berlin: Aufbau, 3. Aufl.; 2002
- 3 Falkenstein S. http://www.sigrid-falkenstein.de/euthanasie/anna.htm Abgriff 11.12.2011
- 4 Falkenstein S. http://webcasts.meta-fusion.com/events/dgppn2010/templ/play.php?id_kongresssession=7 Abgriff 11.12.2011
- 5 Fioretos A. Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin, Stockholm. Berlin: Suhrkamp; 2010
- 6 Mendelsohn D. Die Verlorenen. Köln: Kiepenheuer & Witsch; 2010
- 7 Wellershoff D. Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt. Köln: Kiepenheuer & Witsch; 2010
- 8 Arendt H. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen. München: Piper; 1964. 5. Aufl. 2010
- 9 Nemirovsky I, Suite française. München: Btb 2007 [12] Bahners P. In der Sache Adolf Eichmann. FAZ 09.04.2011; 84: Z1
- 10 Eich M. Eichmanns Prozess in Jerusalem. FAZ 13.04.2011; 87: N3
- 11 Stangneth B. Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders. Zürich: Arche; 2011
- 12 Bahners P. In der Sache Adolf Eichmann. FAZ 09.04.2011; 84: Z1
- 13 Rotzoll M. Gefährdetes Leben. Anstaltspatienten und ihre Geschichte bis zur Ermordung in der NS-Euthanasie-Aktion T4. Vortrag auf dem EGPPN-Kongress Berlin; 2011
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Literatur
- 1 Schürmer D. Der himmlische Puppenspieler. FAZ 01.11.2010; 254: 27
- 2 Mulisch H. Strafsache 40/61. Eine Reportage über den Eichmann-Prozess. nl. 1962, dt. Nürnberg: Tiamat 1963; Berlin: Aufbau, 3. Aufl.; 2002
- 3 Falkenstein S. http://www.sigrid-falkenstein.de/euthanasie/anna.htm Abgriff 11.12.2011
- 4 Falkenstein S. http://webcasts.meta-fusion.com/events/dgppn2010/templ/play.php?id_kongresssession=7 Abgriff 11.12.2011
- 5 Fioretos A. Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin, Stockholm. Berlin: Suhrkamp; 2010
- 6 Mendelsohn D. Die Verlorenen. Köln: Kiepenheuer & Witsch; 2010
- 7 Wellershoff D. Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt. Köln: Kiepenheuer & Witsch; 2010
- 8 Arendt H. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen. München: Piper; 1964. 5. Aufl. 2010
- 9 Nemirovsky I, Suite française. München: Btb 2007 [12] Bahners P. In der Sache Adolf Eichmann. FAZ 09.04.2011; 84: Z1
- 10 Eich M. Eichmanns Prozess in Jerusalem. FAZ 13.04.2011; 87: N3
- 11 Stangneth B. Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders. Zürich: Arche; 2011
- 12 Bahners P. In der Sache Adolf Eichmann. FAZ 09.04.2011; 84: Z1
- 13 Rotzoll M. Gefährdetes Leben. Anstaltspatienten und ihre Geschichte bis zur Ermordung in der NS-Euthanasie-Aktion T4. Vortrag auf dem EGPPN-Kongress Berlin; 2011