manuelletherapie 2012; 16(01): e1-e2
DOI: 10.1055/s-0032-1306436
Veranstaltung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Deutscher Schmerzkongress 2011: Alles multimodal? Chancen und Grenzen

K. Lüdtke
,
J. Schomacher
Further Information
Korrespondenzadresse
Jochen Schomacher
Florastr. 5
8700 Küsnacht
Schweiz   

Publication History

Publication Date:
22 February 2012 (online)

 

    Vom 5.–8. Oktober 2011 kamen ca. 2500 Teilnehmer in das Mannheimer Rosengarten Congress Center zum deutschen Schmerzkongress. Es erwarteten sie 3 Tage rund um den Schmerz mit Symposien, Postern und Plenarvorträgen zu den Rubriken Berufspolitik, Grundlagenforschung, Interdisziplinarität, Kopf-/Gesichtsschmerz, neuropathischer Schmerz, Palliativmedizin, perioperativer Schmerz, Pflegewissenschaften, Psychologie, Rückenschmerzen, Schmerz bei Kindern/im Alter, Tumorschmerz und Versorgungsforschung. Zusätzlich konnten Praktikerseminare und Workshops besucht werden.

    Im Eröffnungsvortrag erklärte Prof. M. Spitzer, warum „man dann aufhören soll, wenn’s am schönsten ist“: Bei der Wahrnehmung von Freude und Schmerz merkt sich unser Gehirn nicht die Summe aus Dauer und Intensität, sondern das Mittel zwischen dem Spitzen- und dem Endwert der Intensität und vernachlässigt die Dauer. Das heißt, wenn wir nach einem sehr schönen Erlebnis noch etwas mäßig Freudvolles erleben, bleibt es in unserer Wahrnehmung mit geringerer Intensität und Bedeutung haften als wenn wir im schönsten Moment aufhören. Das Gleiche gilt umgekehrt für Schmerz. Dies bedeutet, dass man sehr hohe Schmerzintensitäten vermeiden und sich aus einem Schmerz langsam „ausschleichen“ sollte, anstatt ihn abrupt abzubrechen.

    Weiter erklärte Prof. Spitzer die Bedeutung des anterioren zingulären Kortex (ACC): Er wird vermehrt nicht nur bei Schmerz, sondern auch bei sozialer Vereinsamung und dem Empfinden von Ungerechtigkeit aktiviert. Diese 3 Zustände bedrohen die physische und psychische Integrität des sozialen Wesens Mensch und damit sein Überleben. Deshalb können auch die soziale Einsamkeit und die Ungerechtigkeit „richtig weh tun“! Um in der Schmerztherapie die Aktivität des ACC zu senken, kann/sollte man folglich nicht nur am Schmerz selbst ansetzen.

    Die multimodale Therapie des Schmerzes war das Leitthema des Kongresses. C. Maihöfer zeigte z. B., dass Männer weniger Schmerz empfinden bzw. angeben, wenn sie im Experiment von einer Frau schmerzhaft gereizt werden als von einem Mann. Bei Frauen wurde ein solcher Unterschied nicht beobachtet. Der Kontext einer Schmerzbehandlung kann daher bedeutend sein.

    Die Macht des Placeboeffekts zeigte F. Birklein an einem Versuch auf, in dem ein Placebo eine deutliche Wirkung zeigte, die jedoch nur halb so groß war wie die eines anerkannten Schmerzmittels. Als man jedoch dieses Medikament „heimlich“ gab, also ohne Wissen des Patienten der Dauerinfusion beimischte, hatte das Medikament überhaupt keine Wirkung!

    Nocebo, also die negative Wirkung einer Therapie ohne spezifische Wirkung, ist ebenso stark wie Placebo. Schon die einmalige Aussage im Experiment, dass die Intensität des wiederholten Schmerzreizes mit der Zeit schlimmer werde oder gleich bleibe, hebe den natürlichen Verlauf der Gewöhnung (Habituation) auf, demzufolge die Schmerzintensität wiederholter experimenteller Reize mit der Zeit geringer wird. Kommunikation und besonders das positive Verstärken seien daher in der Therapie wichtig (F. Birklein).

    Beim chronischen Schmerz sind die Lern- und Gedächtnisprozesse wichtiger als die eigentliche Schmerzmodulation. Man solle nicht „mit dem Schmerz leben lernen“, sondern sich ein schmerzärmeres und schmerzfreies Leben vorstellen und trainieren, sich so zu verhalten, wie wenn der Schmerz weniger wäre. Das reduziert effektiv den Schmerz (H. Flor).

    Zur orthopädischen Behandlung des Kopfschmerzes wurden sanfte Traktionen der HWS anstatt der chiropraktischen Manipulation vorgestellt (G. Müller). Dies sei auch aus neurologischer Sicht wegen der Risiken der HWS-Manipulation vorzuziehen (A. May). Interessanterweise scheinen Patienten zu wissen, ob ihre Kopfschmerzen orthopädischer oder neurologischer Natur sind und instinktiv die richtige Fachrichtung auszuwählen. Vielleicht liegt es aber auch an der jeweiligen „Brille“ des Facharztes, die ihn glauben macht, dass Kopfschmerzen fast ausschließlich orthopädischer (Meinung des Orthopäden) bzw. neurologischer Natur (Meinung des Neurologen) sind?

    Kerstin Lüdtke präsentierte die vorhandene Evidenz für die physiotherapeutische Behandlung der verschiedenen Kopfschmerzarten anhand der Kriterien der internationalen Kopfschmerzgesellschaft. Dabei ergab eine Diskussion im Publikum, dass der zervikogene Kopfschmerz in der Klassifikation nicht ausreichend dargestellt sei und durch das Kriterium „wird durch HWS-Bewegungen beeinflusst“ ergänzt werden sollte.

    In den vortragsfreien Zeiten lohnte sich ein Blick auf die fast 200 nach Themengruppen sortierten Posterbeiträge. Mittags hatten alle Poster-Autoren die Gelegenheit, ihre Arbeiten in Kurzvorträgen bei einem moderierten Rundgang darzustellen. Deborah Falla präsentierte in ihrem Poster die Ergebnisse eines 6-wöchigen Trainings der tiefen HWS-Flexoren mit der kraniozervikalen Flexionsübung: die EMG-Aktivität der tiefen Flexoren nahm zu, und gleichzeitig verminderte sich der beklagte Schmerz bei 14 chronischen Nackenschmerzpatientinnen.

    Jochen Schomacher zeigte, dass die EMG-Aktivität des tiefen Nackenextensors M. semispinalis cervicis bei Nackenschmerzpatienten im Vergleich zu Gesunden auf den Höhen C2 und C5 vermindert ist. Der Querschnitt des Muskels hingegen zeigte auf diesen spinalen Höhen keinen Unterschied im Ultraschallbild zwischen beiden Gruppen.

    Viele Themen, die wir Physiotherapeuten eigentlich unserem Beruf zuschreiben würden, wurden von anderen Berufen wie Sportwissenschaftlern dargestellt. Poster, die den anhand eines Fragebogens gemessenen Verbrauch von Schmerzmedikamenten in einer Nordic-Walking-Gruppe zeigten (M. Klein et al.), werfen die Frage auf, wo die Abschlussarbeiten der Bachelor- und Master-Studiengänge deutscher Physiotherapeuten publiziert werden? Bleiben wir zu sehr „unter uns“?

    Ein interdisziplinärer Kongress wie der deutsche Schmerzkongress bietet die Möglichkeit, anderen Berufsgruppen das Wissen und Können von Physiotherapeuten zu präsentieren und eigene interdisziplinäre Netzwerke aufzubauen. Die Zusammenstellung der Symposien machte deutlich, dass dies bereits geschieht: Meist fanden sich Ärzte aus verschiedenen Fachbereichen zusammen – ergänzt durch Beiträge von Psychologen, gelegentlich aber auch von Physiotherapeuten –, um zu einem Thema verschiedene Sichtweisen und Aspekte darzustellen. Dagmar Seeger z. B. zeigte die Zusammenarbeit der Physiotherapeuten im Schmerzprogramm der Göttinger Uniklinik gemeinsam mit Ärzten und Psychologen sowie das Göttinger multimodale Übungs- und Trainingskonzept für die HWS. Diese Form der Präsentationen bietet dem Zuhörer die Möglichkeit, sich kritisch Meinungen anzuhören, Fragen an verschiedene Berufsgruppen zu richten und auch die Überschneidungen der Fachrichtungen kennenzulernen.

    Das Motto des Schmerzkongresses 2012 in Mannheim ist Schmerz und Bewegung –, ein Thema wie für Physiotherapeuten gemacht und auch der Titel eines physiotherapeutischen Arbeitskreises der Deutschen Schmerzgesellschaft (ehemals: Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes). Es wäre schön, wenn das Thema nicht wieder fast ausschließlich von anderen Berufsgruppen besetzt würde und sich Physiotherapeuten durch das Motto aufgefordert fühlten, den Kongress zu besuchen oder besser noch aktiv mitzugestalten.

    Mit 60 Euro für 4 Kongresstage war der Besuch sogar erschwinglich. Informationen zum nächsten Deutschen Schmerzkongress vom 17.–20.10.2012 in Mannheim finden sich auf der Website der Deutschen Schmerzgesellschaft: www.dgss.org.


    # Korrespondenzadresse
    Jochen Schomacher
    Florastr. 5
    8700 Küsnacht
    Schweiz