Aktuelle Dermatologie 2012; 38(05): 183-186
DOI: 10.1055/s-0032-1309707
Von den Wurzeln unseres Fachs
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Patient Goethe – eine Pathografie[*]

Patient Goethe – A Pathography
H.-D. Göring
Tumorzentrum Anhalt am Städtischen Klinikum Dessau e. V.
› Author Affiliations
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Hans-Dieter Göring
Tumorzentrum Anhalt
am Städtischen Klinikum Dessau e.V.
Auenweg 38
06847 Dessau-Roßlau

Publication History

Publication Date:
02 May 2012 (online)

 

Zusammenfassung

Im Bewusstsein vieler seiner Zeitgenossen und der Nachwelt gilt Johann Wolfgang von Goethe bis zum heutigen Tage als ein Sinnbild physischer und psychischer Gesundheit. Tatsächlich hat er aber sein ganzes Leben lang an einer Vielzahl von zum Teil lebensbedrohlichen Krankheiten sowie an Depressionen gelitten und trotzdem ein gewaltiges Werk als Dichter und Naturforscher geschaffen sowie als Staatsmann ein großes Arbeitspensum bewältigt. Als Künstler hat Goethe sich eigene Krankheitserlebnisse „von der Seele geschrieben“ und literarisch gestaltet.


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Abstract

Among many of Goethe's contemporaries and in posterity Goethe is seen as a symbol of physical and mental health.

In reality though he has suffered from numerous diseases, some of which were life-threatening, as well as depressions throughout his life. Despite all this, he has managed to create a vast body of work as a poet and natural scientist and has handled a large volume of work as a statesman. As an artist, Goethe has written his own sickness experiences off his chest and has shaped them literarly.


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Vor 180 Jahren, am 22. März 1832, starb Johann Wolfgang von Goethe im 83. Lebensjahr.

Im Bewusstsein vieler seiner Zeitgenossen und der Nachwelt galt der Dichterfürst, bedeutende Dramatiker, vielseitige Naturforscher und Staatsmann als ein Sinnbild körperlicher und geistiger Gesundheit. Diese Annahme trug zusätzlich zu der bis zum heutigen Tag bewahrten Idealisierung Goethes als eines in sich ruhenden „Olympiers“ bei [5].

Christoph Willibald Hufeland, Goethes behandelnder Arzt von 1783 – 1793, hat 1788 mit seiner Behauptung über den damals 39-jährigen Goethe, er habe noch nie eine solche Vereinigung physischer und geistiger Vollkommenheit und Schönheit in einem Manne wie in Goethe erblickt, den Nimbus des robusten Genies gestützt. Goethe habe ihm als „Arzt wenig zu tun gegeben“ [5].

36 Jahre später äußert sich der 75-jährige Dichter rückblickend aufgrund eigener Erfahrungen gegenüber Eckermann weitaus weniger positiv: „Im Grunde ist es [mein Leben] nichts als Mühe und Arbeit gewesen, und ich kann wohl sagen, dass ich in meinen fünfundsiebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt“ [5].

Johann Wolfgang Goethe wurde am 28. August 1749 in Frankfurt/M. geboren. Sein Vater, der Kaiserliche Rat Johann Caspar Goethe, war zur Geburt seines ersten Sohnes 39 Jahre, die Mutter Catharina Elisabeth, geb. Textor, 18 Jahre alt.

Johann Wolfgang kam asphyktisch und anscheinend leblos auf die Welt. Möglicherweise hatte eine Nabelschnurumschlingung bestanden [3] [4] [8].

Als Konsequenz aus diesem Ereignis ordnete Goethes Großvater Johann Wolfgang Textor als Stadt-, Reichs- und Gerichtsschultheiß von Frankfurt/M. die Verbesserung der Hebammenausbildung und die Anstellung eines Geburtshelfers an [8].

Von Goethes fünf Geschwistern erlebte nur seine Schwester Cornelia das Erwachsenenalter [4] [8].

Bis zu seiner letzten, tödlichen Erkrankung 1832 überlebte Goethe fünf weitere lebensbedrohliche Krankheiten [1] [4] [5] [8].

In der Kindheit erkrankte er an Masern und Windpocken, eine Pockenerkrankung verlief schwer, aber ohne bleibende Narbenbildungen an sichtbaren Hautstellen [1] [4] [5] [8]. Die aktive Pockenschutzimpfung mit Kuhpockenlymphe war erst 1796 von Edward Jenner in England eingeführt worden [8].

Es wurde berichtet, dass sich Goethe in Frankfurt 1763 im Alter von 14 Jahren in ein 3 Jahre älteres Mädchen verliebte. Zusammen mit ihr und einer Gruppe von Freunden wurde er von der Frankfurter Polizei aus einem nicht näher bezeichneten Grund befragt. Im unmittelbaren Anschluss an dieses Ereignis klagte er über Schmerzen in der Brust, Schluckbeschwerden, Unruhe und Schlafstörungen. Diese Beschwerden wurden aus heutiger Sicht als psychosomatisch bedingt erklärt [1] [4] [5] [8].

Ab Oktober 1765 studierte Goethe Jura und Philosophie in Leipzig. Auf der Hinreise am 3. Oktober 1765 half er die stecken gebliebene Kutsche anzuschieben und bemerkte unmittelbar danach Schmerzen in der Brust, die kurz darauf verschwanden und mehrmals rezidivierten [8].

Der von Goethe wegen „Labilität“ im Herbst 1767 konsultierte Arzt Prof. Dr. Georg Christian Reichel, den er in einer Tischrunde des Hofrates und Professors der Medizin Christian Gottlieb Ludwig in Leipzig kennen gelernt hatte, behandelte ihn auch, als es kurz vor Goethes 19. Geburtstag im Juli 1768 zu einem lebensbedrohlichen „Blutsturz“ gekommen war. Als Ursache wurden eine Schwindsucht, Syphilis und ein blutendes Magen- bzw. Duodenalulkus diskutiert [1] [3] [4] [5]. Letzteres war nicht auszuschließen, zumal Goethes damalige hektische Lebensweise die Entstehung eines Stressulkus begünstigt haben könnte [8].

Für eine Syphilis lagen ebenfalls keine ausreichenden Anhaltspunkte vor, außer allgemeinen Auslassungen Goethes über die Syphilis in Briefen und Gedichten an Käthchen Schönkopf und Friederike Oeser [4].

Gleichwohl fürchtete Goethe seit seiner Leipziger Studienzeit eine Ansteckung mit Syphilis und hat diese Furcht später in den „Römischen Elegien“ thematisiert. Als sicherste Vorbeugung nannte er in diesen Versen „Treue dem Treuen“ [5]. Vieles spricht dafür, dass die Hämoptoe durch Arrosion eines Lungengefäßes infolge einer kavernösen Tuberkulose auftrat [4] [8].

Die Manifestation einer Lungentuberkulose kann durch Schwächung der Abwehrkräfte infolge Goethes strapaziöser Lebensweise und seiner Befolgung von Rousseaus „Naturevangelium“ mit Kaltbaden und -schlafen sowie seelischen Erschütterungen über den unglücklichen Ausgang seiner Liebe zu Anna Katharina („Käthchen“) Schönkopf und die Ermordung des Archäologen Johann Joachim Winckelmann am 8. Juni 1768 in Triest begünstigt worden sein [1] [4] [8].

Erst 1832 führte Johann Lucas Schönlein den Begriff Tuberkulose für Schwindsucht ein, ihr Erreger Mycobacterium tuberculosis wurde 1882 von Robert Koch entdeckt.

Die Verdachtsdiagnose Schwindsucht bei Goethe stützte sich auf die überlieferten Symptome wie nächtliches Aushusten von Blut, Brustschmerzen und „Fieber“, wobei eine Messung der Körpertemperatur wie auch die Perkussion und Auskultation Goethes Ärzten unbekannt waren.

Für die Annahme einer Tuberkulose bei Goethe spricht auch der vergrößerte Halslymphknoten, der bereits 1768 in Leipzig auffiel und 1769 nach Einschmelzung durch den Chirurgen Crisp in Frankfurt inzidiert und mit Argentum nitricum touchiert wurde. Anfang 1770 war die Heilung der Tuberkulose wahrscheinlich abgeschlossen [4] [8].

Der „Blutsturz“ als somatische Krankheit führte möglicherweise zur seelischen Heilung des unglücklich verliebten Goethe [5].

Ab 1. 4. 1770 setzte Goethe sein Jurastudium in Straßburg fort. Hier festigte sich sein Gesundheitszustand. „Übrigens ist mein Körper just so gesund um eine mäßige, und nötige Arbeit zu tragen, und um mich bey Gelegenheit zu erinnern dass ich weder an Leib noch an Seele ein Riese bin“, schrieb er am 28. 6. 1770 an Susanna Katharina von Klettenberg [4].

Goethe war sehr lärmempfindlich und litt unter Höhenangst. Mit einer Art Verhaltenstherapie schritt er in Straßburg mehrmals die Woche zur Gewöhnung an den Lärm neben einer Militärkapelle her und bestieg die Turmspitze des Münsters, bis ihn die Höhe nicht mehr störte [8].

Ähnlich wie in Leipzig bei Hofrat Ludwig traf sich Goethe in Straßburg zum Mittagstisch vorwiegend mit Ärzten und Medizinstudenten. Zu dieser Runde gehörten der piëtistisch eingestellte Johann Heinrich Jung, genannt Jung-Stilling, und Georg von Zimmermann, der spätere Leibarzt Friedrich II. von Preußen [8].

Goethe besuchte in Straßburg anatomische und geburtshilfliche Lehrveranstaltungen [5].

Die Medizin befand sich zu dieser Zeit in einem Umbruch, gekennzeichnet durch die Abkehr von der mittelalterlichen und von „Geheimlehren durchschlungenen Heilkunde“ [5] zugunsten von Empirie, unmittelbarer Anschauung und Gebrauch der fünf Sinne.

In „Dichtung und Wahrheit“ wurde sie von Goethe als „Hippokratische Medizin“ beschrieben [5].

In der Nähe von Straßburg lernte Goethe im Oktober 1770 die Pfarrerstochter Friederike Brion in Sesenheim kennen. Es entstanden die Gedichte „Mailied“, „Heidenröslein“ und „Willkommen und Abschied“.

Im September 1770 bestand Goethe das juristische Examen und erwarb am 6. 8. 1771 das Lizenziat, die Doktordissertation war abgelehnt worden. 2 Tage später, am 8. 8. 1771, sah er Friederike Brion letztmalig, sie blieb unverheiratet [4]. Am 14. 8. 1771 kehrte Goethe nach Frankfurt zurück und ließ sich als Rechtsanwalt nieder. Körperlich war er bei guter Gesundheit [1] [4] [5].

Während seiner anschließenden Tätigkeit von Mai bis September 1772 am Reichskammergericht in Wetzlar verliebte sich Goethe in Charlotte Buff, die Verlobte des Gesandtschaftssekretärs Johann Christian Kestner. Diese schwärmerische unerfüllte Liebe stürzte Goethe in eine tiefe Depression mit Suizidalität, er kehrte überstürzt nach Frankfurt zurück [4].

Nach Goethes Rückkehr nach Frankfurt erschoss sich in Wetzlar ein anderer Jurist aus unglücklicher Liebe zur Ehefrau eines Kollegen mit Kestners Pistole. Dies war der Anstoß für Goethe, „Die Leiden des jungen Werther“ zu schreiben. Das Werk erschien 1776 und machte den Autor mit einem Schlag berühmt [4]. Goethe hat im „Werther“ seine Wirklichkeit in Poesie verwandelt und sich dadurch aus einer schweren seelischen Krise befreit. Nach der Lektüre des „Werther“ verwandelten einige, meist junge Leser in Europa die Poesie in Realität und erschossen sich in Werther’scher Manier [1] [4] [5] [8].

Jahre nach seinem „Werther“ schrieb sich Goethe „Tasso“ von der Seele. Er fürchtete die kontagiöse Wirkung der Angekränkelten, der Werther- und Tasso-Gestalten (Lenz, Hölderlin, Kleist u. a.), weil sie Abbild seiner eigenen psychopathologischen Möglichkeiten waren [5].

In den ersten zehn Amtsjahren von 1775 bis 1785 als Geheimer Legationsrat und Minister am Weimarer Hof war Goethe trotz beruflicher Belastungen und einer ausgelassenen Lebensführung nie ernstlich krank, wenn auch nicht ohne Beschwerden wie Bronchialkatarrhe, Halsentzündungen, Erkältungen, Muskel- und Gelenkschmerzen, Obstipation, Wetterfühligkeit, Herzklopfen, „fliehende Hitze“ und Zahnschmerzen [4] [8].

Ende 1785/Anfang 1786 stellten sich unter der Last der Staatsgeschäfte und der Hofwelt Niedergeschlagenheit, Erschöpfung, Einsamkeit, Leere und Selbstentfremdung ein [1] [4] [5].

Wir würden heute von einem Burn-out-Syndrom sprechen. Seine Sehnsucht nach Introversion und Rückzug in die Stille erfüllte sich Goethe 1786 durch die „Flucht nach Italien“. Er erlebte vom 3. 9. 1786 bis zum 18. 6. 1788 auf seiner ersten Italienreise die „Wahre Wiedergeburt von dem Tag, da ich Rom betrat“ [1] [5]. Seine Depression verschwand, er vollendete „Iphigenie“ und „Torquato Tasso“ [5].

Bis 1792 machte Goethe den Eindruck eines schlanken, stattlichen und gesunden Mannes. Wenn man von seinen gelblichen, schief stehenden Zähnen absah, konnte er als schön gelten [4].

Goethe betrachtete Bewegungsmangel und körperliche Trägheit als krankmachend. Hufeland hatte ihn gelehrt, dass „Bewegung die beste Arzney“ sei. Schon frühzeitig trug Goethe den Beinamen „Der Wanderer“ [5]. Als Student in Straßburg unternahm er Distanzritte von bis zu 400 km durch das Elsass und Lothringen. Mit Carl August und anderen Begleitern durchstreifte Goethe zu Pferde und zu Fuß Thüringen. Er bestieg den Brocken, den Berg Rigi und den St. Gotthard in der Schweiz. Er lief Schlittschuhe, liebte das Tanzen, das Kalt- und Nacktbaden. Noch als 70-Jähriger macht Goethe Spaziergänge von einer bis zu mehreren Stunden täglich [4] [5] [8].

Er verabscheute Tabakrauch und Bier [4] [5] [8]. Durch unmäßiges Essen von fetten Braten, Wild, Geflügel, Pasteten, Fisch, Krebsen, Kuchen, Schokolade u. a. nahm er bis zum 50. Lebensjahr an Körpergewicht kontinuierlich zu [4] [5] [6] [7].

Carl von Stein, Sohn der Charlotte von Stein, schrieb seinem Bruder Fritz in einem Brief vom 11. 6. 1795: „Wen die Zeit aber von Seiten des Körpers unkenntlich gemacht hat, ist Goethe. Sein Gang ist überaus langsam, sein Bauch nach unten zu hervortretend wie der einer hochschwangeren Frau, sein Kinn ganz an den Hals herangezogen … seine Backen dick“ [4].

Im höheren Alter nahm Goethe wieder an Gewicht ab [4]. Fettreiche Ernährung kann nach heutiger Kenntnis ein Faktor in der Entstehung einer Arteriosklerose sein. Eine ihrer Lokalisationen ist die Koronarsklerose, ein wesentlicher Faktor für die Entstehung eines Myokardinfarktes. Hoher Puringehalt im Fleisch begünstigte einen Anstieg der Harnsäurebildung, die zur Gicht führen kann, bei Goethe jedoch nicht belegt ist [4]. Vermehrter Fleischkonsum fördert aber auch durch eine stärkere Säuerung des Urins die kristalline Ausfüllung von Harnsäure als Nierensteine [4].

Goethe ergab sich bereits in seiner Weimarer Zeit vor der ersten Italienreise 1786 dem übermäßigen Weingenuss [6] [7]. Über viele Jahre seines Lebens trank er täglich 1 bis 3 l Wein [7]. Niemand habe ihn je betrunken gesehen, jedoch angeheitert [4]. Angeblich steigerte der Wein seine Entschlusskraft und Produktivität, beschönigte der Dichter seinen Weinkonsum [4] [8]. Auch seine Frau Christiane und sein Sohn August waren alkoholabhängig [4] [6]. Augusts Tod in Italien 1830 wurde auf den jahrelangen Alkoholabusus zurückgeführt [4] [6]. Es ist nach heutigem Kenntnisstand wahrscheinlich, dass Goethe eine wesentlich alkoholinduzierte Leberzirrhose hatte, in deren Folge sich Ösophagusvarizen bildeten. Deren Ruptur könnte Ursache für Goethes „Blutsturz“ 1830 gewesen sein [4].

1797 erkrankte Goethe an einer Furunkulose. 1801 entwickelte sich die dritte lebensbedrohliche Erkrankung seines Lebens: Rötung und Schwellung des rechten Auges, der rechten Gesichts- und Halsseite unter Fieber und zeitweiliger Bewusstseinstrübung. Retrospektiv wurde diese damals als „Gesichtsrose“ und „heftiger Rotlauf“ (Schiller) bezeichnete Krankheit als bullöses Erysipel gedeutet [1] [4] [5] [8]. Ein Zoster ophthalmicus scheint aus heutiger Sicht nicht ausgeschlossen.

Unter Aderlässen und Senfbädern, die Goethes Arzt Dr. Stark verordnete, zog sich die Rekonvaleszenz bis Ende 1801 hin.

Die „Gesichtsrose“ war der Auftakt für Goethes längste seelische Krise sowie rezidivierende Nierenkoliken, schwer verlaufende Erkältungen und rheumatische Beschwerden. Zahnerkrankungen, an denen Goethe seit seinem 17. Lebensjahr litt, nahmen jetzt einen noch unangenehmeren Verlauf [4] [5] [8]. Die Möglichkeiten der damaligen Zahnmedizin waren begrenzt und gingen kaum über Extraktion, lokale und systemische Schmerzlinderung hinaus [4]. Ab dem 60. Lebensjahr setzte der Zahnverlust bei Goethe ein, mit etwa 80 Jahren soll er aus kosmetisch-ästhetischen Gründen eine Prothese aus Porzellanzähnen ohne Kaufunktion getragen haben [4] [5].

In den „Zahmen Xenien“ klagte er: „Ich neide nichts, ich lass es gehen, und kann mich immer manchem gleich erhalten, Zahnreihen aber, junge, neidlos anzusehen, das ist die größte Prüfung mein, des Alten“ [5].

Eitelkeit erklärte auch Goethes Abneigung gegen das Tragen einer Brille. Er war in jungen Jahren kurzsichtig und benutzte eine Lorgnette und eine Lupe.

Im Alter stellte sich Presbyopsie ein [4] [5]. Zwischen 1802 und 1805 war Goethes Gesundheit v. a. durch wochenlange Erkältungen so beeinträchtigt, dass er sich von einigen Regierungsämtern entbinden lassen musste. Von Anfang bis Mitte 1805 plagten ihn Nierenkoliken. Am 17. 1. 1805 schrieb er an Schiller: „… bey mir hinkt es bald hier, bald dort“ [4].

Eine Kur in Bad Lauchstädt 1806 brachte eine vorübergehende Besserung [4].

1806 heiratete Goethe Christiane Vulpius nach achtzehnjähriger Lebensgemeinschaft.

Seit 1785 unternahm Goethe 16 Bäderreisen in die westböhmischen Kurorte Karlsbad (bis 1820 12 Aufenthalte), Franzensbad und Marienbad, die zusammengerechnet 3 Jahre ergaben (zum Vergleich: die Italienaufenthalte dauerten insgesamt 1,5 Jahre). Er hielt sich auch zu Kuren in Teplitz, Pyrmont, Berka, Wiesbaden und Tennstedt auf. Die Indikationen waren Verdauungsbeschwerden, Nierenerkrankungen, Rheuma und Bronchialkatarrh.

Neben seinen Krankheiten zog es Goethe auch wegen gesellschaftlicher Anlässe, mineralogischer und botanischer Studien in die Kurorte. „Eine kleine Liebschaft ist das einzige, was einen Badeaufenthalt erträglich machen kann; sonst stirbt man vor lauter langer Weile“, sagte er zu Eckermann [5].

Im Frühjar 1810 kam es bei Goethe zu passageren psychischen und neurologischen Ausfallerscheinungen, wie sie heute unter der Bezeichnung transitorische ischämische Attacke (TIA) subsumiert werden [4] [5]. Die Basis ist meist eine Arteriosklerose der Hirngefäße.

In Weimar setzte Goethe seine Trinkkuren mit böhmischem alkalischen Heilbrunnen fort. Er trank bis zu 400 Flaschen pro Jahr [4] [7].

Aus dem Jahr 1812 gibt es zwei Berichte von Zeitgenossen über Goethes Gesundheitszustand. Sie beschrieben, dass er mitten im Gespräch aus dem Zimmer ging (Graf Friedrich von Stolberg) und sich nach kürzeren Wegstrecken setzen musste (Wilhelm v. Humboldt) [4].

In der zweiten Jahreshälfte 1812 stellen sich Symptome einer Linksherzinsuffizienz ein, und am 10. 1. 1813 erlitt Goethe einen pektanginösen Anfall [4].

Anfang 1823 geriet Goethe in die vierte lebensbedrohliche Krise seines Lebens. Nach dem Bericht seines behandelnden Arztes Dr. Wilhelm Rehbein lagen mit Angina pectoris, Todesangst, Vernichtungsgefühl und kalten Schweißausbrüchen typische klinische Symptome eines akuten Myokardinfarktes vor, zusätzlich Zeichen der Linksherzinsuffizienz.

Goethe verbrachte 9 Tage jammernd und klagend im Lehnstuhl [5]. Die Therapie bestand in Aderlässen und Blutegelanwendungen, Flüssigkeitsbeschränkung und Arnika-Tinktur [5] [6]. Goethe haderte, dass „uns die Götter hart halten in solchen kranken Tagen und doch auch gar nicht sonderlich in den gesunden“ [5]. Die Diagnose Myokardinfarkt war zu Goethes Zeit nicht bekannt.

Nachdem Goethe den Herzinfarkt überstanden hatte, trat er im Frühjahr 1823 eine Kur in Marienbad an. Hier verliebte sich der 73-jährige Dichter in die 19-jährige Ulrike von Levetzow. Er fühlte sich verjüngt, aber die flammende Leidenschaft endete im Herbst 1823 entsagungsvoll und mündete in eine durch pektanginöse Anfälle und Herzinsuffizienz gekennzeichnete fünfte lebensbedrohliche Krise [5].

„… mein Bündel ist geschnürt, und ich warte auf die Ordre zum Abmarsch“, resümierte der greise Dichter [2] [5].

Als Goethes Sohn August 1830 verstorben war und er durch intensive Arbeit am 4. Band von „Dichtung und Wahrheit“ über diesen Verlust hinwegzukommen versuchte, wurde Goethe von dem erwähnten „Blutsturz“ betroffen [3].

Kaum hatte sich Goethe von diesem Ereignis erholt, raffte er sich dazu auf, „Faust II“ abzuschließen und das Manuskript zu versiegeln [5].

Die „Ordre zum Abmarsch“ erging an den 83-jährigen Goethe am 22. März 1832. Wenige Stunden vor seinem Tod hatte er noch hoffnungsvoll geäußert: „… also hat der Frühling begonnen und wir können uns dann umso eher erholen“ [5].

Sein behandelnder Arzt Dr. Carl Vogel schilderte, wie Goethe in der Nacht von panischer Angst und Unruhe ergriffen wurde. Heftige Brustschmerzen, kalter Schweiß und ein Rasseln auf der Brust lassen sich retrospektiv mit einem Reinfarkt und Lungenödem vereinbaren [5] [7].

Laut Todesanzeige ist Johann Wolfgang von Goethe am 22. März 1832 an „Stickfluß infolge eines nervös gewordenen Katarrhalfiebers“ verstorben [6]. Bei Stickfluss könnte man an eine Linksherzinsuffizienz denken. Eine Obduktion des Leichnams erfolgte nicht [1] [4] [5] [6].

Goethe hat trotz häufiger und schwerer Krankheiten jene Arbeit geleistet, die ihm sein Schicksal und seine Genialität auferlegten [5].

Trotz seiner körperlichen Krankheiten und Depressionen hat Goethe ein hohes Lebensalter erreicht. Für ihn traf damit zu, was er in „Dichtung und Wahrheit“ beschrieb: dass „die menschliche Natur eine eigene Zähigkeit besitzt“ [5]. Die Heilkunde war zu Goethes Zeit fast ausschließlich auf die körpereigenen und Pflanzenheilkräfte angewiesen und beschränkte sich zudem auf Purgieren, Vomieren, Schröpfen sowie oft sinnlose und gefährliche Aderlässe [5].

Von seinen Ärzten erwartete Goethe entschlossenes Handeln, auch „Pfiffigkeit“ und mahnte therapeutische Zurückhaltung an („primum nil nocere“). Er empfahl den sensiblen Umgang mit der ärztlichen Sprache und wusste um das Phänomen des „Arztes als Droge“ [4] [5] [6] (Mephisto: „Ein Titel muß sie erst vertraulich machen, dass Eure Kunst vieltausend Künste übersteigt …“).

Goethe vertraute auf die Selbstheilungskräfte des Patienten: Natura sanat, medicus curat – oder wie er Mephisto in Urfaust und Faust I sagen lässt: „Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen, Ihr durchstudiert die groß’ und kleine Welt, um es am Ende geh’n zu lassen, wies’ Gott gefällt“.

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Abb. 1 Johann Wolfgang von Goethe. Zeichnung von H.-D. Göring nach einem Gemälde von Joseph Karl Stieler.

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* Herrn Prof. Dr. med. K. Bork, Mainz, zum 70. Geburtstag.


  • Literatur

  • 1 Heilemann HL. Patient Goethe. Marburg: Basilisken-Presse; 1999
  • 2 Herwig W. Goethes Gespräche. Zürich: Artemis; 1965
  • 3 Klauß J. Gesundheit bei Goethe. Mannheim: Artemis & Winkler; 2011
  • 4 Matouschek E. Erkrankungen Goethes (1749 bis 1812). Stuttgart: Schattauer; 1999
  • 5 Nager F. Der heilkundige Dichter. Goethe und die Medizin. Zürich: Artemis & Winkler; 1999
  • 6 Veil WH. Goethe als Patient. Stuttgart: Fischer; 1963
  • 7 Vogel C. Die letzte Krankheit Goethes, beschrieben und nebst einigen andern Bemerkungen über denselben mitgetheilt. Faksimile der zuerst 1833 erschienenen Ausgabe. Darmstadt: Merck; 1961
  • 8 Wenzel M. Goethe und die Medizin. Selbstzeugnisse und Dokumente. Frankfurt: Insel; 1992

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Hans-Dieter Göring
Tumorzentrum Anhalt
am Städtischen Klinikum Dessau e.V.
Auenweg 38
06847 Dessau-Roßlau

  • Literatur

  • 1 Heilemann HL. Patient Goethe. Marburg: Basilisken-Presse; 1999
  • 2 Herwig W. Goethes Gespräche. Zürich: Artemis; 1965
  • 3 Klauß J. Gesundheit bei Goethe. Mannheim: Artemis & Winkler; 2011
  • 4 Matouschek E. Erkrankungen Goethes (1749 bis 1812). Stuttgart: Schattauer; 1999
  • 5 Nager F. Der heilkundige Dichter. Goethe und die Medizin. Zürich: Artemis & Winkler; 1999
  • 6 Veil WH. Goethe als Patient. Stuttgart: Fischer; 1963
  • 7 Vogel C. Die letzte Krankheit Goethes, beschrieben und nebst einigen andern Bemerkungen über denselben mitgetheilt. Faksimile der zuerst 1833 erschienenen Ausgabe. Darmstadt: Merck; 1961
  • 8 Wenzel M. Goethe und die Medizin. Selbstzeugnisse und Dokumente. Frankfurt: Insel; 1992

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Abb. 1 Johann Wolfgang von Goethe. Zeichnung von H.-D. Göring nach einem Gemälde von Joseph Karl Stieler.