Haut und Sprache
Haut ist Grenze zwischen Innen und Außen. Die Umgangssprache zeigt es: Da kommt uns
jemand zu nah, rückt uns auf die Pelle, sodass wir uns nicht mehr wohl fühlen in unserer
Haut. Vielleicht fahren wir sogar aus der Haut, möchten dem anderen das Fell über
die Ohren ziehen.
Kein anderes Organ des menschlichen Körpers dient so vielen – biologischen, kulturellen
und sozialen – Funktionen: Haut schützt vor Verletzungen und Kälte. Sie ermöglicht
zugleich Wahrnehmung und Kontakt. Haut ist das Erste, was wir am anderen wahrnehmen.
Über die Haut nehmen wir mit der Außenwelt Kontakt auf, spüren den Boden unter den
Füßen, die Sonne auf dem Rücken, den Wind im Gesicht. Doch die Haut nimmt nicht nur
wahr, sie gibt auch preis, zeigt dauerhafte Merkmale und momentane Empfindungen, selbst
die, die wir lieber verbergen. Im Erröten und Erblassen, in trockener, feuchter oder
fiebriger Haut kommunizieren Körper und Seele mit unseren Mitmenschen; äußern sich,
ohne uns zu fragen. Zugleich steht die Haut auch der bewussten Kommunikation zur Verfügung:
In der Sinnlichkeit eines Streichelns wird Intimität erzeugt, und ein Schlag brennt
noch lange, auf der Haut wie auf der Seele. Lust und Schmerz werden über die Haut
kommuniziert wie Wärme und Kälte. Darüber hinaus hat die Haut nach außen hin Zeichencharakter.
Sie gibt Auskunft über Gesundheitszustand und Stimmungen, über das Alter und die kulturelle
Herkunft. Haut wird zur Chronik des Lebens, ob wir es wollen oder nicht: Prägende
Erfahrungen schreiben sich physisch als Falten und Furchen in die Haut.
Nichts liegt so sensibel, verletzlich und schützend zwischen Ich und Welt wie die
Haut. Kaum ein anderes Organ verrät so viel über den individuellen Menschen. Haut
ist Persönlichkeit. Entsprechend wird kein anderer Teil des Körpers aufwendiger gepflegt.
Mit der Haut berühren wir den anderen, schmiegen uns aneinander. Haut hat mit Genießen
zu tun, aber auch mit Schmerz und Gewalt, mit Sex und Liebe. Die Haut lehrt uns alltäglich
das wunderbare Verstehen, wenn wir tastend uns selbst und die Welt „begreifen“.
Haut als Symbol
Christina Detig-Kohler [1] hat die symbolischen Funktionen der Haut ausführlich beschrieben: als Sinnesorgan,
Kontaktorgan, Ausdrucksorgan. Haut trennt und verbindet zugleich, schützt und ist
doch sehr verletzlich („so empfindlich wie eine Mimose“). Sie ist die Grenze – um
mit Peter Handke [2] zu sprechen – zwischen „Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ und Außenwelt. Besonders
spannend sind dabei die „Löcher“, über die Inneres nach außen und Äußeres nach innen
gelangt. Freud nennt sie die „erogenen Zonen“: Mund, After, männliches bzw. weibliches
Genitale; für den Dermatologen bekanntlich besonders anfällig für Hauterkrankungen.
Die Grenzpforten können geöffnet oder geschlossen sein; man kann sie bewachen und
streng kontrollieren oder alles dem freien Fluss der Kräfte überlassen. Grenzpforten
können von außen durch gefährliche Angriffe gewaltsam überwältigt werden. Umgekehrt
können aber auch gefährliche innere Kräfte von innen nach außen gelangen. Die Haut
selbst ist mehr oder weniger durchlässig. Diese Durchlässigkeit der Grenze, ihre Permeabilität,
spielt im psychoanalytischen Prozess eine große Rolle [3]: Zu große Permeabilität wäre zu große Offenheit (Umgangssprache: „nicht ganz dicht“);
gar keine Permeabilität wäre zu große Verschlossenheit. Haut ist ganz konkret ein
bewahrendes Objekt: Sie schützt uns so, wie uns einst eine gute pflegende Bezugsperson
geschützt hat. Haut kann aber auch zum Austragungsort von Auseinandersetzungen werden.
Wie soll sie behandelt werden? Zart oder grob? Mit welchen Mitteln (Salben, Tinkturen
etc. oder Bürsten, Tüchern)? Oder Haut wird nicht beachtet, nicht behandelt, nicht
berührt. Das Ergebnis solcher Nicht-Beachtung sehen wir in Bodo Kirchhoffs [4] „Einsamkeit der Haut“. Hier wird die Verlassenheit des modernen Menschen ebenso
verdeutlicht wie dessen Fixierung auf ganz bestimmte Teile der Haut, die geradezu
anatomisch in Bezirke aufgeteilt werden, wie die Straßenzüge des Frankfurter Bahnhofsviertels
([Abb. 1]).
Abb. 1 Die Haut hat unterschiedliche Bezirke und Zonen, die hier bei Bodo Kirchhoff wie
die Straßenzüge auf einem Stadtplan aussehen.
Ein Mann begegnet einer Prostituierten; diese ist so einsam wie er (eine „einsame
Haut“). Sie sprechen unterschiedliche Sprachen; im doppelten Sinne des Wortes, sie
begegnen sich und bleiben dennoch getrennt. Nicht der Mensch ist wichtig, sondern
seine Haut (Originalton Kirchhoff): „Auf die natürlichen Falten zu, wird die Haut
immer dunkler. Dort liegen die Gefahrenherde ... langsam fahre ich an ihrem Oberarm
herab, springe über zur unteren Hälfte der Brust ... und leite weiter bis zum Nabel ... streichle
über ihren Rücken, entlang der Wirbelsäule, bis in Höhe des Steißbeins und merke,
dass ihr schauert ... ich sehe zwei Leberflecken, darunter ein Haar, darunter eine
winzige Narbe, sonst nichts von Bedeutung; zwar ließe sich schon eine Karte anlegen
von diesem Gebiet, doch nahezu weiß.“
Interessant ist, dass den Erkundigungen auf der Ebene der Haut wechselseitige Erkundigungen
auf der Ebene eines zwischenmenschlichen Dialogs entsprechen. Beide Annäherungen brechen
aber in charakteristischer Weise immer wieder ab.
Haut symbolisiert aber auch den ganzen Menschen, wenn es z. B. heißt: Ich möchte nicht
in deiner Haut stecken, ich muss mich meiner Haut wehren. Haut ist somit „pars pro
toto“ und steht für den ganzen Menschen: eine ehrliche Haut, jeder steckt in seiner
Haut, fühlt sich in ihr wohl oder fährt wütend aus der Haut, widmet sich einer Sache
„mit Haut und Haaren“; geht darin auf, mit dem Risiko des Selbstverlusts.
Die Haut, das bin ich; so wie man mich sieht, so wie ich mich zeige. Didier Anzieu
[5] spricht von „Haut-Ich“. Ich und Haut sind synonym. Person ist aber mehr als Haut;
auch die inneren Organe gehören dazu. Man denke nur an die symbolische Bedeutungen
von Herz, Leber oder Niere. Viel konkreter als Anzieu hat Ashley Montagu [6] die strukturbildenden frühen Prozesse zwischen Mutter und Kind beschrieben, und
zwar deswegen besonders anschaulich, weil er auf die Tierwelt zurückgreift, in der
das Baby nicht nur angefasst, getragen, gestreichelt und liebkost, sondern auch mit
der Zunge geleckt wird. Speziell diese leckende Berührung sieht Montagu als strukturbildend
an. Die nicht minder wichtige Bedeutung des Streichelns (Streicheleinheiten!) ist
ja durch die bekannten Experimente mit Affen durch Harlow u. Harlow [7] erwiesen: Nur diejenigen jungen Affen, die sich an ein Fell ankuscheln konnten,
entwickelten sich; denselben Zweck erfüllte eine durch eine Glühbirne Wärme ausstrahlende
Ersatzmutter aus Frottee, nicht aber eine Ersatzmutter aus Maschendraht!
Im Lauf des psychoanalytischen Prozesses fallen, symbolisch gesehen, die äußeren Hüllen;
m. a. W.: Das zuvor Verhüllte wird enthüllt. Die Analyse geht schließlich „unter die
Haut“. Dabei werden die eingangs erwähnten Grenzen immer wieder überschritten. Dabei
werden zwangsläufig wunde Stellen berührt, wieder aufgerissen. Sie haben aber die
Chance, neu und besser zu verheilen.
Haut und Affekt
Die Haut ist nicht nur Symbol, sondern auch Ausdrucksorgan von Affekten, wie folgende
Redewendungen zeigen: Vor Wut aus der Haut fahren, ihm stieg die Zornesröte ins Gesicht,
Erröten aus Scham, Erblassen vor Schreck, gelb oder grün werden vor Neid, vor Freude
gerötete Wangen, ein trauriger Gesichtsausdruck. Ein ausgeglichener Mensch fühlt sich
wohl in seiner Haut; sieht aus wie das blühende Leben. Die über die Haut zum Ausdruck
kommenden Affekte werden von anderen registriert und steuern das soziale Zusammenleben.
Hautkrankheiten sind aber auch Ausdruck eines gestörten Affektlebens: Ein Fall von
Sigmund Freud [8] leidet an „Mitessern“, die er sich immer wieder ausdrücken muss, weil er sich innerlich
schmutzig, böse und schlecht fühlt. Er steht unbewusst unter dem Zwang, das Böse und
Schlechte im Inneren nach außen zu bringen. Dabei ist sein Ich, in Übereinstimmung
mit Anzieus Begriff des Haut-Ichs „mit der Haut identifiziert“ ([9], S. 237). Viele Patienten mit Akne excoriée bzw. Skin-Picking-Syndrom können so
psychologisch verstanden werden.
Ein wichtiger Affekt ist noch nicht erwähnt: Ekel. Dinge, die schlecht oder verdorben
sind, sei es körperlich oder seelisch, erzeugen Ekel. Dabei wird es einem übel. Übler
Körpergeruch löst Ekel aus. Man kann sich vorstellen, dass dabei Schlechtes aus dem
Innern über die Haut nach außen dringt. Die Reaktion der anderen, die den üblen Körpergeruch
riechen, ist Ekel und Abscheu.
Jean Paul Sartre [10] hat dem Ekel einen ganzen Roman gewidmet: Hier ist Ekel ein Grundgefühl des Seins
des Menschen, eine Existenzerfahrung, so wie für Martin Heidegger ([11], S. 184) die „Grundbefindlichkeit der Angst“ zur Existenz jedes Menschen gehört.
Sartres Protagonist Antoine Roquentin lebt in einer heruntergekommenen Kleinstadt,
die bezeichnenderweise Bouville heißt (wörtlich: Dreckstadt). Der Held des Romans
sieht überall nur das Schlechte, in den anderen nur „Schweinehunde“, aber auch sich
selbst gegenüber empfindet er nur Ekel und Abscheu. Die Faszination, die der Roman
beim Lesen auslöst, muss damit zu tun haben, dass Sartre in seiner surrealistischen
Überzeichung etwas trifft, was uns nicht fremd ist. Hinter Ekel verbirgt sich vieles
von dem, was wir als böse oder schlecht empfinden; in uns wie in anderen; psychoanalytisch
das sogenannte „böse Objekt“, ebenso unheimlich und faszinierend wie attraktiv und
abstoßend [12].
Hautkranke sind „Gezeichnete“
Hautkranke sind „Gezeichnete“
Sie zeigen im Extrem etwas von dem, was als „conditio humana“ gilt, als etwas, was
alle Menschen betrifft: Wir sind gezeichnet von den Erfahrungen unseres bisherigen
Lebens. Dazu gehören unvermeidlicherweise auch schlechte Erfahrungen, die sich als
sogenannte „böse Objekte“ bzw. Introjekte in unserem Seelenleben niederschlagen. Philipp
Roth [13] beschreibt in seinem Roman „Der menschliche Makel“ einen Afroamerikaner, der seine
schwarze Haut als Makel empfindet und sich deswegen als weiß ausgibt. In dieser Komödie
der menschlichen Identität wird gezeigt, wie sich der Mensch verfehlen, aber auch
finden kann. Auf Umwegen stößt der Protagonist auf eine Frau: Die Sexszenen funktionieren,
nicht aber die Selbstfindung; erst kurz vor einer letzten Autofahrt, einsam auf einem
zugefrorenen See, kommt der Held zu sich.
In meiner Interpretation hat er sich verfehlt, sonst hätte er nämlich seine schwarze
Herkunft akzeptieren müssen, und zwar im doppelten Sinne: als genetische Herkunft
und im übertragenen Sinne das schwarze bzw. dunkle Unbekannte in ihm.
Ein Kainsmal ist die Folge einer bösen Tat, wobei diese altbiblische Geschichte deutlich
macht, dass eine böse Tat Folgen nach sich zieht, an denen wir wiederum auf die böse
Tat rückschließen können.
Ein Mal auf der Haut kann aber auch an eine gute Tat erinnern: In der Erzählung „Das
Brandopfer“ von Albrecht Goes [14] wird über eine Frau erzählt, die während der NS-Zeit Juden schützt. Als später ihr
Haus in Brand gerät, wird sie von einem jener Menschen geschützt, die sie früher geschützt
hat. Nur das Brandmal auf ihrem Gesicht erinnert an ihre gute Tat.
In der Oper „Die Gezeichneten“ von Franz Schreker ([15], S. 149) geht es um das Drama der Hässlichkeit (Uraufführung 1918): Der Protagonist
Alviano hat Angst, wegen seiner Hässlichkeit abgelehnt zu werden. Trotzdem zeigt eine
Frau (Carlotta) Interesse an ihm, die Frau wird aber ihrerseits von einem Freund des
Protagonisten (Graf Tamare) geliebt; also eine typische Dreiecksgeschichte. Das Drama
endet tragisch: Tamare gewinnt Carlotta, der hässliche Alviano tötet den Rivalen Tamare.
Carlotta kann Alviano nur noch verachten. Dieser endet im Wahnsinn.
Ich sehe in dieser Tragödie des hässlichen Mannes ein Paradigma für die conditio humana:
Jeder fühlt sich mehr oder weniger hässlich, zumindest nicht so mit seinem Ideal übereinstimmend,
wie er oder sie ist. Schmerzliche Gefühle des Unvollkommenseins, der Beschämung sind
die Folge. Hautkrankheiten sind insofern mehr oder weniger Extremvarianten von Hässlich-Sein.
Hautkranke sind in dieser Sicht besonders Gezeichnete, d. h.: Die Hauterkrankung ist
ein Zeichen, das der Dermatologe natürlich als Symptom einer ganz bestimmten Hauterkrankung
diagnostiziert, das der Psychoanalytiker aber als Ausdruck einer ganz bestimmten Lebens-
bzw. im psychologischen Sinne verstandenen Krankengeschichte versteht, in denen sich
die Gezeichneten hässlich, zumindest unansehnlich fühlen.
Was bedeutet Intimität?
Etymologisch hat Intimität folgende vier Bedeutungen:
-
Intim heißt so viel wie „vertraut“, im Gegensatz zu „fremd“.
-
Intim bedeutet „diskret“, im Gegensatz zu „öffentlich“; z. B. ein „tete a tete“ im
„chambre séparée“.
-
Intim steht für „privat“. Die Intimsphäre ist der Bereich der persönlichen Angelegenheiten.
Mashud Khan [16] spricht von der „privacy of the self“. Damit ist ein privater Bereich gemeint, der
einen vor anderen schützt. Psychoanalytiker verstehen intim immer als etwas, was die
Art einer Beziehung charakterisiert; einmal in Beziehung zu anderen, aber auch in
Beziehung zu sich selbst. Im ersten Fall sprechen wir von einer objektbezogenen, im
zweiten von deren narzisstischer (selbstbezogenen) Beziehung.
-
Intim bedeutet „sexuell“. Im konkreten Sinn ist der Intimbereich der Bereich des Genitale;
man spricht von Intimzone. Noch intimer als der Bereich des Sexuellen sind die Intimbereiche
des Analen und Urethralen. Die sexuelle Konnotation der Beziehung wird schon in der
Mode deutlich, wo es z. B. heißt: „Sie zeigt Haut“. Transparente Kleidung, Striptease
und Dessous spielen mit dem Intimbereich, verhüllen und enthüllen zugleich. Dies sind
eindeutige, zuweilen natürlich auch zweideutige „Signale der Liebe“: reizend, aufreizend,
anregend, aufregend, erregend. Karl Grammer [17] schrieb darüber ein ganzes Buch; Untertitel: Die biologischen Gesetze der Partnerschaft.
Die moderne Psychoanalyse grenzt im Gegensatz zu Freuds Sexualitätstheorie [18] den Bereich der Zärtlichkeit – engl. „sensuality“ – von Sexualität ab. Hier geht
es nicht um Erregung, sondern um Beruhigung, Besänftigung. Bei Joseph Lichtenberg
[19] gehört der Bereich der Zärtlichkeit zwar auch zum Motivationssystem Sexualität und
Sensualität, beides wird aber klar voneinander getrennt.
Ein weiteres wichtiges Motivationssystem, das mit Haut und Intimität zu tun hat, ist
das der Bindung (engl.: attachment and affiliation); ein Bereich, der in den letzten
Jahren eine kaum noch zu übersehende Menge an Literatur hervorgerufen hat: ausgehend
von John Bowlby [20], über Karl-Heinz Brisch [21] bis zu Grossmann u. Grossmann [22] und Peter Fonagy [23]. Dabei geht es um die früheste Bindung des Babys an seine Bezugspersonen: Alle fünf
Sinne spielen hierbei eine Rolle:
-
visuell: sehen und gesehen werden
-
akustisch: hören und gehört werden
-
olfaktorisch: riechen im Sinne von Wahrnehmen eines Geruchs, aber auch einen Geruch
ausströmen
-
schmecken; ebenfalls im doppelten Sinne aktiv wie passiv, und vor allem natürlich
-
berühren und berührt werden
So wie ich mich in diesem Text langsam dem Thema „Intimität“ annähere, so sollte man
sich auch einem anderen Menschen nähern: respektvoll, anerkennend, die „Privatheit“
des anderen achtend. Man stimmt sich aufeinander ab, handelt Nähe und Distanz aus,
oszilliert zwischen Nähe und Distanz, in ständiger wechselseitiger Abstimmung.
Dabei sind, je nach gesellschaftlich vermittelten Regeln, einzelne kleine Schritte
zu beachten, über welche die Grenzen von höflichem Abstand zum anderen nach und nach
überschritten werden; man denke nur an die Stadien des sogenannten „dating“, wie sie
von den amerikanischen Colleges beschrieben wurden: von anschauen über berühren, umarmen,
küssen, „petting“, „heavy petting“ bis zum sexuellen Vollzug.
Soziologen beschreiben allgemeingültige Regeln wie z. B. die: Man sollte die Intimsphäre
des anderen respektieren. Dabei gibt es charakteristische Unterschiede im Zusammenleben
zwischen Eheleuten, Arbeitskollegen, Nachbarn, Liebespaaren, Verwandten oder Untergebenen
und Schülern, die je nach Kultur variieren. Der amerikanische Soziologe Michael Argyle
[24] hat die nichtverbale Kommunikation über visuelle und taktile Reize im zwischenmenschlichen
Zusammenleben minutiös beschrieben: Er differenziert in seiner Annäherungs-Vermeidungs-Theorie
unterschiedliche Grade von Intimität wie z. B. Augenkontakt, Lächeln, Berühren. Dabei
stellt er interessante Unterschiede im Hinblick auf diejenigen Körperbereiche fest,
die berührt werden dürfen, und diejenigen, welche nicht berührt werden dürfen ([Abb. 2]).
Abb. 2 Körperregionen, die nach den Regeln sozialen Umgangs berührt oder nicht berührt werden
dürfen. Die unterschiedliche Farbgebung gibt dabei unterschiedliche Grade an: Hautbereiche,
die ohne Affront berührt werden dürfen (rot), die „tabu“ sind (gelb), und solche,
die dazwischen liegen (nach [41], zit. in [24], S. 93).
Um pathologische Formen von Intimität handelt es sich, wenn die wechselseitige Abstimmung
gestört ist, keine Rücksicht auf den anderen genommen wird (dem anderen auf die Pelle
rücken), im Extrem: Vergewaltigung, sexueller Missbrauch, Misshandlung. Das gewaltsame
Eindringen in die Intimität des anderen bestimmt die gesamte abendländisch-christliche
Kultur in bildender Kunst und Literatur. Dyonisos ist nicht nur der Gott des Festes,
sondern auch der Gott der Überschreitung, wie uns Georges Bataille [25] in „Die Tränen des Eros“ eindrucksvoll verdeutlicht.
Intimität im Wandel von Geschichte und Gesellschaft
Intimität im Wandel von Geschichte und Gesellschaft
Was als intim oder als das Gegenteil, nämlich peinlich oder beschämend gilt, wechselt
je nach Stand der Entwicklung einer Gesellschaft, nach Kultur und Zivilisation.
Kultur verstehen wir als Gesamtheit der Lebensstile einer Gesellschaft einschließlich ihrer
geistigen Dimension (Kulturphilosophie, Kulturanthropologie, Kulturgeschichte usw.).
Zivilisation umfasst dagegen die technisch-materielle Dimension einer Kultur, aber auch deren
Wissen. Heute sprechen wir von Informationsgesellschaft.
Norbert Elias [26] hat in seinen soziogenetischen und psychogenetischen Untersuchungen über die Verhaltensänderungen
in den westlichen Oberschichten bekanntlich beschrieben, dass die Benimmvorschriften
über die Jahrhunderte an Strenge zugenommen haben; meines Erachtens durchaus überzeugend,
wenn wir z. B. an die Sitten beim Essen denken, die sich vom Mittelalter bis heute
in Richtung auf eine immer mehr zunehmende Kontrolle gewandelt haben; mit Etikette
und Manieren, so wie sie kürzlich der abessinische Prinz Asfa-Wossen Asserate [27] in seinem Buch „Manieren“ höchstvergnüglich für die Leser beschrieben hat. Die gesellschaftlichen
Normen, Regeln und Tabus zwingen die Menschen, ihre Bedürfnisse aufzuschieben, Affekte
zu kontrollieren, die neuen sozialen Gebote zu verinnerlichen; um den Preis des berühmten
Unbehagens in der Kultur [28].
Haut und Scham
Das Thema Scham wird in der Psychoanalyse vielfach diskutiert; klinisch, historisch
und sozialpsychologisch [29]. Ich beziehe mich aber im Folgenden auf einen neueren philosophischen Beitrag zum
Thema: „Das Drama der Scham. Ursprung und Entfaltung eines Gefühls“ [30]. Darin wird ein wichtiger Unterschied zwischen zwei Arten von Scham verdeutlicht,
nämlich:
a) Passive Bloßstellung = Pudor denudationis: Das Subjekt ist ängstlich, will etwas
verbergen, täuscht deswegen womöglich etwas anderes vor, wird entlarvt und schämt
sich.
b) Scheiterndes Hervortreten = Pudor exhibitionis: Das Subjekt ist wagemutig und tritt
aus seinem Schatten hervor, erhebt einen Anspruch, der sich dann aber im Scheitern
als Hybris erweist. Zur Aufheiterung ein Beispiel für passive Bloßstellung: „Ein Professor
für Moraltheologie wird allseits wegen seiner klaren Moral geschätzt, weil er sie
nicht nur lehrt, sondern auch lebt. Eines Tages trifft ihn ein Student beim Verlassen
eines Pornokinos. Der Professor wäre am liebsten in den Erdboden versunken“ ([30], S. 17).
Ein Beispiel für die andere Form der Scham, das scheiternde Hervortreten, ist der
Witzerzähler: „Ein Herr gilt in Gesellschaft als etwas langweilig, wird aber wegen
seiner Zurückhaltung und zuverlässigen Höflichkeit auch geschätzt. Eines Tages gibt
er einen gewagten Witz zum Besten. Statt des Lacherfolgs tritt befremdetes Schweigen
ein und der Herr weiß nicht, wo er noch hinschauen soll“ ([30], S. 56). Er hat einen Tabubruch begangen, das Obszönitätsverbot überschritten, damit
etwas gewagt, was erfolgreich ausgehen, aber auch scheitern kann.
Beide Schamformen sind ein intersubjektives Geschehen, ein Spiel von Verbergen und
Enthüllung, wobei der „Blick des Anderen“ das entscheidende Moment ist [31]. Dabei geht es immer um die unbewusste Bedeutung der Szene, wobei der andere mit
einem „Schäm dich!“ die primäre Selbstsicherheit des Kindes erschüttert.
Vier wichtige Intim-Beziehungen
Vier wichtige Intim-Beziehungen
Die Intimbeziehung zwischen Mutter und Kind
Ziehen wir Freuds ([32], S. 257) Vorstellung vom Ich als dem „Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen“
heran, dann sind es die vielfältigen pflegenden Verrichtungen der Mutter mit ihrem
Baby; beim Wickeln, Stillen, wie es in der modernen Säuglingsforschung minutiös in
vielen Videos festgehalten ist. Die Rolle der Haut ist dabei so entscheidend für die
gesamte Entwicklung der wachsenden Persönlichkeit, dass ich hier statt „oraler“ Phase
lieber von einer „kutanen“ Phase sprechen würde.
Die Intim-Beziehung zwischen Liebenden
Auf die Stadien des Petting habe ich schon hingewiesen. „Die Lust des coeundi et exeundi“
beschreibt Günther Heisterkamp [33] als sexuellen Handlungsdialog in den Stadien 1. Annähern, 2. Steigern, 3. Verströmen,
4. Ausklingen und 5. Entfernen.
Wie dabei Intimität, Leidenschaft und Verbindlichkeit gleichermaßen eine Rolle spielen,
haben Psychologen, nämlich Robert J. Sternberg und Michael L. Barnes [34] in „The Psychology of Love“ beschrieben ([Abb. 3]).
Abb. 3 Die drei Komponenten der Liebe. Jede der drei Komponenten kann auf Kosten der anderen
überwiegen. Das Dreieck erlaubt es, den Schwerpunkt einer jeweils gegebenen Liebe
an einem Punkt zu lokalisieren (nach [34]).
Je nach dem Grad der drei Komponenten lässt sich eine aktuelle Liebe in dem Dreieck
genau lokalisieren: mehr Intimität, weniger Leidenschaft oder mehr Leidenschaft, weniger
Verpflichtung, usw. Bei Überwiegen einer Komponente sprechen die Autoren von einer
unbalancierten Beziehung, wie in unserem Bild von einem ausbalancierten Dreieck. Im
Wagnis des Liebens und Geliebt-Werdens geht es gleichermaßen um Selbstverwirklichung;
wohlgemerkt, nicht nur bei sich selbst, sondern auch beim Partner. Dabei kann die
Selbstverwirklichung des einen an die Grenzen der Liebesbeziehung des anderen stoßen.
Jede Seite fragt sich: Was kann verwirklicht werden und was nicht? Die Liebesbeziehung
bleibt solange konstruktiv, wie sich beide Seiten selber verwirklichen können. Sie
wird in dem Moment destruktiv, wenn die Selbstverwirklichung des anderen durch Übertragungen
und Projektionen des einen gestört bis zerstört wird.
Die Intimbeziehung zwischen Analytiker und Patient
Hierbei ist besonders zu beachten, welchen Geschlechts die beiden Protagonisten sind.
Es macht einen großen Unterschied, ob ein männlicher Arzt mit einer Patientin oder
einem Patienten zu tun hat bzw. eine Ärztin auf der einen Seite mit einer Frau oder
einem Mann auf der anderen Seite. Die dabei entstehenden Beziehungsmuster sind dann
einmal heterosexuell, das andere Mal homosexuell getönt.
Dabei unterscheiden wir jeweils drei Ebenen:
-
die manifeste Beziehung; dazu gehört auch die Arbeitsbeziehung
-
die unbewusste Ebene von Übertragung und Gegenübertragung
-
eine basale, an der ursprünglichen Mutter-Kind-Beziehung orientierte Ebene der Übereinstimmung
oder Nicht-Übereinstimmung
Auch auf die Gefahr hin, das Übertragungs-Gegenübertragungs-Konzept der Psychoanalyse
überzustrapazieren, so gilt doch Folgendes: Wir reagieren auf alles, Menschen wie
Sachen, mit einer besonderen gefühlsmäßigen Reaktion: Es zieht uns an oder stößt uns
ab; das kann auch ein Gemälde, eine Plastik, eine bestimmte Musik sein. Psychoanalytiker
haben unter Nutzung ihrer Gegenübertragung interessante Einsichten über Kunstwerke
und deren Aussage gewonnen; von Freud [35] angefangen (Der Moses des Michelangelo) bis hin zu Gisela Greves [36] „Kunstbefragung, 30 Jahre psychoanalytische Werkinterpretation“ oder, was die Musik
betrifft, zu Bernd Oberhoff [37] „Die Psyche im Spiegel der Musik“.
Die Intim-Beziehung zwischen Arzt und Patient
Was sich zwischen Mutter und Kind und zwischen Liebenden abspielt, das findet sich
auch zwischen Arzt und Patient. Hier ist das Sehen und Gesehen-Werden zwar fachlich
geregelt, in der unbewussten Dimension sehen wir dabei aber auch alle die Merkmale
am Werk, die wir hier bisher diskutiert haben: die Haut als Grenze, ihre symbolische
Bedeutung, ihre affektive Dimension, die Rolle von Scham und Ekel, das durch die Hauterkrankung
„Gezeichnet-Sein“. Jeder Patient hat auch in der Sprechstunde, wenn er sich ausziehen
muss, Angst, sich bloßzustellen, sich eine Blöße zu geben. Der Arzt betrachtet die
Haut, vielleicht zusätzlich mithilfe eines durchsichtigen Spatels, berührt sie, überprüft
vielleicht das „Kerzen-Phänomen“. Der Patient erlebt dies nicht nur als Angeschaut-Werden,
sondern auch als ein Durchschaut-Werden; Grund genug, hier besonders vorsichtig zu
sein, den Patienten vor Beginn der eigentlichen Untersuchung auf das Prozedere vorzubereiten.
Dabei könnte das psychoanalytische Konzept von Übertragung und Gegenübertragung auch
in der Dermatologie für ein tieferes Verständnis von Hautkrankheiten nützlich sein.
Sind wir mit Hautkranken konfrontiert, dann löst diese Begegnung zwangsläufig affektive
Reaktionen aus. Hautausschläge wie Exantheme, Blasen oder Pusteln auf der Haut, Schuppenbildung,
Geschwüre oder gar fortgeschrittene Stadien von Hautkrebs im Gesicht lösen beim Betrachter,
je nach dessen Sensibilität und Ausprägung der Erkrankung, Reaktionen aus, die von
leisem Ekel, zu eigenartigem Befremden, zu einer Mischung von Abscheu und Ekel bis
zu einem abstoßenden Erschrecken und zu blankem Entsetzen reichen können. Derartige
abschreckende Gegenübertragungsreaktionen mögen früher in der Begegnung mit Lepra-
oder Syphilis-Kranken oder gar bei der Pest mit hässlichen und übelriechenden „Pestbeulen“
noch schlimmer gewesen sein; nicht von ungefähr wurden die davon befallenen Menschen
stigmatisiert und abgesondert.
Nicht weniger wichtig als derartige krasse Reaktionen sind aber auch Feinheiten im
affektiven Umgang mit Hautpatienten: Eine geschulte Analytikerin wie Christina Detig-Kohler
[1] reagiert seismografisch auf die feinsten Übertragungssignale, wobei Phasen der Annäherung
und des Sich-Trennens ebenso wechseln wie solche der Erregung und der Zurückweisung.
Wie sich die auf der Haut abspielende besondere Thematik in der therapeutischen Beziehung
spiegelt, wie sie verstanden und bearbeitet werden kann, zeigt auch Christa-Maria
Höring [38] in „Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei Neurodermitis. Handlung und
Deutung als Antwort auf die Körpersprache“. Wie die psychoanalytische Psychosomatik
gezeigt hat, ist die Haut ja als Organ Projektionsfläche, „Theater“ oder „Austragungsort“
für zahlreiche ungelöste Konflikte, besetzt mit den unterschiedlichsten Affekten wie
Wut, Trauer, Angst. Ziel der Psychoanalyse ist es dann, die im Symptom via Konversion
oder Somatisierung gebundenen Affekte und ungelösten Konflikte in ihren einzelnen
Bestandteilen über regressive Prozesse in die Beziehung zwischen Patient und Analytiker
überzuführen, wo sie dann unter Nutzung von Übertragung und Gegenübertragung im Laufe
des psychoanalytischen Prozesses zugänglich und bearbeitbar werden. Im günstigen Fall
verwandelt sich dabei das Körper-Symptom einer Hauterkrankung allmählich oder über
dramatische Veränderungen in eine Affekt-Beziehung, m. a. W.: Aus der Hauterkrankung
ist eine affektiv hoch aufgeladene zwischenmenschliche Beziehung geworden. Diese wird
psychoanalytisch erkannt; dann können die darin gebundenen Affekte nach und nach verarbeitet
werden. Die beiden an diesem schmerzhaften Prozess beteiligten Personen müssen allerdings
stark genug sein, um die hinter der Hauterkrankung verborgenen Affekte tolerieren
zu können. Psychoanalytiker lernen im Laufe ihrer mehrjährigen Weiterbildung die Gegenübertragung
für das Verstehen der gerade aktuellen unbewussten Interaktionen zu nutzen. Aber auch
Hautärzte haben die Möglichkeit, mit Übertragung und Gegenübertragung eigene Erfahrungen
zu machen, und zwar über sogenannte Balintgruppen [39]
[40]. In derartigen Gruppen können sie sich über schwierige Fälle, die ihnen emotionale
Probleme machen, mit anderen Kolleginnen und Kollegen unter Leitung eines Analytikers
austauschen und die damit verbundenen Affekte abreagieren. Über das Reden und Zuhören
lernen sie dabei gleichsam spielerisch, nicht nur zu den Gefühlen ihrer Patienten
einen Zugang zu finden, sondern auch zu ihren eigenen.