physiopraxis 2012; 10(04): 18-19
DOI: 10.1055/s-0032-1311838
physiowissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

Wissenschaft Kommentiert – Rückenschmerzen: Stabilisation versus Verhaltenstherapie


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Publication Date:
25 April 2012 (online)

 

Ein Training der lokalen Stabilisatoren hilft bei Rückenschmerzen genauso gut wie Verhaltenstherapie. Hannu Luomajokis Meinung: Hätte man die Patienten vorab in Subgruppen eingeteilt, hätten die Therapien wahrscheinlich noch bessere Ergebnisse erzielt.


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Physiotherapeutischer Hintergrund

In der Therapie von Patienten mit chronischen unspezifischen Rückenschmerzen (CNSLBP) sind kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze mit allmählicher Belastungssteigerung („graded activity“) ebenso verbreitet wie Übungen zur Verbesserung der motorischen Rumpfkontrolle - vor allem die für den M. transversus abdominis und den M. multifidus. Bislang gab es jedoch nur eine Studie, in der diese beiden Methoden gegeneinander verglichen wurden (1). Das Ergebnis damals: kein Unterschied.


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Fragestellung

Erzielt man mit Übungen zur Verbesserung der motorischen Kontrolle hinsichtlich Schmerz und Funktion von Patienten mit CNSLBP bessere Resultate als mit kognitivem Verhaltenstraining?


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Einschlusskriterien

An der Studie konnten Patienten teilnehmen, die seit mindestens drei Monaten unter unspezifischen Rückenschmerzen litten.


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Ausschlusskriterien

Nicht teilnehmen konnten Patienten mit einer Nervenwurzelproblematik, vorangegangener Wirbelsäulenoperation, Red Flags und solche, bei denen ein Training kontraindiziert war.


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Studiendesign

Randomisierte kontrollierte Studie. Die Autoren ließen das Studienprotokoll registrieren und veröffentlichten es vorab.


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Intervention

172 Patienten, die wegen CNSLBP einen Hausarzt oder ein Krankenhaus aufgesucht hatten, wurden in zwei Gruppen ä 86 Patienten randomisiert:

  • > Gruppe 1: spezifische Stabilisationsübungen mit zunehmender Belastungssteigerung

  • > Gruppe 2: Verhaltenstherapie mit Übungen

Beiden Gruppen erhielten innerhalb von zwei Monaten 14 Therapiesitzungen von jeweils einer Stunde Dauer sowie ein Heimprogramm. Nach vier und zehn Monaten frischten sie ihr Programm jeweils einmalig auf. Die Stabilisationsgruppe trainierte individuell nach dem Originalplan von Paul Hodges: zuerst ihre tiefen lumbalen Stabilisatoren, dann die Bewegungskontrolle. Anschließend steigerte sie die Belastung allmählich. Die Probanden in Gruppe 2 übten mit zunehmender körperlicher Belastung. Ihre Therapeuten ignorierten Schmerzverhalten und Symptome, gaben aber positives Feedback, wenn die Patienten motiviert mitarbeiteten. Dazu halfen ihnen die Therapeuten, ihre Bewegungsangst zu verringern, und erklärten den Patienten die Schmerzmechanismen.

Kommentar

Es ist interessant, dass die sehr populäre „segmentale Stabilisation“ mittels Aktivierung der tiefen Rumpfmuskeln zur Therapie von NSLBP nicht effektiver ist als eine kognitiv-verhaltenstherapeutische Vorgehensweise. Beide Methoden haben eine gewisse Evidenz und werden häufig in der Praxis eingesetzt. Da die Studie methodologisch hervorragend durchgeführt worden ist und so 8 von 10 Punkten auf der PEDro-Skala erreicht, ist die Glaubwürdigkeit ihrer Resultate sehr hoch.


Doch es gibt zwei Dinge zu bemerken: Zum einen geht man mittlerweile davon aus, dass Patienten mit NSLBP eine sehr heterogene Gruppe sind. Daher kann ein solches „Gießkannenprinzip“, bei dem alle Patienten gleich behandelt werden, zwar funktionieren, aber niemals optimal. Wie die Autoren selbst feststellen, sollten die Patienten vielmehr vorweg in Subgruppen eingeteilt werden. Denn es ist naheliegend, dass ängstliche, unsichere und katastrophisierende Patienten eher von der kognitiv-verhaltenstherapeutischen Vorgehensweise profitieren und diejenigen, die klare Probleme der motorischen Kontrolle ohne oder mit geringer Angstkomponente aufweisen, eher von entsprechenden Übungen.


Weiterhin zeigen Studien, dass die Untersuchung des M. transversus abdominis weder reliabel (2) noch valide (2, 3) ist und dass sich Schmerz und Behinderung nicht zwangsläufig verbessern, wenn sich die Aktivität dieser Muskulatur verbessert hat (4). Zudem belegen mehrere Effektivitätsstudien und Reviews, dass das Training der spezifischen Stabilisatoren nicht effektiver ist als andere Trainingsformen oder sonstige Physiotherapie (5). Somit sollten Therapeuten ihre Vorgehensweisen bei Patienten mit CNSLBP kritisch reflektieren.

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Prof. Dr. Hannu Luomajoki ist promovierter Physiotherapeut und leitet den Masterstudiengang (MAS) in muskuloskeletaler Physiotherapie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur, Schweiz.

Zu Beginn der Studie konnten die Autoren zwischen den Patienten keine Unterschiede feststellen hinsichtlich der wichtigsten Ergebnisparameter (Schmerzen, Behinderung, Funktion) und der weiteren Kovariablen (Angst, Selbstwirksamkeit, physisches Aktivitätsniveau, lumbale Instabilitätsmuster).


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Ergebnisparameter

Die Autoren maßen die Ergebnisparameter nach der Intervention sowie vier und zehn Monate später. Primäre Outcomes waren die durchschnittliche Schmerzangabe in der vergangenen Woche auf einer Skala von 0-10 sowie die Werte auf der Patient-Specific Functional Scale, bei der Probanden die Verbesserung bei bestimmten Aktivitäten messen. Zu den sekundären Outcomes zählten unter anderem die Global Impression of Perceived Effect Scale - also die subjektiv erlebte Veränderung - und die mit dem SF-36 gemessene Lebensqualität.


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Ergebnisse

Alle Patienten verbesserten sich signifikant und klinisch relevant. Zwischen den Therapiegruppen gab es zu keinem Messpunkt Unterschiede.


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Schlussfolgerung

Auch diese Studie konnte keinen Unterschied zwischen dem Effekt von motorischen Kontrollübungen und der kognitiv-verhaltenstherapeutischen „graded activity“ feststellen. Alle Patienten bekamen mindestens 20 Stunden intensive Therapie. Der Studienplan war vorab publiziert und registriert worden, sodass nichts nachträglich geändert werden konnte. Eine Limitation könnte sein, dass die Patienten nicht vorweg in Subgruppen eingeteilt worden waren. Möglicherweise hätten Patienten mit schlechter Aktivierung des M. transversus abdominis besser von motorischen Kontrollübungen profitiert und ängstliche mehr von der Verhaltenstherapie. So zeigt diese Studie, wie viele andere zuvor, dass keine Übungstherapie einer anderen überlegen zu sein scheint. Daher können Kliniker beide Interventionen individuell nach den Bedürfnissen der Patienten einsetzen.

Macedo LG, Latimer J, Maher CG et al. Effect of Motor Control Exercises Versus Graded Activity in Patients With Chronic Nonspecific Low Back Pain: A Randomized Controlled Trial.
Phys Ther 2012; 92: 363-377


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