Die konservative Urotherapie als Behandlungsoption funktioneller Inkontinenz bei Kindern
beinhaltet u.a. die Beratung bez. des Miktionsverhaltens, das Miktions- und Biofeedbacktraining
oder die Physiotherapie. Einzelne Studien belegen, dass eine stationäre Urotherapie
bei ca. 70 % der Kinder erfolgreich ist. Ob und wie lange dieser Effekt anhält, hat
nun eine niederländische Studie untersucht.
J Urology 2011; 78: 1391–1396
mit Kommentar
Kinder mit funktioneller Inkontinenz profitieren von einer frühen, intensiven Urotherapie,
so das Ergebnis dieser niederländischen Studie. Die älteren Kinder sprachen zwar schneller
auf die Therapie an, im Langzeitverlauf machte das Alter der Patienten jedoch keinen
Unterschied.(©MEV)
Wer in der Kindheit gut auf eine intensive Urotherapie anspricht, hat auch langfristig
i.d.R. keine Miktionsbeschwerden. Zu diesem Ergebnis kamen Marianne Vijverberg, University
Medical Center Utrecht/Niederlande, und Kollegen anhand einer Kohortenstudie mit 75
Patienten zwischen 6 und 17 Jahren. Diese wurden zwischen 1986 und 1990 wegen Blasenentleerungsstörungen
oder überaktiver Blase stationär urotherapeutisch behandelt. Der Altersdurchschnitt
der Kinder lag zu Beginn der Studie bei 9,9 ± 2,4 Jahren. Die Patienten erhielten
in einem intensiven, stationären Training Anleitungen zu Miktionsgewohnheiten wie
Häufigkeit des Wasserlassens und der Sitzpositionen beim Toilettengang. Zudem wurde
geschult, wie Obstipation und Harnwegsinfektionen verhindert werden könnten. Die Urotherapie
beinhaltete auch die Untersuchung des Harnflusses durch Uroflowmessung, Biofeedback-Training
und Anleitungen zur Verhaltensänderung.
84 % der Patienten erzielten gute Langzeitresultate
Nach 6 Monaten wurden die Trainingsergebnisse anhand der folgenden Variablen gewertet:
Art des Harndrangs, Einnässen am Tag, Miktionsfrequenz, Harndrang und Miktionsprofil.
Dieselben 4 Variablen wurden für die Langzeitstudie im Jahr 2007 (durchschnittlich
17,9 Jahre später) erneut telefonisch abgefragt. Die Bewertung erfolgte jeweils anhand
der Kategorien "gut", "moderat" und "schlecht". Die Kurzzeitergebnisse unterschieden
sich nicht signifikant von denen der Langzeitbeobachtung (p = 0,726). Von den 56 Patienten,
die damals ein gutes Resultat erzielten, fielen 47 Patienten im Langzeitverlauf weiterhin
in die Kategorie "gut".
Von 7 Patienten mit zunächst "moderatem" Erfolg konnten sich 5 Patienten zu einem
"gut" steigern. Auch von den 12 Patienten, deren Ergebnisse ursprünglich "schlecht"
ausfielen, verbesserten sich 11 Patienten zu einem "gut". Im Durchschnitt waren diese
16 Patienten, die sich im Verlauf verbessert hatten, 2,1 Jahre nach der intensiven
Urotherapie symptomfrei. Insgesamt wiesen 84 % der Patienten im Langzeitverlauf gute
Resultate auf. Dennoch waren zum Zeitpunkt der Langzeitbeobachtung bei 8 Patienten
die Werte noch immer "mangelhaft", bei 4 Patienten sogar "schlecht". Die Autoren untersuchten
außerdem, inwiefern das Alter der Patienten bei Therapiebeginn die Wirksamkeit der
Urotherapie beeinflusste. Obwohl ältere Kinder nach 6 Monaten offensichtlich bessere
Resultate erzielten, war dieser Effekt im Langzeitverlauf nicht mehr nachweisbar (p
= 0,687).
Die Studie liefere mehrere Argumente, funktionelle Störungen des unteren Harntraktes
schon im Kindesalter urotherapeutisch zu behandeln, so die Autoren. Zwar wurde ein
Großteil derjenigen Patienten, die kurzfristig höchstens moderat auf die Urotherapie
ansprachen, im späteren Verlauf auch spontan symptomfrei, aber trotzdem sei Abwarten
keine Option, weil sonst behandelbare Ursachen übersehen werden könnten. Zudem verbessere
die Urotherapie die Lebensqualität der Patienten, da Inkontinenz im Kindesalter einen
negativen psychologischen Effekt habe. Die Autoren sehen zudem einen finanziellen
Vorteil frühzeitiger urotherapeutischer Behandlung: Die Kosten für Arztbesuche und
Medikamente fielen ansonsten über die Jahre höher aus.
Dr. Bettina Rakowitz, Sachsen b. A.
Kommentar
Erste Ergebnisse zu Langzeitrespondern
Dr. Cornelia Möhring ist Leiterin der Kinderurologie an der Klinik für Urologie, Kinderurologie und Urologische
Onkologie des Klinikums Niederberg, Velbert
Die Arbeitsgruppe um Frau Vijverberg publizierte 2011 Daten einer Langzeit-Analyse
zu einer eigenen Studie aus dem Jahr 1997 im Journal of Urology [
1
]. Hierbei handelte es sich ursprünglich um eine Auswertung eines stationären Trainingsprogramms
für Kinder mit funktionellen Blasenentleerungsstörungen. 1997 wurden 95 Kinder (Alter:
6–17 Jahre) in einem 10-tägigen stationären Aufenthalt einer Urotherapie inkl. Biofeedback
zugeführt. Die Autoren schlossen nur Kinder ein, die unter einer Urge-Inkontinenz
litten und zuvor therapierefraktär über 12 Monate hinweg medikamentös und mit ambulanter
Urotherapie behandelt wurden.
In der aktuellen Arbeit wurden aus diesem Patientenkollektiv erneut 75 Patienten rekrutiert
und in einem Follow-up von minimal 16,2 Jahren erneut befragt. Die kindliche LUTS
spielt im pädiatrischen Alltag mit einer Prävalenz von 10 % bei Kindern unter 7 Jahren
und deutlich belastenden Symptomen für Kind und Eltern eine wesentliche Rolle. Einnässen
ist das häufigste urologische Symptom im Kindesalter. Es ist für den behandelnden
Arzt eine Herausforderung, da der Erfolg oder Misserfolg der eingeleiteten Therapie
das psychische und auch das körperliche Wohlergehen des Kindes deutlich beeinflusst.
Daher sind Erkenntnisgewinne in der Langzeittherapie für die meisten kinderärztlich
tätigen Ärzte durchaus von Relevanz.
Frau Vijverberg und Kollegen zeigten zum ersten Mal in diesem Kontext der kindlichen
LUTS bei zunächst therapierefraktären Patienten die Ergebnisse einer stationären Urotherapie
über ein mindestens 16 Jahre langes Follow-up. Die Literatur bot bis zu diesem Zeitpunkt
nur einen Überblick über maximal 5 Jahre. Die Prävalenz der kindlichen LUTS liegt
bei 10 % bei Kindern unter 7 Jahren und persistiert noch bei 1–2 % bis zum 18. Lebensjahr
und wird im kurzen Follow-up mit einer Heilungsrate von 74 % betrachtet. Es existieren
nur wenige Daten zu Langzeitrespondern auf die Urotherapie (exkl. Biofeedback) durch
Wiener et al. 2000 mit einer Rate von 59,4% [
2
]. Langzeitresponder auf die Urotherapie (inkl. Biofeedback) wurden bis dato nicht
klinisch belegt.
Die Studie von Vijverberg et al. besticht durch ein sehr langes Follow-up von 16,2–21,8
Jahren und bietet so sicher ein hohes Maß an Validität für den Erfolg der Urotherapie
in der Behandlung der kindlichen LUTS. Auch die erreichte Rücklaufquote von rund 78
% (75 Kinder von 95) in der Langzeit-Patientenpopulation ist für eine angemessene
Objektivität und Reliabilität mehr als ausreichend. In der Literatur sind solche qualitativen
Gütekriterien sicher einzigartig und unterstreichen die Ergebnisse.
Anzumerken bleibt, dass ein Erfolg der LUTS-Therapie bei Vijverberg et al. lediglich
an 4 Variablen gemessen wurde (Inkontinenzereignisse/Tag, Miktionsfrequenz, Drangereignisse
und Harnstrahlprojektion). Unklar blieb hierbei, ob ein Flow-EMG durchgeführt wurde,
ob Harnwegsinfektionsrezidive aufgetreten waren und ob einige der Kinder Restharnbildungen
gezeigt hatten. Davon abgesehen, ist eine stationäre Urotherapie – zumindest im deutschsprachigen
Raum – aus Kostengründen nur noch in Einzelfallentscheidungen zu realisieren. Da diese
stationäre Urotherapie aktuell nicht praktikabel erscheint, fällt es schwer, diese
Ergebnisse banal auf eine ambulante Urotherapie zu übertragen.
Die Erfolgsrate dieser Studie deckt sich mit den bisher publizierten Daten und kann
mit 60 % aus dem realen Patientengut abgeleitet werden. Trotzdem ist sicher ein Kritikpunkt,
dass hier spezifische Erfolgsvariablen gewählt wurden, die einen Vergleich mit anderen
Arbeiten nicht möglich macht. Wie Flow-EMG-Kurven bei Kindern, die an LUTS leiden,
Jahre nach einem Biofeedback-Training aussehen, bleibt weiterhin eine Frage von Interesse,
die Vijverberg et al. zurzeit nicht beantworten können. Hier würden weiterführende
Studien für Klarheit sorgen. Des Weiteren würde eine Langzeitstudie zum ambulanten
Biofeedback-Training für unsere kinderurologische Sprechstunde von ungleich größerer
Bedeutung sein.
Dr. Cornelia Möhring, Velbert