Hildebrandt Jan, Pfingsten Michael.
Rückenschmerz und Lendenwirbelsäule – Interdisziplinäres Praxisbuch entsprechend der
nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz.
München: Urban & Fischer-Elsevier GmbH; 2. überarbeitete Auflage mit 360 Abbildungen,
ISBN: 978-3-437-23251-0
Studien aus den USA zeigen, dass ein Patient mit Bandscheibenvorfall S1, ausstrahlenden
Schmerzen und positivem Lasègue eine vielfach höhere Operationswahrscheinlichkeit
hat, wenn er sich beim Neurochirurgen vorstellt als beim Orthopäden. Der eine versucht,
die Nervenwurzel zu retten, der andere die Bandscheibe. Es ist also bekannt, dass
die Interpretation von wirbelsäulenbedingten Beschwerden, je nach Fachgebiet, unterschiedlich
ausfallen kann. Dies trifft ganz besonders für die 5 % der Patienten mit Schmerzbefunden
zu, die in einen chronischen Verlauf münden und über 50 % der Kosten verursachen.
In Deutschland haben sich primär Anästhesisten dieser chronischen Schmerzproblematik
angenommen. Hildebrandt hat schon in den achtziger Jahren mit seiner Habilitation
neue Wege für die Aktivierung derartiger Patienten und Vermeidungsstrategien bei der
Entstehung chronischer Schmerzzustände aufgezeigt. Aus den USA kommend sind dann zunehmend
die psychologischen Aspekte in den Vordergrund getreten. Ihnen wird eine wesentliche
Rolle bei der Entstehung der so genannten nichtspezifischen Rücken- oder Kreuzschmerzen
eingeräumt, nämlich dann, wenn keine spezifische Diagnose gestellt werden kann.
Nach Angaben in diesem Buch soll dies zwischen 85-95 % der Fall sein. Der Schwerpunkt
dieses Buches liegt daher in der Darstellung nichtorthopädischer Aspekte. Von den
insgesamt 57 Autoren, die an dem Buch mitgearbeitet haben, sind neun aus dem Fach
Orthopädie.
Das Buch rankt sich im Wesentlichen der so genannten Versorgungsleitlinie unspezifischer
Kreuzschmerz entlang, die zwischen 2006 und 2010 entstanden ist. An der Erstellung
dieser Leitlinie waren immerhin 26 verschiedene Fachgesellschaften beteiligt, was
nicht nur zeigt, wie komplex die Thematik ist, sondern auch, wie viele Bereiche und
damit auch Fachgesellschaften um die Patienten konkurrieren. Wenn es im Vorwort heißt,
dass vom Krankheitsbild Rückenschmerz mit klassischer Behandlung eine gewaltige (Gesundheits-)
Industrie lebt, so müsste dem hinzugefügt werden, dass auch die sogenannten "therapeutischen
Lager", also die unterschiedlichen Arztgruppen an der Versorgung dieses häufigen Krankheitsbildes
interessiert sind. Nicht zuletzt aber wird dieser Bereich auch vom Patienten und dessen
Bedürfnissen bis hin zum sekundären Krankheitsgewinn gelenkt.
Dass psychologische Momente bei der Interpretation von Krankheitsbildern insgesamt
in der Bundesrepublik heute noch zu gering berücksichtigt werden, kann wohl kaum noch
behauptet werden. Während der sogenannten Bone and Joint Decade 2000 bis 2010 wurde
mit Zahlen agiert, wonach in Deutschland die Mehrzahl der Frühberentungen auf Grund
muskuloskelettaler Erkrankungen und Verletzungen erforderlich ist. Dies hat sich deutlich
zu Gunsten psychologischer Erkrankungen gewandelt. Die Zahl der Arbeitsunfähigkeittage
wegen psychischer Probleme und Verhaltensstörungen hat sich seit 2001 bis 2006, das
heißt dem Beginn der Erstellung der nationalen Versorgungsleitlinie unspezifischer
Kreuzschmerz, von 6,6 auf annähernd 11 %, d.h. um 50 % und seit dem noch einmal um
50 % vermehrt, also über einen Zehn-Jahreszeitraum verdoppelt. Wenn nun einerseits
die "Psychologisierung" auch dieses Krankheitsbildes weiter voranschreitet und zugleich
über eine rapide steigende Operationszahl bei Wirbelsäulenerkrankungen berichtet wird,
scheint immer noch nicht alles rund zu laufen.
Es ist der Verdienst des Buches, auch auf die Defizite in allen Bereichen hinzuweisen.
Das Buch umfasst sieben Kapitel, von denen sich insbesondere die zur Epidemiologie,
über die Krankheitsbilder und Therapie auch mit den nationalen Versorgungsleitlinien
unspezifischer Kreuzschmerz auseinandersetzen. Eine nach wie vor offene Flanke in
der Diskussion sind die Definitionen. Der Orthopäde versteht unter dem Rückenschmerz
denjenigen von Brust und Lendenwirbelsäule. Diskutiert wird hier schwerpunktmäßig
der Kreuzschmerz, wie er auch in der nationalen Versorgungsleitlinie abgebildet wurde.
Wo nun aber die Grenzen zwischen spezifischen und unspezifisch liegen, muss auch nach
der Lektüre dieses Buches unklar bleiben. Man bedenke z. B., dass die Modic-I-Veränderungen,
die gute Prädiktoren für Rückenschmerzen sind, vor der kerspintomographischen Ära
überhaupt nicht zu erkennen waren. Sind Schmerzen dieser Art also spezifisch oder
unspezifisch? (gilt auch für das so genannte Facettensyndrom und diskogene Schmerzzustände,
die differentialdiagnostisch herauskristallisiert werden können).
Wenn auch den Orthopäden einige Aspekte bei der Bewertung von Kreuzschmerzen fehlen
(so z. B. die Darstellung von Provokationstests an der Wirbelsäule, Untersuchungstechniken
zur Darstellung von Aggravation und Simulation), so bietet dieses Buch doch einen
hervorragenden Überblick über die derzeitige Versorgungssituation und die noch anstehende
Problematik in Deutschland. Ob es derzeit noch gilt, dass psychosoziale Faktoren bei
der Entstehung und Aufrechterhaltung von Schmerzerkrankungen immer noch vernachlässigt
werden, müsste wohl unter den aktuellen Gegebenheiten überprüft werden. Dass eine
Fachspezialisierung und "Scheuklappensicht" der Bewertung der Krankheitsbilder und
dem Patienten nicht gerecht werden, ist bekannt. Eine einseitig somatisch oder operativ
ausgerichtete Weiterbildung ist aber ebenso schädlich wie eine einseitig psychische.
Im Vorwort wird treffend ausgedrückt: Wer komplexere Rückenschmerzen jenseits eindeutiger
Pathologie behandeln will, muss ausreichende Kenntnisse der Bewegungs- und Verhaltentherapie
haben.
Hinzuzufügen wäre, dass der Untersuchende dann aber auch über entsprechende Kenntnisse
verfügen muss, um den unspezifischen vom spezifischen Kreuzschmerz unterscheiden zu
können. Das dies wiederum nur mit einem interdisziplinären Ansatz und durch ein sinnvolles
Gesamtmanagement möglich ist, wird durch die Herausgeber in abschließenden Kapiteln
dargestellt. Einer unbedingt notwendigen Versorgungsforschung muss es überlassen bleiben,
die Effizienz aller dieser Verfahren zu überprüfen. Es gibt noch viel zu tun….
F. U. Niethard, Aachen