„Und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum.“ Nun ja, sie sorgt sich
wegen ihres Sohnes Philipp, der sich nicht der elterlichen Vorstellung von Esskultur
unterordnen will. Vielmehr gaukelt er und schaukelt, trappelt und zappelt – das
schreckliche Ende kennen wir. Gemeinsam mit den entsetzten, zornigen Eltern schauen
wir auf einen leergefegten Tisch als Ergebnis der übermütigen Tollerei des
hyperaktiven Kindes.
Aber kann uns Heutige eine leere Tafel wirklich schrecken? In jedem Schnellimbiss
begrüßen uns schmucklose Tische, und das notwendige Gedeck erscheint in Sekunden vor
uns, sobald wir uns nur gesetzt und unsere Verzehrsabsicht bekundet haben. Natürlich
würden wir den dann folgenden Akt der Nahrungsaufnahme nicht – höchstens mit
spöttischem Unterton – als „Tafeln“ bezeichnen. Dennoch muss dies keinen Verlust an
Essensfreude bedeuten. Die Spannbreite der Bedingungen, unter denen wir etwas zu uns
nehmen, ist immens. Genauso weit variieren die Ziele, die uns zu Essen und Trinken
motivieren: Trieb uns gestern der Hunger, wünschen wir uns heute die genussvolle
Verführung, und morgen verhilft uns das Business Lunch zur Belebung neuer
Geschäftsinteressen.
Die Esskultur ist im Wandel. Und dies nicht nur aus semantischer Sicht, sondern auch
im praktischen Leben. Die Beiträge des vorliegenden Heftes beleuchten diese
Veränderungen. Gunther Hirschfelder widmet sich beiden Aspekten. Zunächst geht er
auf die erweiterte Bedeutung ein, die dem Begriff Esskultur heute beigemessen wird.
Sodann beschreibt er, welcher Fülle widerstreitender Einflussgrößen unsere
Verzehrsgewohnheiten unterliegen: Religion und Tradition, Mangel und Überfluss,
ökologischen und gesundheitsbezogenen Erwägungen.
Dieser Übersicht schließt sich Gesa Schönberger an und betrachtet, wie sich unsere
Mahlzeiten in jüngerer Zeit verändert haben. Wo gibt es noch den „geordneten“
Familienhaushalt der Vor- und Nachkriegszeit – mit klarer Rollenverteilung und
pünktlichem Essen mit Anwesenheitspflicht aller Angehörigen? Geänderte ökonomische
Grundlagen und Sozialstrukturen, neue Formen der Speisenaufbewahrung und
-zubereitung, moderne Entwicklungen der Lebensmittelindustrie erlauben eine zuvor
unbekannte Freizügigkeit in Form, Zusammensetzung und Terminwahl unserer
Mahlzeiten.
Warum aber folgen wir in unserer Kostwahl bestimmten Trends und verweigern uns
anderen? Thomas Ellrott geht dem komplizierten Wechselspiel zwischen mehr
emotionalen und mehr rationalen Verbraucherentscheidungen nach. Sein
praxisorientiertes Resümee macht Mut: Aus tiefgreifenden Analysen des
Ernährungsverhaltens lassen sich Strategien ableiten, mit denen dem epidemischen
Zuwachs an ernährungsbedingten Gesundheitsstörungen zu begegnen sein wird.
Einer derzeit hervorstechenden Einflussgröße auf unsere Kostwahl widmet sich Sylvia
Pfaff. Sie stellt das Für und Wider zum Verzehr ökologischer Lebensmittel zusammen
und prognostiziert eine Ausweitung des Biomarktes.
Heutzutage jedenfalls müsste die Familie des Zappelphilipps keinen Hunger leiden:
Sollte der Kühlschrank wirklich leer sein, bliebe ihr immer noch der Gang zum
Imbissstand an der Ecke.
Prof. Dr. Hans-Joachim F. Zunft