Die Erfahrungen in unseren Heilstätten, in den Fürsorgen und in der Praxis lassen
uns die Wechselbeziehungen zwischen Tuberkulose und Tuberkulosekranken heute anders
sehen und verstehen. Wenn ich mich trotz der vielen Versuche, das Spezifische im Wesen
der Tuberkulösen darzustellen, an dieses Problem heranwage, lege ich hier nicht die
umfassende Studie des geschulten Psychologen vor, sondern nur eine Skizze, die der
tägliche Umgang mit Tuberkulösen in langen Jahren gezeichnet hat und die von der Ordnung
des Friedens in die Unruhe unserer Zeit hineinreicht.
Allzu vieles wird als Folge der Tuberkulose gedeutet, was schon der prämorbiden Persönlichkeit eigen war. Der Anteil an Egoisten, Nörglern, Verbitterten und Einzelgängern, aber
auch an Geselligen, Kraftvollen, Ausgeglichenen und all den Schattierungen der Psyche
unterscheidet sich bei den Tuberkulösen keineswegs auffällig von anderen chronisch
Kranken und ist letzten Endes kaum anders als in jeder menschlichen Gemeinschaft,
die gleiches Schicksal und gleiche Not zusammenführt. Es gibt keinen tuberkulösen Charakter mit spezifischen Eigenschaften, sondern jeder Tuberkulöse hat seinen Charakter! Man braucht nur einen Blick in Ebsteins Buch vom Leben und Sterben genialer Tuberkulöser zu tun. Mir scheint, dass die Tuberkulose
die Anlagen nicht eigentlich wandelt, sie kann sie beim Einzelnen aber deutlicher
hervortreten lassen. Alter, Geschlecht und Beruf, überraschendes oder schleichendes
Einsetzen der Krankheit, Form und Ausdehnung der Herde, Auftreten von Rückfällen,
Komplikationen und Nebenkrankheiten, Art und Aussichten der Behandlung und nicht zuletzt
alles das, was er vom Leben noch erwartet, zerren den Tuberkulösen je nach seiner
Grundhaltung hin und her und bestimmen das Ausmaß seiner Reaktion. Zu dem beunruhigenden,
bohrenden Wissen um das unheimliche Leiden kommt das Odium, das nun einmal der Tuberkulose
anhaftet und bei dem Empfindsamen leicht das Gefühl wachruft, dass man ihn wie einen
Aussätzigen meidet. Fieberhafte Zustände und frische Schübe, auch ein operativer Eingriff,
können wohl gelegentlich das Befinden und Verhalten des Patienten beeinflussen, sind
aber selten von nachhaltiger Wirkung auf die Persönlichkeit, wenn wir das Stadium
der körperlichen Auflösung hier beiseitelassen. Die Tuberkulose drängt nicht so sehr
durch ihre Toxine als durch die veränderte Lebenssituation, die manchen Weg versperrt und viele Wünsche und Pläne offenlässt, den Tuberkulösen
weiter in die Richtung, in der sich seine individuelle Eigenart von jeher bewegt.
Der Hypochonder wird in seiner Tuberkulose die Bestätigung dafür sehen, dass ihm alles
schief geht. Dem Pedanten ist sie Anlass, alle Vorschriften einer gesundheitsgemäßen
Lebensweise noch peinlicher zu beachten. Der Leichtsinnige entnimmt ihr die Berechtigung
zu flüchtigem Lebensgenuss und steckt den Kopf in den Sand. Der Anlehnungsbedürftige
kann durch die Tuberkulose in die Abhängigkeit belebender und betäubender Mittel geraten
und so zum Süchtigen werden. Von dem Ängstlichen sagt man, dass er mit seiner Bazillenfurcht
die Tuberkulose geradezu herbeizieht. Dagegen überwindet der Gefestigte mit seinem
Willen zur Gesundheit nicht nur Krisen mit ihren auf- und abschwankenden Stimmungen,
wie sie bei jeder sich länger hinziehenden Krankheit einmal auftreten, sondern nicht
selten auch schwere Formen der Tuberkulose. Auch bei den Unbeschwerten und Sturen,
denen der Ernst der Krankheit überhaupt nicht aufgeht, sehen wir gelegentlich überraschende
Spontanheilungen. Dem schöpferischen Menschen schließlich wird auch die Tuberkulose
mit dem drohenden vorzeitigen Abschluss des Schaffens zur Quelle der Kraft bis zum
Verbrennen des eigenen Lebens.
So ist das von Gerner, Brehmer und Schweizer angewandte Wort Alexander von Humboldts zu verstehen, dass der Tuberkulöse an seinem Charakter stirbt. Ein nivellierender
Einfluss der Tuberkulose lässt sich nicht einmal feststellen bei Schwerkranken, die
in der Treibhausatmosphäre sorgsamer häuslicher oder klinischer Pflege eine oft lange
sich hinziehende vita minima führen. Wir erleben, wie der eine verzagt und voller
Todesahnungen von Tag zu Tag das Schwinden seiner Kräfte verfolgt, während der andere
noch auf dem Sterbebett seine Pläne weiterspinnt und für alle körperlichen Beschwerden
immer wieder Gründe und Ausreden bereithält, die ihn selbst und seine Umgebung über
den Ernst der Situation hinwegtäuschen. Die gern als Euphorie gedeutete Haltung ist
durchaus nicht allen Tuberkulösen eigen. Eher kann man von einer Lebensbejahung sprechen.
So ist auch das freiwillige Abkürzen eines noch so qualvollen, ausweglosen Daseins
bei Tuberkulosekranken ein überaus seltenes Ereignis, das ich in mehr als zwanzig
Jahren nur dreimal beobachten konnte. In dieser positiven Einstellung zum Leben findet
auch die immer wieder an den Arzt gerichtete Frage nach der gesteigerten Sexualität
der Tuberkulösen, aus der künstlich ein Problem gemacht wurde, ihre natürliche Lösung,
wenn wir noch die individuelle Veranlagung, die Häufung der Tuberkulose in den jugendlichen
und mittleren Jahrgängen mit ihrer Vitalität und nicht zuletzt den milieubedingten
verführerischen Einfluss einer längeren Zeit der Untätigkeit und des Nichtausgefülltseins
hinzunehmen. Mit dem Asozialen, der die Gemeinschaft rücksichtslos gefährdet, sind
wir schon bei den geistig Abartigen, und der Psychiater tritt neben den Tuberkulosearzt.
Die Tuberkulose ist nicht die Ursache einer krankhaften Änderung des psychischen Gefüges!
Etwas anderes ist es, dass zu einer Geisteskrankheit häufig eine Tuberkulose hinzutritt.
Ob dabei die Schizophrenie, die mach Kretschmer immer wieder als eine Art konstitutioneller Schwesterkrankheit der Tuberkulose angesprochen
wird, wirklich mit der Tuberkulose so tief verwurzelt ist, erscheint mir bei unserer
heutigen Auffassung, die dem Leptosomen keine besondere spezifische Anfälligkeit einräumt,
zweifelhaft. Wir sehen die Tuberkulose bei allen Konstitutionsformen! Wenn die Leptosomen im Vordergrund stehen, so ist das vor allem
dadurch bedingt, dass ihr Anteil schon in der Gesamtbevölkerung deutlich überwiegt.
Jedenfalls entspricht auch gegenwärtig nach unseren Feststellungen wie bei Schülers Untersuchungen im Jahre 1934 die Aufteilung der Leptosomen, Athleten und Pykniker
unter den Tuberkulösen diesem Verhältnis, und es gibt keine beweiskräftigen Unterlagen
für die Annahme einer besonderen Tuberkuloseanfälligkeit der Astheniker, wie sie sich
durch die Veröffentlichungen hindurchzieht. Nicht die Form des Körpers und der Charakter
seines Trägers, sondern die gesamte Funktion der aus Erbgut und Umwelt gewordenen Persönlichkeit ist das Entscheidende für den Gang der Tuberkulose, und ihr ordnen sich alle anderen
Faktoren unter!
Die herrschende Lehre sieht in dem Tuberkelbazillus den Erreger der Tuberkulose und
beruft sich darauf, dass im Gewebe und in den Abscheidungen Tuberkulöser die von Robert Koch entdeckten charakteristischen Stäbchen nachzuweisen sind, die auf einen anderen Menschen
übertragen oder im Tierversuch wieder die gleichen spezifischen Veränderungen hervorrufen.
Aber die Erfahrung, dass kaum ein Zehntel der Bevölkerung in unseren Breiten an Tuberkulose
erkrankt, während doch die tuberkulöse Infektion schließlich bei jedem Menschen angeht,
muss Anlass sein, diese Auffassung vom Tuberkulosebazillus als Erreger der Tuberkulose
zu überprüfen. Darin besteht ja das große Geheimnis: Weshalb führt nicht jede Tuberkulose zur Phthise? Diese Gedankengänge leiten zu dem Schluss, dass der Tuberkulosebazillus wohl die
Infektion von einem Menschen zum anderen tragen kann, dass aber für das Erregen der
Tuberkulose als Krankheit übergeordnete Kräfte vorhanden sind, die Angriff und Abwehr
lenken. Das gleiche gilt mehr oder weniger für alle ansteckenden Krankheiten, und
so scheint es an der Zeit, die Bakterien als Infektionserreger zu entthronen und ihnen
eine bescheidenere Rolle anzuweisen, die ich als Infektionsträger bezeichnen möchte.
Die Tuberkulose ist nicht einfach die Summe aus Tuberkelbazillus plus Organismus.
Zum Verständnis ihrer jeweiligen Entwicklung reichen die klinischen Erfahrungen, die
Ergebnisse der pathologischen Anatomie und alle Theorien über Vererbung, Durchseuchung,
Disposition, Resistenz, Superinfektion, Allergie und Immunität nicht aus und bedürfen
der Ergänzung durch das Eingehen auf die individuelle Eigenart ihres Trägers. Beim
Säugling und Kleinkind ist die psychische Differenzierung noch gering, wenn sich auch
bereits Lust- und Unlustgefühle bemerkbar machen. Aber mit zunehmendem Alter tritt
mit dem Erwachen der eignen Persönlichkeit ein neues förderndes und ebenso auch hemmendes
Moment in Erscheinung durch das Unfassbare, das wir Seele nennen. Um in die Geheimnisse vom Entstehen und Heilen der Krankheiten einzudringen,
sind auch die Relationspathologie Rikkers, die Stammhirnpathologie von Veil-Sturm und die Neuralpathologie Speranskys, die uns von der einseitigen Betrachtung der rein örtlichen krankhaften Vorgänge
zu den Zentren ihrer Auslösung und Lenkung führen, noch zu sehr an die gewebliche
Struktur des Gehirns und der Nervenbahnen gebunden, als dass sie über die Aufnahme
und elektive Weitergabe der seelischen Irritationen letzte Aufschlüsse zu geben vermöchten,
und so finden wir auch das Wort Seele in diesen Lehren nicht. Die Psychopathologie der Tuberkulose – wenn ich in diesem Begriff alles zusammenfassen darf, was uns hier bewegt – ist
noch eine terra incognita. „Was weiß denn unsere Wissenschaft von den seelischen Symptomen,
Wirkungen oder gar Ursachen und Bedingungen der körperlichen Krankheit Tuberkulose?“
fragt Hellpach in seiner Studie über die Zauberberg-Krankheit.[1] Heute, nach zwei Jahrzehnten, wissen wir ebenso wenig eine klare Antwort darauf,
aber die Not unserer Zeit lässt uns das Zusammenspiel zwischen Tuberkulose und Persönlichkeit
deutlicher sehen. Wie sehr das Auslösen eines tuberkulösen Schubes und seine Rückbildung
seelischen Einflüssen unterliegt, dafür nur ein geradezu klassisches Beispiel aus
eigener Beobachtung.
Eine dreißigjährige Krankenschwester aus gesunder Familie, seit 7 Jahren auf einer
Tuberkuloseabteilung täglich der Ansteckungsgefährdung ausgesetzt, war bei fortlaufender
Überwachung mit wiederholten Röntgenaufnahmen frei von allen Zeichen einer aktiven
Lungentuberkulose. Die positive Tuberkulinreaktion wurde als Ausdruck stattgehabter,
aber zur Ruhe gekommener Tuberkuloseinfektion gewertet.
Die Schwester machte keinen Hehl daraus, dass sie gerne heiraten wollte, fand aber
keine Gelegenheit dazu. Als sie endlich die ersehnte Bindung mit einem Mann, der einige
Jahre jünger war als sie, eingehen konnte, wurde sie von dessen Eltern abgelehnt,
und der Mann wollte sich daraufhin von ihr trennen. Seelischer und körperlicher Zusammenbruch
des enttäuschten Mädchens, das alle Zukunftshoffnungen vernichtet sah. Drei Monate
später frische Tuberkulose im rechten Oberfeld (infraclavikuläres Infiltrat in Einschmelzung,
Tuberkelbazillen positiv). Ein Heilverfahren wurde sofort eingeleitet. Unter dem Eindruck
dieser Erkrankung entschloss sich der Verlobte trotz des Widerstandes seiner Eltern
dann doch, sein Versprechen einzulösen. Rascher Umschwung im Gesamtbefinden mit spontaner
Rückbildung der Tuberkulose, so dass der in Aussicht genommene Pneumothorax nicht
mehr angelegt wurde. Ärztliches Abraten von sofortiger Heirat und Schwangerschaft
beachtete das Mädchen nicht, da sie die wiedergewonnene Bindung nicht verlieren wollte
und da sie wusste, dass der Mann unbedingt Kinder wünschte. Kurz darauf Heirat. Neun
Monate später das erste Kind, dem rasch zwei weitere folgten. Trotz dieser Schwangerschaften
kein Aufflackern der Tuberkulose und – happy end: Schwiegereltern ausgesöhnt und glücklich
über die drei Enkelkinder!
Solchen eindrucksvollen Beobachtungen vom Kommen und Gehen der Tuberkulose, wie sie
jeder aufgeschlossene Arzt immer wieder erlebt, kann man sich nicht leicht entziehen.
Sie muten zuweilen wie ein Wunder an und lassen sich, da weder die angewendete Therapie
noch das Abtun als zufälliges Zusammentreffen zur Erklärung ausreichen, nur auf das
Entstehen und Bezwingen der Krankheit durch seelische Kräfte zurückführen. Ist bei
Frauen und jungen Mädchen zumeist enttäuschte Liebe oder der Schmerz über den Verlust
eines geliebten Menschen der Anlass zu seelischem oder körperlichem Versagen, rufen
beim Mann eher Beschränkungen der persönlichen Freiheit durch wirtschaftliche Not,
berufliche Zurücksetzung, Gefangenschaft, Haft oder andere Einengungen der individuellen
Entfaltung, namentlich wenn sie als ungerecht und unverdient empfunden werden, seelische
Konflikte hervor und können tuberkulöse Schübe mit schweren organischen Veränderungen
und der Reaktivierung ruhender Herde einleiten. Diese Spannungen treten nicht überall
im jeweiligen Lebenslauf zutage. Oft liegen sie schon länger zurück, sind schon chronisch
geworden und gelangen kaum in das Bewusstsein. Aber sie sind vorhanden und lassen
sich vielfach auch aufdecken, wenn man ihnen nur nachgeht. Die Verschiedenheit der
Geschlechter im Ansprechen auf seelische Dinge mag auch zu einem Teil ihre unterschiedliche
Beteiligung an der gegenwärtigen Tuberkulosemorbidität und -mortalität erklären, die
uns die Statistik nach diesem Kriege aufzeigt. Der auffällig überwiegende Anteil der
Männer ist nicht allein durch die primäre relative Resistenzschwäche gegen Erkrankung
beim Durchschnitt des männlichen Geschlechts (v. Pfaundler) und durch die körperlichen
Strapazen des Berufes und des Krieges bedingt, sondern hier wirken sich sicher auch
die schicksalhaften Umwälzungen unserer Zeit aus, die in manchem deutschen Mann eine
Welt zusammenbrechen ließen.
Wie ein gewaltiges und zugleich erschütterndes Experiment zwingt uns das elementare
Ereignis des eben zu Ende gegangenen Krieges, neben den äußerlich angreifenden Faktoren
den Einfluss der seelischen Belastung auf den Beginn und den Gang der Tuberkulose
anzuerkennen. Bei jedem länger dauernden Krieg ist es außer der vermehrten körperlichen
Leistung bei gleichzeitig herabgesetzter Ernährung die gesteigerte seelische Beanspruchung,
die mit ihrem ständigen Wechsel zwischen Hoffen und Enttäuschtwerden, zwischen Freude
und Leid, und dem steten Bereitseinmüssen, sich einer neuen Lage anzupassen, unablässig
an der Widerstandskraft des gesamten Volkes im Felde und in der Heimat zehrt. An die
seelische Not in und nach diesem Kriege reichen die Auswirkungen des verlorenen ersten
Weltkrieges bei weitem nicht heran. Wurde damals für den Anstieg der Tuberkulose in
Deutschland in erster Linie die ungenügende Ernährung verantwortlich gemacht, nach
deren Behebung die Todeszahlen bald wieder absanken, sind durch den zweiten Weltkrieg
alle Grundlagen unseres Lebens ins Wanken geraten und müssen erst wieder neu gefügt
und gefestigt werden. Zu Unterernährung und Entbehrungen, Arbeitsüberlastung ohne
ausreichende körperliche Erholung, unregelmäßiger Lebensweise und Ertragen von Kälte
wegen Mangel an Kohle und Kleidung kamen die Binnenwanderung von der Stadt auf das
Land und die große Völkerwanderung von Osten nach Westen mit der Entwurzelung aus
der angestammten Heimat durch Evakuierung, Umsiedlung oder Flucht, mit dem ungewollten
Zusammenleben zu vieler Menschen in beengten Wohnungen und Lagern, mit den unausbleiblichen
täglichen Reibungen, mit der erzwungenen wirtschaftlichen und beruflichen Umstellung,
der Sorge um das Schicksal von Angehörigen, dem lähmenden Druck einer ungewissen Zukunft – mit
einem Wort: die Störungen in der Harmonie der eingespielten Lebensform. Sie unterhöhlen noch immer die Gesundheit des Einzelnen und des ganzen Volkes, bis
die körperliche und seelische Abwehrkraft dieser Zerreißprobe nicht mehr standhält.
Nur der Abschluss eines dauerhaften Friedens, der das Recht der Persönlichkeit auf
eine angemessene Lebensform mit ausreichender Wohnung und Ernährung, Arbeit und Erholung
wiederherstellt, kann dem weiteren Ansteigen der Tuberkulose ein festes Bollwerk entgegensetzen!
Es war mir ein Anliegen, der Persönlichkeit des Tuberkulösen den mystischen Mantel
abzunehmen, den man ihr gern überwirft, und sie so darzustellen, wie sie ist, geworden
aus Erbgut und Umwelt. Nicht die Tuberkulose als spezifisch toxische Krankheit, sondern
die durch das chronische Leiden veränderte Lebenssituation oder mit anderen Worten:
die Wandlung des Schicksals durch die Krankheit lässt den prämorbiden Charakter in
seiner Eigenart stärker hervortreten, drängt ihn aber nicht aus seiner Grundrichtung.
Gerade in der Gegenwart scheint mir aber diese Frage nach dem Einfluss der Tuberkulose
auf das Seelenleben des Kranken weniger wichtig als die umgekehrte Frage: Wie weit wurzelt die Tuberkulose im Seelischen? Denn aus der Gesamtpersönlichkeit formt sich das Tuberkulosegeschehen, sobald der
erste Keim von außen her eingedrungen ist und haftet.
Wir verfolgen und deuten den Weg der Infektion und Krankheit immer noch zu sehr nach
groben äußeren Vorgängen, wenn wir auch mehr und mehr eine zentrale Steuerung durch
das Nervensystem anerkennen, und sind in Gefahr, durch die immer weiter aufgezweigte
Einzelforschung und das Experiment die lebendige Fühlung mit der Erkenntnis von dem
alles beherrschenden Einfluss der Seele zu verlieren. Krehls Wort, dass Krankheit letzten Endes nicht vom Organ, sondern vom seelischen Wesen
abhängig ist, gilt mit vielen anderen Zeugnissen gleicher Erfahrung auch für die Tuberkulose.
Mit dem „schicksalsmäßigen Ablauf“ darf sich der Arzt – oder sagen wir besser die
ärztliche Persönlichkeit, denn der Persönlichkeit des Kranken müssen wir die Persönlichkeit
des Arztes entgegenstellen – nicht einfach abfinden. Es gehört zu seinem Auftrag,
sich nicht auf das erkrankte Organ zu beschränken, sondern auch auf die Lebensumstände
und Sorgen des Erkrankten einzugehen, um zu ergründen, was über die äußeren Angriffe
hinaus Ursache der Krankheit war. Es ist ein großer Schritt vorwärts, wenn wir bewusster
als bisher die nicht zu messenden und doch spürbaren seelischen Schwingungen mitempfinden
und so nicht nur den Gang der Tuberkulose besser verstehen lernen, sondern auch unsere
Behandlung mit ihren oft problematischen Arzneien und Eingriffen danach ausrichten.
Es lassen sich, zumal heute, nicht alle schwierigen Probleme für den Einzelnen lösen.
Aber wir können ihm helfen, innerlich frei zu werden, damit er in seiner Unruhe und
Verwirrung wieder Halt findet und zu einer neuen Lebensform kommt, aus der er die
Hoffnung auf die Überwindung der Krankheit schöpft. Erst dann, wenn die Hemmnisse
und Disharmonien beiseite geräumt und die natürlichen, in jedem Menschen selbst ruhenden
Kräfte aufgerufen und aufgeladen sind, wird der Weg frei für den Erfolg unseres ärztlichen
Handelns!
Wer sich daran gewöhnt hat, die Zusammenhänge zwischen Tuberkulose und Persönlichkeit
so zu sehen, kann sich mit der Deutung der Tuberkulose als infektionsbedingter, erbgebundener
und umweltgeformter Krankheit nicht mehr zufriedengeben und wird darüber hinaus immer
wieder ihren seelischen Quellen nachspüren. Wie aber lässt sich aus dieser Erkenntnis
praktischer Gewinn für die Therapie ziehen? Hier scheidet sich der Mediziner, dem
auch die Tuberkulose nur ein mechanisches Problem ist, von dem Arzt, der die Gabe
und den Willen der Einfühlung in sich trägt, wie sie die seltsame Krankheit Tuberkulose
in hohem Maße erfordert. Er bedarf dazu häufig nicht der Technik einer umfassenden
Psychotherapie – diese scheint mir zuweilen sogar fehl am Platze – sondern schon das,
was J. H. Schultz, Jores und andere die kleine Psychotherapie nennen, vermag das Tor zur Heilung zu öffnen.
Am Eingang steht die ausführliche biographische Anamnese, um den Kranken in seiner
ganzen Lebenssituation menschlich zu begreifen. Wie der Patient dann weiter angesprochen
und geführt werden muss, um aus eigener Kraft an seiner Gesundung mitzuhelfen, und
wie ihm das Bild seiner Krankheit überhaupt dargestellt wird, dafür gibt es kein erprobtes
Schema und Rezept – das muss das Arzttum eingeben, denn jede Persönlichkeit verlangt
persönliche Behandlung! Fragen der Lebensauffassung, der Weltanschauung und nicht
zuletzt des Glaubens werden dabei angerührt, und die psychologische Forschung, die
überall in der Medizin in Bewegung geraten ist, erhält ihre große Aufgabe, um herauszufinden,
wie der Hebel anzusetzen ist.
Die Psychopathologie der Tuberkulose steht erst am Anfang. Sie führt zu einer therapeutischen
Richtung, die nicht neu ist, bisher aber viel zu wenig erkannt und beschritten wurde.
Sie hebt die gebahnten Wege unserer bewährten Tuberkulosebehandlung nicht auf, sondern
festigt und verbindet sie. Die Forderung der Früherfassung und Frühbehandlung bleibt
nach wie vor bestehen. Die hygienisch-diätetische Therapie mit den Freiluftliegekuren,
das Gerüst all unserer Maßnahmen, wird noch mehr in den Vordergrund gestellt, denn
wir sehen ihren Einfluss nicht allein in der körperlichen Ruhe, sondern mehr noch
in der seelischen Entspannung durch das Fernhalten der zermürbenden Reize des Alltags.
Auf operative Eingriffe wird dort, wo mechanische Hindernisse der Heilung entgegenstehen,
auch künftig nicht immer verzichtet werden können. Aber auch hierbei wirkt sich das
persönliche Eingehen auf den Kranken, vor allem bei der Vor- und Nachbehandlung, entscheidend
aus. Solche Einstellung verlangt ein besonders kritisches Urteil in der Anzeige zur
Operation und wägt das Für und Wider nicht allein nach dem lokalen Befund, sondern
immer nur im Rahmen der Gesamtsituation sorgfältig ab. Der Arzt, der etwa auf jede
Feststellung einer Kaverne schablonenmäßig mit dem Vorschlag zu sofortiger Pneumothoraxanlegung
reagiert und die Allgemeinbehandlung als nebensächlich einschätzt, wird erstaunt sein,
von der großen Zahl der spontanen Kavernenheilungen zu hören, die Bronkhorst in den letzten Jahren erzielte, bei sehr streng und langdauernd durchgeführter körperlicher
und seelischer Ruhebehandlung, wobei er die psychische Entspannung besonders in den
Vordergrund stellt. Von 180 Kavernenträgern wurden 100 (55 Prozent) spontan geschlossen,
die übrigen durch Kollapsbehandlung. Dabei ist Bronkhorst, übrigens gleichzeitig – und sicher ist dieses Zusammentreffen kein Zufall – einer
der erfolgreichsten Vorkämpfer der Arbeitstherapie für Tuberkulöse und Schöpfer der
bekannten ADO-Werke in den Heilstätten Berg en Bosch (Holland), durchaus der operativen
Therapie zugetan und hat zu derselben Zeit, dort wo es notwendig war, eine große Zahl
von Pneumolysen ausführen lassen. Das sollte auch dem Skeptiker zu denken geben!
Die Hoffnung von ungezählten Tuberkulosekranken und ihren Ärzten richtet sich heute
auf die Chemotherapie, die in letzter Zeit so verheißungsvoll vorangekommen ist. Wie
diese sich künftig entwickeln wird und welchen Weg die Tuberkulosebehandlung überhaupt
nimmt, vermögen wir nicht abzusehen. Aber eines wissen wir schon heute: Niemals wird
man die Tuberkulose, deren Feuer von vielen Seiten angefacht und geschürt wird, mit
einem einzigen Mittel allein auslöschen können! Immer wird das Zusammenwirken mehrerer
Heilkräfte notwendig sein, und die wichtigste Aufgabe des Arztes wird immer bleiben,
die seelische Abwehr des Kranken zu wecken und zu stärken, wie es Hufeland schon gesagt hat: „Wir haben andere Namen, selbst andere Formen der Krankheiten,
andere Mittel der Heilung, andere Begriffe und Erklärungsarten als das Altertum, aber
die Heilkunst ist noch immer dieselbe, und es bedarf noch immer derselben Eigenschaften,
um ein großer Arzt zu sein wie zu Hippokrates‘ Zeiten. Es gibt nur eine Heilkunst, denn sie ist etwas Inneres, auf den ewigen Gesetzen der Natur Beruhendes!“