Psychiatr Prax 2012; 39(07): 349-350
DOI: 10.1055/s-0032-1327202
Kritisches Essay
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Mantra Biopsychosozial – Anspruch und Wirklichkeit in der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie

Mantra Biopsychosocial – Claim and Reality in Psychosomatic Medicine and Psychotherapy
Maggie Thieme
,
Elmar Brähler
,
Yve Stöbel-Richter
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
08. Oktober 2012 (online)

Preview

Das Tagungsmotto des Kongresses der DGPPN für 2012 ist „Zukunft der psychosozialen Medizin“. Steht die Psychiatrie vor einem Paradigmenwechsel, nachdem die sozialpsychiatrischen Anteile, die ja in den 70er Jahren zu einer beachtlichen Blüte geführt hatten, immer mehr zugunsten einer rein biologischen Orientierung zurückgedrängt wurden?

Vielleicht ist die Wahl des Tagungsthemas auch eher darin begründet, dass seitens der Psychiatrie seit Jahren versucht wird, die Psychosomatik mit in die Psychiatrie zu übernehmen, worüber es ja in der letzten Zeit verstärkt Auseinandersetzungen gegeben hat.

Dieses Problemfeld soll nicht Gegenstand der nachfolgenden Überlegungen werden, sondern vielmehr der Anspruch der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie, einem biopsychosozialen Modell zu folgen. Dieser Terminus wurde in die wissenschaftliche Debatte durch einen Aufsatz von Engel [1] aus den 70er Jahren eingebracht. Der Begriff löste den in der Psychosomatik und Psychotherapie lange verbreiteten und auch immer noch zu findenden Begriff der ganzheitlichen Medizin überwiegend ab, da dieser auch alternativ- bzw. komplementärmedizinische Konnotationen enthält.

Die biopsychosoziale Betrachtungsweise soll die 3 Zugänge zum Menschen, den biologischen, den psychologischen und den sozialen, vereinen. Sie dokumentiert den Anspruch von Psychosomatik und Psychotherapie, sich umfassend mit dem Menschen zu beschäftigen. In Festreden, Tagungen, Ehrungen und Lehrbüchern ist der Begriff biopsychosozial zu einem signifikanten Schlüsselterminus geworden. Natürlich sind die psychologischen Aspekte in der Psychosomatik und Psychotherapie dominierend vertreten. Aber auch die biologischen Aspekte sind in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher miteinbezogen worden.

Zweifelhaft ist, ob die sozialen Bezüge in Psychosomatik und Psychotherapie, gemessen am postulierten Anspruch, ausreichend vertreten sind.

Um dieser Frage nachzugehen, haben wir aus den zwei wichtigen deutschsprachigen Zeitschriften, dem „Psychotherapeut“ und der Zeitschrift „Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie“ die beiden Jahrgänge 2010 und 2011 dahingehend analysiert, welche sozialen Bezüge auffindbar sind. Rund ein Sechstel der Artikel könnte zumindest partiell sozialen Themen zugeordnet werden.

Am stärksten war der Themenbereich Arbeitsfeld und Gesundheit mit insgesamt 17 Beiträgen vertreten, vor allem mit den Gebieten Stress, Leistungsdruck und Leistungsfähigkeit (z. B. [2] [3] [4] [5] [6]). Speziell mit dem Burnout befassten sich zwei Beiträge [7] [8]. Dieses neue Modethema wird uns sicher auch in Zukunft weiterhin begegnen. Andere Arbeiten beschäftigten sich mit Mobbing und Bossing und mit der Arbeitswelt (z. B. 9 – 11]). Nur eine Arbeit beschäftigte sich mit dem Problem der Arbeitslosigkeit [12].

Dass sich so viele Arbeiten mit der Arbeitswelt befassten, lag z. T. daran, dass es im „Psychotherapeut“ ein Sonderheft zu diesem Thema gab. Andererseits sind Frühberentungen durch psychische Erkrankungen und die Zunahme psychischer Erkrankungen bei Arbeitnehmern zu einem drängenden gesellschaftlichen Problem geworden. Die Themenbereiche soziale Ungleichheit, Überschuldung und Armut waren jedoch nicht häufig vertreten [13] [14]. Hier muss ein eklatantes Defizit festgestellt werden.

Die Versorgungsprobleme von Krebskranken und die Versorgungssituation im Stadt-Land-Vergleich wurden ebenfalls in einigen Beiträgen publiziert [15] [16] [17]. Das Themenfeld Migration scheint uns noch nicht ausreichend abgedeckt, es gab hierzu nur wenige Beiträge [18] [19]. Die Themen Kindesmisshandlung/frühe Traumata sowie Gewalt waren mit jeweils vier Beiträgen vertreten. Dies ist recht beachtlich, kann allerdings auch auf ein Themenschwerpunktheft zurückgeführt werden [20] [21] [22]. Zu den Themenfeldern Weltkrieg-II-Kindheiten und zu explizit politischen Themen bezüglich der DDR-Krippen und der DDR-Stasi-Inhaftierung ist noch deutlicher Nachholbedarf zu konstatieren.

Auch die in der Medizin übliche Sichtweise auf den Index-Patienten mit Fokus auf familiäre Aspekte wurde in den letzten beiden Jahren sehr vernachlässigt [23] [24]. Dieser Bereich war früher in den untersuchten Fachprofessionen Psychosomatik und Psychotherapie schon einmal besser vertreten.

Ebenfalls wenige Arbeiten gibt es zu den von der gesellschaftlichen Sichtweise sehr stark tangierten Gruppen der Transsexuellen und der Intersexuellen [25] und zu dem eher philosophisch gesellschaftlichen Thema des „Homo ambivalens“, der durch unsere Gesellschaftsform hervorgebracht wird. Soziale Aspekte sind auch in den Arbeiten zu Stigmatisierung von Adipösen, Lebensqualität und Internetfragen zu finden [26] [27] [28].

Obwohl einige soziale Felder in den beiden Zeitschriften ganz gut abgedeckt sind, sind viele Bereiche jedoch gar nicht oder nur in sehr geringem Ausmaß vertreten: Demografischer Wandel, Probleme Alleinerziehender, Frühberentung, Obdachlosigkeit, prekäre Beschäftigung, Randgruppen, Alter, Kriegstraumatisierung, Institutionen Krankenhaus, Altenheim, Knast, Altersarmut, Folteropfer, Nichtversicherte, Versorgungsprobleme – z. B. stationär/ambulant –, gesundheitsökonomische Aspekte, Priorisierung, Lärm etc. Diese Liste ist natürlich nicht erschöpfend.

Diese Probleme können von Psychosomatikern und Psychotherapeuten nicht alle angegangen werden. Dies würde die Profession überfordern. Dennoch sollten Psychosomatik und Psychotherapie ihren Anspruch ernst nehmen und soziale Aspekte, wie die oben genannten, deutlicher in den Fokus ihres Interesses rücken. Schade ist es, dass die Medizinische Soziologie, die gerade jetzt gebraucht würde und in welcher zahlreiche dieser Aspekte genuin beforscht und thematisiert werden, momentan von der universitären Landkarte mehr und mehr verschwindet.