Kontra
Frank Bergmann
Fotograf: Stefan Keller.
Integrierte Versorgungsverträge (IV-Verträge) bilden einen für die Psychiatrie besonders
beachteten Teil der Selektivverträge, sodass sich die nachfolgende Argumentation auf
Erfahrungen mit IV-Verträgen konzentriert. Ende 2008 waren rund 6500 IV-Verträge abgeschlossen
worden, davon 43 Verträge mit rein psychiatrischer Indikation und 18 psychosomatische
Verträge. Auch die neuropsychiatrischen Berufsverbände, namentlich BVDN, BDN und BVDP,
haben sich an Abschlüssen und Umsetzung von integrierten Versorgungsverträgen nach
§ 140 a beteiligt.
Cui bono? Diese Frage stellt sich zunehmend nach nüchterner Betrachtung der Ergebnisse
integrierter Versorgungsverträge im Bereich Psychiatrie. Es handelte sich dabei im
Wesentlichen um On-Top-Verträge ohne Bereinigung der Gesamtvergütung, exemplarisch
sind zu nennen Verträge zur Versorgung Depressiver mit der Techniker Krankenkasse,
das Projekt „Seelische Gesundheit“ in Aachen mit einer Gruppe von Krankenkassen unter
Federführung der AOK Rheinland Hamburg sowie Verträge mit weiteren Krankenkassen in
Berlin, Hamburg und München. Es wurden mit wenigen Ausnahmen eher kleine Patientenzahlen
durch diese Verträge erreicht, dies war in den meisten Fällen auch durch die Konzeption
der Verträge ex ante festgelegt. Eine flächendeckende Einbeziehung der Hausärzte,
die insbesondere im Segment der Versorgung von Patienten mit Depressionen eine wichtige
Rolle spielen, fand in der Regel nicht statt, sieht man einmal vom Projekt „Seelische
Gesundheit“ in Aachen ab. Eine Studie der DGPPN unter Federführung von Prof. Gaebel,
vorgestellt beim letzten DGPPN-Kongress, zeigte demgegenüber die dringende Notwendigkeit
einer verbindlichen Vernetzung zwischen den Versorgungssektoren zur Ausgestaltung
rationaler Versorgungspfade. Insbesondere die unterschiedlichen Finanzierungssysteme
der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung einerseits und der Versorgung z. B. durch
psychiatrische Institutsambulanzen erweisen sich als eines der größten Hemmnisse in
der Etablierung von Versorgungspfaden.
Gerade die Einbeziehung einerseits des hausärztlichen Versorgungssektors, aber auch
die sektorenübergreifende Vernetzung und Gestaltung der ambulanten Versorgung zwischen
Vertragsärzten und Ambulanzangeboten wäre ein hochprioritäres Ziel, welches durch
die bisherigen IV-Verträge jedoch nicht erreicht wurde.
Insbesondere die primär ökonomische Ausrichtung der Verträge durch die beteiligten
Krankenkassen hat die Kooperation der Sektoren nachhaltig erschwert. Ein Beispiel:
Der Fortsetzungsvertrag eines bundesweiten IV-Modells in der Indikation Depression
mit einer großen bundesweiten Ersatzkasse scheiterte an den Zielvorgaben der Krankenkasse,
Krankenhausaufenthalte „um jeden Preis“ vermeiden zu wollen und an der Vorgabe, dass
das Patientenmanagement durch komplementäre Versorger durchzuführen sei. Natürlich
spricht nichts gegen die Festlegung von Behandlungszielen, stationäre Aufenthalte
zu vermeiden oder zu verkürzen. Ein Behandlungsmanagement in den Händen eines Anbieters
mit eigenen Partialinteressen (betriebseigene Krisenwohnungen zu belegen) ist nicht
akzeptabel. Ein Patient, für den die ärztliche Indikation einer stationären Behandlung
gestellt wird, muss ebenso wie jeder somatische Patient, z. B. mit Herzinfarkt oder
Schlaganfall, unverzüglich einer qualifizierten stationären Behandlung zugeführt werden.
„Psychiatrie light“ aus Kostengründen: das ist kein Benefit für die Versorgung!
Auch in anderen Selektivverträgen standen die Einsparwünsche der Krankenkassen ganz
im Vordergrund der Vertragsziele. Dies gilt beispielsweise auch für Einschränkungen
im Bereich Pharmakotherapie. Ethische Bedenken und Akzeptanzprobleme zeigen sich bei
einem Projekt in Niedersachsen, welches durch ein großes Pharmaunternehmen gemanagt
wird. Kritisch wird in der fachpsychiatrischen Öffentlichkeit diskutiert, dass pharmazeutische
Unternehmen Vertragspartner für integrierte Versorgungsprojekte werden und dabei Managementaufgaben
(in Tochterfirmen) übernehmen. Der frühere Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschuss
Dr. Rainer Hess kam in diesem Kontext anlässlich eines Vortrags auf einem DGPPN-Symposium
2011 zu dem Ergebnis: „IV-Projekte lösen keine Versorgungsprobleme, benötigt werden
Konzepte zur Gesamtversorgung und keine Insel-Lösungen“.
Zusammenfassend muss festgestellt werden: Die psychiatrische Versorgung ist durch
die bisherigen IV-Projekte allenfalls regional und in kleineren Teilaspekten verbessert
worden. Eine flächendeckende Verbesserung der Versorgung von Patienten mit psychischen
Erkrankungen, etwa durch intensivere Vernetzung und bessere Kooperation der Sektoren,
ist nicht nachhaltig eingetreten.
Gleichwohl treten die negativen Aspekte selektiven Kontrahierens zunehmend in den
Vordergrund: Vermeidung von stationären Einweisungen als übergeordnetes Ziel, Deprofessionalisierung
als Kostensenkungsprinzip und – last but not least – die zunehmende Tendenz der Kassen,
Versorgungsmanagement selbst zu übernehmen. Beispiele hierfür sind die zentrale Leitstelle
für Demenz der AOK in Aachen oder auch der § 73b/73c-Vertrag der AOK/Medi Baden-Württemberg,
bei denen die Steuerung in Gänze bei der AOK liegt. Hier besteht die zusätzliche Problematik
eines ausnahmslosen Primärarztmodells.
Es gibt gute Gründe dafür, psychiatrische Versorgung, insbesondere im ambulanten Versorgungssektor,
neu zu strukturieren. Die zu bewältigenden Aufgaben sind überschaubar und liegen auf
der Hand: Verbesserte Kooperation zwischen hausärztlichem und fachärztlichem Sektor
sowie verbesserte Kooperation der Vertragsärzteschaft mit den stationären Einrichtungen
und ihren stationären, teilstationären und ambulanten Angeboten. Dazu ist die konsequente
Umsetzung von Versorgungspfaden erforderlich, die an vielen Stellen im Rahmen der
vielen IV-Projekte entwickelt worden sind und die (alle auf sehr ähnliche Weise) versuchen,
Schnittstellenprobleme zu überwinden. Die Ziele und die zur Zielerreichung notwendigen
Schritte sind bekannt, die Werkzeuge ebenfalls. Es fehlt bislang an der Bereitschaft,
die Versorgung wirklich einheitlich und flächendeckend neu zu gestalten, und vor allen
Dingen nachhaltig. Kurzfristige Verträge, die nach einigen Jahren „sang- und klanglos“
und ohne Begründung plötzlich gekündigt werden, sind für die Versorgung häufig schwer
(und) chronisch psychisch kranker Patienten völlig ungeeignet. Solange Krankenkassen
selektive Verträge einerseits als Marketingprodukte im Wettbewerb um gesunde Beitragszahler
verstehen und andererseits als „Sparmodelle“, wird sich an dieser Situation wenig
ändern.
Erforderlich ist eine überregionale Bedarfs- und Versorgungsplanung, wie sie nur unter
Einbeziehung der Kassenärztlichen Vereinigungen, die für die Sicherstellung der Versorgung
zuständig sind, erreicht werden kann. Die Selektivverträge nach § 140 a sind ein Versuchslabor,
aus dem regional Erkenntnisse gewonnen worden sind. Es gilt jetzt, diese Erkenntnisse
in ein flächendeckendes Versorgungskonzept umzusetzen. Dies wird aus den genannten
Gründen weder im Rahmen von IV-Verträgen nach SGB V § 140 a ff. möglich sein noch
durch hausärztlich zentrierte Versorgungsmodelle, wie das AOK Medi-Projekt in Baden-Württemberg.
Cui bono: Es gibt augenscheinlich eine Palette unterschiedlicher Partialinteressen
an Selektivverträgen. Diese wollte der Gesetzgeber auch ausdrücklich bedienen! Das
KV-Monopol sollte durchbrochen werden. Das ist auch zumindest partiell „gelungen“.
Die Beweisführung, dass dies mehr Transparenz und v. a. Qualität in der Versorgung
geschaffen hat und dass v. a. die Patienten davon profitieren konnten, ist hingegen
nicht gelungen.