Psychiatr Prax 2013; 40(02): 62-63
DOI: 10.1055/s-0032-1332829
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Generation Y: Problematische Auswirkungen auf die psychiatrisch-psychotherapeutischen Fächer – Pro & Kontra

Generation Y: Problematic Consequences for Psychiatry and Psychotherapy – Pro & Contra
Michael Grözinger
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Universitätsklinikums Aachen, RWTH Aachen University
,
Andreas Conca
2   Department of Psychiatry, Central Hospital of Bolzano, Bolzano, Italy
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Korrespondenzadresse

PD Dr. Michael Grözinger
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Universitätsklinikums Aachen, RWTH Aachen University
Pauwelsstraße 30
52074 Aachen

Publication History

Publication Date:
04 March 2013 (online)

 

Pro

Mosaikartig fügten sich die Erzählungen des Patienten zu einem Bild von dessen Lebenssituation zusammen. Die frischgebackene Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie wollte gerade zu einer Verständnisfrage ansetzen, als ein energisches Klopfen die Psychotherapiesitzung unterbrach. Ins Zimmer trat ein sympathischer junger Assistenzarzt und begrüßte den Patienten freundlich.


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Die Therapeutin schaute überrascht auf die Uhr und besann sich einen Moment. Dann stellte sie den Kollegen als ihre Ablösung vor und erklärte, dass sie jetzt leider ihre Kinder von der Krippe abholen müsse. Ihr Kollege sei aber sehr kompetent und könne die Sitzung problemlos fortführen. Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und verließ den Raum.

Menschen wie unsere Ärztin, aktuell bis 35 Jahre alt und somit auf der Höhe ihrer körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, werden der sog. Generation Y zugerechnet. Dieses Schlagwort ist nicht ganz unbekannt, Google findet immerhin 3,5 Millionen Treffer dazu. In den zahlreichen Artikeln werden dieser Altersgruppe Eigenschaften zugeschrieben wie: gut ausgebildet, von den neuen Medien geprägt, technikaffin, hohes Selbstbewusstsein, nicht kritikfähig, pragmatisch, kooperativ, bilden Netzwerke, „Leben beim Arbeiten“, schätzen akademischer Titel eher gering, entdecken konservative Werte neu, priorisieren die Familie, wollen für sich optimale Ausbildung durch gute Supervision und optimale Führung [3].

Kritisch hinterfragen kann man durchaus, ob eine solche Beschreibung wirklich den Geist einer ganzen Generation auf einen Punkt bringen kann. Aber das ist nicht unser Thema. Wir wollen stattdessen darüber nachdenken, mit welchen Problemen sich psychiatrische Kliniken auseinandersetzen müssen, wenn die jüngste Altersgruppe ihrer Mitarbeiter wie gerade beschrieben denkt und handelt. Diese Überlegungen sollen natürlich nicht moralisierend als Schuldzuweisung an die jüngere Generation verstanden werden. Ein Appell sich anders zu verhalten wäre allzu naiv. Schließlich sind die Einstellungen der Generation Y ja auch ein Produkt unserer gesellschaftlichen Strömungen.

Der Arbeitsmarkt für Ärzte in Deutschland hat sich in den letzten 20 Jahren in sein Gegenteil verkehrt. Damals waren die Ausbildungsstellen knapp, heute fehlen die Bewerber. Kaum eine andere Branche konkurriert derzeit so verzweifelt um kompetente Mitarbeiter wie die Krankenhäuser [1] [2]. In dieser Situation des drängenden Mangels müssen die Kliniken sich mit den Wünschen der jungen Generation auseinandersetzen. Da der finanzielle Rahmen eng ist und die Bewerber zunehmend weiblich sind, werden flexible Arbeitszeiten zur Zauberformel. Insofern ist die Diskussion um die Generation Y dem Nachwuchsmangel nachgeordnet. Damit soll den Kliniken nicht generell der Wille abgesprochen werden, den im Gang befindlichen Kulturwandel mittragen zu wollen. Letztlich ist es nicht unwahrscheinlich, dass sie aus der Krise verwandelt und gestärkt hervorgehen.

Naturgemäß werden die Vorstellungen der Generation Y früher oder später mit den eng begrenzten Ressourcen des Gesundheitssystems kollidieren. Optimale Ausbildung durch gute Supervision, kompetente Führung und kontinuierliches Feedback verbraucht Ressourcen und ist auf längere Sicht nicht umsonst zu haben. Diese Argumente sind wichtig, gehen aber ausgetretene Wege und sollen hier nicht weiterverfolgt werden. Stattdessen wollen wir ein Problem beleuchten, das weniger beachtet wird als das finanzielle, möglicherweise aber viel weitreichender ist, nämlich das der inflationär zunehmenden Schnittstellen in der klinischen Medizin. Die Generation Y mit ihrer Kernforderung nach begrenzten und flexiblen Arbeitszeiten verschärft dieses Problem erheblich.

Drei Thesen sollen illustrieren, warum diese Zunahme der Schnittstellen besonders für die Fächer Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (P-Fächer) und deren Patienten zur Gefahr werden kann.

These 1: Schnittstellen bilden eine enorme, aber weithin unterschätzte Gefahr für Patienten.

Moderne Gesundheitssysteme beinhalten eine enorme Anzahl unterschiedlichster Schnittstellen. Durch die Spezialisierung der Tätigkeiten treten sie zunehmend an der Grenze zwischen verschiedenen Berufsgruppen auf. Für das erfolgreiche Management dieser Art von Schnittstellen braucht es ein wechselseitiges Verständnis über die grundsätzliche Arbeitsweise der beteiligten Partner. Daneben gibt es Schnittstellen innerhalb der eigenen Berufsgruppe, deren Management nicht minder schwierig ist. Sie treten heute mehr denn je zu unregelmäßigen Zeiten, an ungewöhnlichen Orten und in immer neuem Kontext auf. Schnittstellen beinhalten ein extremes Gefahrenpotenzial, zumal wenn sie nicht in ein ritualisiertes Ablaufschema eingebettet sind [4]. Der Satz „Ich kann Ihnen nichts über den Patienten sagen, ich bin heute den ersten Tag wieder da“ klingt vielen Konsiliarärzten wie ein Morgengruß im Ohr. Aus unserer klinischen Erfahrung halten wir Schnittstellen in Krankenhäusern für mindestens so gefährlich wie Medikamentenwechselwirkungen. Ihre Bedeutung wird unterschätzt, weil es keine guten Werkzeuge gibt, um ihre Gefährlichkeit zu messen und weil es zu wenige Strategien gibt, um sie zu vermeiden. An dieser Stelle könnten Forschungsanstrengungen dazu beitragen, Charakteristika von Schnittstellen zu identifizieren und Möglichkeiten zu entwickeln, ihr Gefahrenpotenzial zu mindern.

These 2: Schnittstellen in der Medizin sind entgegen naiven Vorstellungen nicht allein mit technischen und finanziellen Mitteln lösbar.

Als Psychiater mutet uns die eingangs beschriebene Szene surreal an, in der Arbeitswelt eines Anästhesisten ist sie vertraute Realität. Schnittstellen erscheinen durch menschliche Flexibilität und intelligente Software beherrschbar. Es ist sicher nicht ganz falsch, dass Schnittstellen durch Technik zu Nahtstellen werden können. Dazu gibt es Einsatzpläne, gemeinsame Kalender mit automatischer E-Mail- und Erinnerungsfunktion, Vertretungsregelungen, Dienstanweisungen für Übergaben und qualitätssichernde Maßnahmen. Aber wie viel Bit, Zeit und Geduld braucht ein Arzt in der Praxis, um die ihm vertraut gewordene Krankheitsgeschichte eines Menschen in eine sprachlich und logisch fassbare Form zu bringen, zu komprimieren und einem anderen Behandler sicher zu vermitteln? Technische Hilfsmittel sind wichtig, können die relevanten Details aber auch verdecken. Diejenigen, die regelmäßig Arztbriefe korrigieren, wissen um die Fallstricke dieser Informationsvermittlung und haben Respekt vor ihnen. Durch jede zusätzliche Schnittstelle nehmen die Fehler in aller Regel drastisch zu.

Ein weiteres, deutlich schwieriger beherrschbares Problem ist in der Arzt-Patient-Beziehung begründet. Um eine vertrauensvolle Beziehung zu einem Patienten aufzubauen, braucht es Zeit und Zuwendung, die beide nur in Grenzen komprimierbar sind. Das Produkt dieser Bemühungen, der Glaube an den Arzt und seine Kraft zu heilen, ist bekanntermaßen therapeutisch wirksam. Über Schnittstellen hinweg sind solche Phänomene aber nicht oder nur sehr begrenzt übertragbar. Spätestens an dieser Stelle muss man eingestehen, dass die Schnittstelle als technisches Problem ein moderner Mythos ist.

These 3: Die P-Fächer werden durch Schnittstellen stärker beeinträchtigt als andere Fächer.

Manche Fächer werden durch Schnittstellen mehr beeinträchtigt als andere. Bei allen chronischen Erkrankungen beispielsweise hat die persönliche Beziehung zum Patienten eine besondere Bedeutung. Bei den P-Fächern beruht aber ein Hauptmechanismus der Therapie auf Phänomenen wie Übertragung, Gegenübertragung oder schlichtweg Sympathie, die sich an Schnittstellen auflösen und danach wieder völlig neu bilden müssen. Auch wenn eine gute Lösung für dieses Problem noch nicht in Sichtweite ist, bleibt Empathie unverändert ein essenzieller Beziehungsaspekt.


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Michael Grözinger
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Andreas Conca
  • Literatur

  • 1 Schmidt K, Meyer JE, Liebeneiner J et al. Fachkräftemangel in Deutschland. Umfrage zu Erwartungen von Chefärzten an junge Mitarbeiter. HNO 2012; 60: 102-108
  • 2 Grözinger M, Amlacher J, Schneider F. Besetzung ärztlicher Stellen in deutschen Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie. Nervenarzt 2011; 82: 1460-1468
  • 3 Schmidt CE, Möller J, Schmidt K et al. Generation Y: recruitment, retention and development. Anaesthesist 2011; 60: 517-524
  • 4 Siemsen IM, Madsen MD, Pedersen LF et al. Factors that impact on the safety of patient handovers: An interview study. Scand J Public Health 2012; 40: 439-448

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  • 1 Schmidt K, Meyer JE, Liebeneiner J et al. Fachkräftemangel in Deutschland. Umfrage zu Erwartungen von Chefärzten an junge Mitarbeiter. HNO 2012; 60: 102-108
  • 2 Grözinger M, Amlacher J, Schneider F. Besetzung ärztlicher Stellen in deutschen Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie. Nervenarzt 2011; 82: 1460-1468
  • 3 Schmidt CE, Möller J, Schmidt K et al. Generation Y: recruitment, retention and development. Anaesthesist 2011; 60: 517-524
  • 4 Siemsen IM, Madsen MD, Pedersen LF et al. Factors that impact on the safety of patient handovers: An interview study. Scand J Public Health 2012; 40: 439-448

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