Dtsch Med Wochenschr 2013; 138(19): 987-988
DOI: 10.1055/s-0032-1332941
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Diagnosestudien mit molekularen Markern – Individualisierte Medizin auf dem Prüfstand

Diagnostic studies with molecular biomarkers – individualized medicine comes under scrutiny
P. Martus
1   Institut für Klinische Epidemiologie und angewandte Biometrie, Universitätsklinikum Tübingen
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Publication Date:
30 April 2013 (online)

„Diagnosestudien mit molekularen Markern“ (den Übersichtsartikel von Ziegler et al. finden Sie frei zugänglich in deutscher und englischer Sprache unter: http://dx.doi.org/10.1055-s-0032-1327406 bzw. http://dx.doi.org/10.1055-s-0033-1343172) – das klingt nach Theorie, viel Statistik und einem insgesamt etwas trockenen Thema. Wer mag sich die Lektüre dieses Artikels zumuten? Zunächst einmal seien Leserinnen und Leser beruhigt: In der gesamten Arbeit taucht erst auf der 9. Seite eine (die einzige) Formel des Textes auf. Wer diese Formel einfach ignoriert, wird dennoch die gesamte Arbeit verstehen und nur wer es genauer wissen will, kann im Anhang die Details nachschauen.

Auch wenn es der Titel nicht verrät, in der Arbeit geht es um die Herausforderungen der „individualisierten Medizin“, dem großen übergeordneten Paradigma der aktuellen medizinischen Forschung. Unterschiedlichste Methoden und Fragestellungen verbergen sich hinter diesem Etikett. Zu den wichtigsten Ansätzen zählt die Auswahl oder Spezifikation von Therapien aufgrund „harter“ Informationen über den einzelnen Patienten mit der Hoffnung auf insgesamt wirksamere Therapieansätze. Die hier gemeinten Informationen beruhen in vielen Fällen auf der Analyse von molekularen Markern, manchmal aber auch auf der Analyse von Bildgebungsdaten, wie die Autoren zu Recht bemerken.

Um die Visionen der individualisierten Medizin in der Zukunft Realität werden zu lassen, bedarf es Studien von hoher Qualität, die in der Lage sind, die (viele?) Spreu vom (wenigen?) Weizen zu trennen. Um die Kriterien für die Qualität dieser Studien geht es in der Arbeit von Ziegler und Koautoren.

Bereits die Definition des Begriffs „Biomarker“ ist nicht ganz einfach, man erkennt dies aus den konkurrierenden Formulierungen, die in der Arbeit genannt werden. Der Vorschlag von Ziegler und Koautoren stammt vom NIH [2] (Referenz 3 der Arbeit) und ist sicherlich der überzeugendste:

„Ein Biomarker ist eine Charakteristik, die objektiv gemessen und evaluiert werden kann und als Indikator für normale biologische Prozesse, pathogene Prozesse oder für pharmakologische Reaktionen auf eine therapeutische Intervention dient.“

Bei der Einordnung und Bewertung diagnostischer Studien orientieren sich die Autoren am ACCE-Modell. Das Akronym steht für

  • analytische (A) und klinische Validität (C),

  • klinischen Nutzen (C) und

  • ethische (E), rechtliche und soziale Aspekte (auch kurz: ELSA)

Die Autoren beschäftigen sich mit den ersten drei Dimensionen und hier insbesondere mit der klinischen Validität, für die ethischen Aspekte wird auf die Literatur verwiesen.

Die Autoren diskutieren mögliche Verzerrungen von Studienergebnissen, die meist in viel zu optimistische Bewertungen der untersuchten Diagnosemarker münden. Sie identifizieren Probleme bei der Auswahl von Patienten und Messverfahren aber auch Fehler bei der Datenanalyse. Die Auswahlverzerrung, welche die Selektion der Patienten für die jeweilige Studie betrifft, wird als gravierendste aller Fehlermöglichkeit herausgestellt. Diese Verzerrung kann z. B. durch die Aufnahme von „übernormal“ gesunden Kontrollen oder „zu schwer“ erkrankten Patienten auftreten.

Auf der Analyseseite sind besonders die verschiedenen Formen des Verifikationsbias von Bedeutung. Dieser Bias tritt auf, wenn die Anwendung oder (bei mehreren zur Verfügung stehenden Alternativen) die Auswahl des Referenztests in Abhängigkeit des Biomarker-Ergebnisses erfolgt. Die Gründe für das Auftreten von Verifikationsbias werden anschaulich erklärt und an einem rechnerisch wirklich leicht nachvollziehbaren Beispiel in Abb.  3 der Arbeit erläutert.

Wer will, kann in einer Originalpublikation von Ziegler und Koautoren [1] weitere Verfeinerungen dieser Definition nachlesen.

Der Artikel verschafft eine hilfreiche Orientierung durch das Gestrüpp von Evidenzgraden, Studienphasen, möglichen Fehlerquellen und Qualitätskriterien für diagnostische Studien mit Biomarkern. Übersichtliche Tabellen verbunden mit sorgfältig ausgewählten Beispielen ermöglichen es, einen umfassenden Überblick und zugleich ein Detailverständnis des sicherlich nicht einfachen Themas zu gewinnen. Die Tabellen und Abbildungen sind auch unabhängig vom Text verständlich und erleichtern somit den schnellen Zugriff auf die besonders relevanten Inhalte der Arbeit.

Besonders hervorzuheben ist das umfangreiche Literaturverzeichnis, das den unterschiedlichen „Sichtweisen“ auf das Thema gerecht wird. Zwar finden sich auch die auf mathematische Methoden zielenden Lehrbücher und Publikationen, aber sehr hilfreich sind die Verweise auf aussagekräftige Beispielstudien und frühere methodische Arbeiten für medizinische Leser.

Die relevanten Statements des Gemeinsamen Bundesausschusses [5] oder die DIN -Norm zur Genauigkeit von Messverfahren und Messergebnissen [3] und der Hinweis auf eine Arbeit, in der die ethische Problematik bei der Anwendung von Biomarkern in der genetischen Testung behandelt wird [4], runden das Literaturverzeichnis ab.

Weiterhin ist hervorzuheben, dass der Artikel spezifisch auf molekulare Marker zielt und nicht bei den allgemeinen Kriterien für Diagnosestudien verharrt. Dies gilt beispielhaft für die Phasen der klinischen Prüfung molekularer Marker und ebenso für die Evidenzgrade der zugehörigen Prüfungen, die sich eben nicht einfach aus den in der Literatur vorgeschlagenen Systematiken für allgemeine diagnostische Marker ergeben. Hier ist der Abschnitt ab Seite 4 sehr spezifisch für Biomarker aufgebaut, insbesondere gehen die Autoren auf die Problematik der großen Zahl von Einzelmesswerten bei Studien mit „-omik-Methoden“, also z. B. Genchip-Analysen oder Massenspektrometrie, ein. Ein wichtiges Detail ist auch der Hinweis auf die Bedeutung des Variationskoeffizienten für die Güte von Markern und auch für die statistische Planung der notwendigen Zahl von Patienten für Markerstudien. An dieser Stelle taucht dann auch die erwähnte einzige Formel des Textes auf.

Die besondere Stärke des Artikels ist die einfache Lesbarkeit und die äußerst praxisnahe Perspektive der Autoren zum Thema. Der Artikel von Ziegler, König und Schulz-Knappe kann jedem empfohlen werden, der als verantwortungsvoller Arzt einerseits qualitativ schlechte Studien als solche erkennen will und andererseits die qualitativ hochwertigen Ergebnisse der Forschung zur individualisierten Medizin zum Nutzen der Patienten aufgreifen will.

 
  • Literatur

  • 1 Ziegler A, Koch A, Krockenberger K et al. Personalized medicine using DNA biomarkers: a review. Hum Genet 2012; 131: 1627-1638
  • 2 Biomarkers Definitions Working Group. Biomarkers and surrogate endpoints: preferred definitions and conceptual framework. Clin Pharmacol Ther 2011; 69: 89-95
  • 3 DIN Deutsches Institut für Normung e.V.. DIN ISO 5725-1:1997-11 Genauigkeit (Richtigkeit und Präzision) von Messverfahren und Messergebnissen – Teil 1: Allgemeine Grundlagen und Begriffe. In: DIN Deutsches Institut für Normung e.V., ed, DIN-Taschenbuch 355: Statistik – Genauigkeit von Messungen – Ringversuche. Berlin: Beuth; 2004: 1-44
  • 4 Evans JP, Skrzynia C, Burke W. The complexities of predictive genetic testing. BMJ 2001; 322: 1052-1056
  • 5 Gemeinsamer Bundesausschuss. Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses. http://www.g-ba.de/downloads/62-492-654/VerfO_2012-10-18.pdf. Fassung vom: 18.12.2008. BAnz. Nr. 84a (Beilage) vom 10.06.2009. Letzte Änderung: 18.10.2012. BAnz AT 05.12.2012 B3. In Kraft getreten am 06.12.2012. Letzter Zugriff 26.04.2013.