Sportverletz Sportschaden 2012; 26(04): 194-196
DOI: 10.1055/s-0032-1333367
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview – "Der Zweite ist der erste Verlierer"

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Publication Date:
07 January 2013 (online)

 

    Knut Stamer


    ist Physiotherapeut und seit 15 Jahren Therapieleiter des Medical Park Am Kirschbaumhügel sowie der Medical Park Klinik Bad Wiessee St. Hubertus.

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    Mit den Chinesen bei Olympia: Physiotherapeut Knut Stamer betreute chinesische Leichtathletinnen bei den Olympischen Spielen in London. Er erzählt von veralteten Trainingsmethoden, dem bedingungslosen Streben nach Gold und beschreibt, warum China nicht nur geografisch "meilenweit" von Deutschland entfernt ist.

    ? Herr Stamer, was hat Sie in London am meisten beeindruckt?

    Die Stimmung von 80.000 Menschen im Leichtathletikstadion, wenn die Briten am Start waren. Außerdem fand ich den Unterschied zwischen den einzelnen Sportlern beeindruckend. Es wohnen ja viele Goldmedaillengewinner im olympischen Dorf, aber wenn beispielsweise die amerikanische Basketballmannschaft oder Usain Bolt im Dorf zu Besuch sind – die haben ja nicht dort gewohnt –, herrscht trotzdem ein wahnsinniger Aufruhr unter den anderen Topathleten.

    ? Und welche Athleten haben Sie betreut?

    Ich hatte sieben chinesische Sportlerinnen: die Hammer- und Diskuswerferinnen und die Kugelstoßerinnen.

    ? Betrachtet man die Erfolge der Chinesen, scheinen sie ja über ein gutes Trainingswissen zu verfügen. Haben sie in der Therapie und Prävention solche Defizite, dass sie Hilfe aus Deutschland brauchen?

    Dass die Chinesen trainingstechnisch ein gutes Know-how haben, ist leider nicht der Fall. In Deutschland würden wir zum Beispiel beim Krafttraining die Intensitäten verändern, um mehr Variabilität zu bekommen. Das gibt es in China nicht. Viele Sportler trainieren fast jeden Tag gleich intensiv. Der deutsche Trainer Karlheinz Steinmetz, der dort im Diskusbereich arbeitet, hat zu Beginn seiner Arbeit eine Situation vorgefunden, in der beispielsweise bei der Kugelstoßtrainerin "aufwärmen" bedeutete, acht Runden auf der 400-m-Bahn zu "marschieren" – also wirklich Militärgehen. Die Sportler trainierten immer nur submaximal und maximal. Es gab kaum Erholungszeiten. Es gab auch keine Periodisierung mit Phasen, in denen man an den Basics arbeitet, Phasen mit Spitzenbelastungen und Pausen.

    ? Man könnte ja sagen: Offenbar funktioniert dieses Vorgehen.

    Ja, aber nicht in allen Sportarten – beispielsweise nicht in den Wurfdisziplinen, die ich betreuen durfte. Natürlich gibt es immer Athleten, die so eine Belastung aushalten. Diese trainieren aber zumeist auch unter Schmerzen. Viele von denen, die so eine körperliche Belastung nicht aushalten, fallen dagegen aus den Trainingsgruppen heraus, ihre sportliche Karriere ist dann zu Ende. Wenn man bei den Chinesen jemanden mit einem Schmerz von sieben oder acht auf der Numerischen Ratingskala fragt, wie lange er damit schon trainiert, hört man nicht selten: halbes, Dreivierteljahr. In China sind der Ehrgeiz und der Anreiz so groß, dass sie da einfach durchgehen. Jemand mit deutscher Mentalität würde das niemals machen. Das ist der Grund, warum die Trainer – sehr viele davon aus der "alten Schule" – ihr Training so absolvieren können. Für Rehamaßnahmen haben die gar kein Verständnis. Sie machen einfach am nächsten Tag das nächste Training, und alle machen mit.

    ? Das heißt, die Chinesen gehen quasi über Leichen – wer es nicht schafft, ist raus.

    Genau. Denn es gibt sehr viele Sportler, die nachrücken wollen, da bei einem Erfolg die Belohnung – sprich die spätere finanzielle Unterstützung und die Aussicht auf einen guten Job – sehr gut ist.

    ? Ab wann lohnt es sich für die Chinesen finanziell, Sport zu machen?

    Sobald sie international Erfolg haben, wenn sie also auf Weltmeisterschaften oder bei Olympischen Spielen eine Medaille holen. Noch höher angesehen sind aber die chinesischen Nationalspiele. Hat ein Athlet Kaderstatus, dann lebt er in den Trainingsstätten zumindest schon mal besser als die meisten anderen. Doch um richtig Geld zu verdienen, braucht es eine Medaille.

    ? Was bekommen die Sportler dann? So etwas wie eine "lebenslange Rente"?

    Das kommt darauf an. Sind sie bei der Armee, werden sie so hochgestuft, dass sie einen hohen, gutbezahlten Posten haben, aber eigentlich keine Tätigkeit. Teilweise bekommen die Sportler an Unis Lehrpositionen – ohne die entsprechende Ausbildung – und haben dann einen Schreibtischjob. Andere werden von ihren Provinzen in Ämter mit entsprechender finanzieller Unterstützung gehoben. Auch für die Betreuer lohnt es sich: Holt sein Sportler eine Medaille, kann sich der Trainer danach in China eine Eigentumswohnung kaufen.

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    London 2012: Knut Stamer (li.) mit Li Yanfeng, der Bronzemedaillengewinnerin im Diskuswerfen, und ihrem Trainer Zhang.

    ? Hat es sich auch für Sie finanziell gelohnt?

    Nein, ich habe es wegen der Erfahrung gemacht und um mal einen Einblick in den chinesischen Sport und die Sportstätten zu bekommen.

    ? Wie kam Ihr Kontakt mit China zustande?

    Physiotherapeutische Betreuung von Athleten wird aus dem Ausland eingekauft. Es gibt chinesische Doktoren, die Akupunktur, Kräutermedizin machen und so etwas wie Massage, aber nicht zielgerichtet. Häufig wird auf Hemd und Hose therapiert. Sportphysiotherapie ist ein komplett blankes Feld. Weil die chinesischen Diskuswerferinnen keinen Erfolg hatten, holten sie den deutschen Trainer Steinmetz nach China. Der kannte mich, denn wir hatten schon gemeinsam den Diskuswerfer Lars Riedel betreut. Als er sah, dass seine Athletinnen permanent überlastet waren und große orthopädische Probleme hatten, kam er vor zwei Jahren mit seinem Team und den chinesischen Trainern nach Deutschland. Sie machten in unserer Klinik zehn Tage stationäre Reha, um die Defizite aufzudecken und die erste Intervention zu setzen. Danach kamen sie wieder zu uns, dann noch einmal, und dann bin ich vor Olympia noch mal hingeflogen. Insgesamt war ich drei bis vier Wochen unten.

    ? Was haben Sie mit den Athletinnen gemacht?

    Eine physiotherapeutisch-osteopathische Untersuchung, davor eine funktionelle Analyse mittels des Functional Movement Screening.

    ? Was ist das?

    Das kommt aus den USA. Man schaut sich bei Sportlern verschiedene Bewegungen an, unter anderem tiefe Kniebeuge und aktiven Straight Leg Raise, um so muskuläre Schwächen, Dysbalancen und Instabilitäten aufzudecken. Es werden die Rumpfstabilität, das Gleichgewicht sowie die Balance zwischen Stabilität und Mobilität getestet. Zusammen mit dem Befund und den Infos über den Background der Sportler bekamen wir dann ein sehr gutes Bild.

    ? Welche Defizite hatten die Sportlerinnen?

    Alle hatten LWS-Beschwerden. Sie konnten tiefe Kniebeugen mit 180 kg machen, waren aber im Rücken total instabil und hatten dort auch immer Beschwerden, mit denen sie aber trotzdem weitertrainiert haben. Bei allen war die segmentale Stabilität der LWS ein riesiges Problem. Dazu kam bei allen eine eingeschränkte Hüftgelenkbeweglichkeit, eine Überlastung der Patellarsehnen sowie der Sehnen im Fußbereich.

    ? Was waren die Gründe für die Überlastungen?

    Das einseitige Training und das hohe Pensum mit hohen Gewichten – beispielsweise beim Gewichtheben, das die Stoßerund Werferinnen im Training durchführen. Außerdem fehlt in China der Transfer zwischen den Sportarten. Die Gewichtheber üben beispielsweise mit guten Schuhen und einer super Technik. Aber die Leichtathletiktrainier gehen nicht zu ihnen und schauen es sich an. Ihre Sportler haben katastrophale Techniken bei der Kniebeuge und für eine solche Trainingsform absolut ungeeignete Turnschuhe.

    ? Und wie sah die Therapie konkret aus?

    Es war vor allem ein Präventivprogramm: Segmentale Stabilisation, Faszientherapie – teilweise mit sogenannten Black Rolls, damit die Sportlerinnen das auch regelmäßig selbst machen können, Hold-Relax- Stretching und so weiter. Dazu haben wir individuelle Trainingspläne erarbeitet. Dieses Programm habe ich dann drei Monate später in China vor Ort überprüft und weiterentwickelt. Wir nahmen Bewegungskontrollübungen dazu, zum Beispiel beim Training von Kniebeugen, und ein paar neue Eigenmobilisationsübungen.

    ? Das war für die Athletinnen ja alles komplett neu. Nahmen sie das an?

    Ja – sie sind es ja nicht anders gewohnt. Andererseits haben sie aber auch schnell gemerkt, dass ihnen unsere Therapie gut tut, sie weniger Schmerzen haben, dadurch besser trainieren können und die Trainingsleistung konstanter und besser wird. Da war die Akzeptanz natürlich hoch. Für die Athleten ebenfalls angenehm war, dass wir einen halben Tag mehr Trainingspause eingeführt haben. Wir erlebten auch, dass Sportler sagten: "Jetzt macht mir meine Sportart endlich auch mal Spaß."

    ? Die Auswahl der Sportart ist in China keine freie Entscheidung?

    Zum Teil nicht. An den Sportschulen werden die Kinder im Alter von zehn Jahren von den Eltern abgegeben. Das sind herzzerreißende Szenen. Das Kind wird in die Trainingsstätten gegeben, weil alle darauf hoffen, dass es Erfolg hat und dadurch alle später besser leben können. Übrigens haben die Kinder dort immer zuerst Training und dann irgendwann abends Schule.

    ? Sie kommen also nicht mal grundsätzlich gebildeter zurück, als wenn sie in ihrem Dorf geblieben wären?

    Das ist sehr schwierig zu beantworten. Könnte aber stimmen, da der schulische Anteil geringer ist.

    ? Wie hat es eigentlich mit der Sprache geklappt? Physiotherapeutische Begriffe zu übersetzen stelle ich mir recht schwierig vor.

    Das war sehr gut gelöst. Es gab Dolmetscher, die an der Uni Peking Sport studiert und Deutsch beziehungsweise Englisch als Fremdsprache haben. Ohne Dolmetscher kann man sich in China praktisch nicht bewegen. Niemand spricht Englisch, und es gibt auch keine englischen Schriftzeichen. Ich habe einmal das Schild der UBahn- Station mit dem Handy fotografiert, damit ich wusste, wo ich später wieder aussteigen muss.

    ? Gehen wir mal weiter zu den Olympischen Spielen. Wie sahen Ihre Tage dort aus?

    Es waren ja meine ersten, und es war hochinteressant, aber anders als vorm Fernsehen. Wir sind erst zwei Tage nach der Eröffnungsfeier angereist, weil im Dorf die Entspannung und die Trainingsmöglichkeiten nicht so optimal sind. Dann bekommt man gar nicht viel mit, sondern ist zunächst viel damit beschäftigt sich zu orientieren: über die Transportwege, wo alle wichtigen Orte sind und natürlich über den Ablauf der Qualifikation und des Wettkampfes. Als Physiotherapeut musste ich darauf achten, dass die Athleten während der Tage vor dem Wettkampf keine akuten Probleme entwickeln.

    ? Wie haben Ihre Sportlerinnen abgeschnitten?

    Die Diskuswerferin Li Yanfeng, die 2011 Weltmeisterin geworden war, gewann Bronze. Dann gab es noch eine Bronzemedaille im Kugelstoßen und einen vierten Platz beim Hammerwerfen.

    ? Das sind ja sehr gute Ergebnisse. Waren Ihre Schützlinge zufrieden? Ich habe gelesen, dass sich ein chinesischer Sportler fast schon entschuldigt hat, weil er Zweiter wurde.

    In China ist das "Der Zweite ist der erste Verlierer" sehr stark ausgeprägt. Alles fokussiert sich auf den maximalen Erfolg, es zählt nur Gold. Ein zweiter, dritter Platz wird schon deutlich weniger angesehen. Eine persönliche Bestleistung bei Olympia, bei der der Athlet das Maximum aus sich herausgeholt hat, zählt nichts. Das ist noch stärker ausgeprägt als bei uns in Deutschland. Dass man im Wurfbereich jetzt in die Medaillenränge gekommen ist und sich innerhalb von zwei Jahren so verbessert hat, wird aber wahrgenommen.

    ? Wie kann man sich das mit der Betreuung vor Ort vorstellen? Hat man als Therapeut bei Olympia alles, was man braucht?

    Das deutsche Team beispielsweise hat zu Olympia eine große Physiotherapieausstattung mitgebracht. Die Chinesen dagegen hatten für die gesamte Leichtathletikmannschaft nur vier Bänke, die man in der Unterkunft auch noch suchen musste. In der Warming-up-Arena hat jede größere Nation ein eigenes Physiozelt – außer den Chinesen. Die ganze Betreuung war also sehr einfach. Ich hatte ja sieben Athletinnen zu betreuen. Für die anderen 50, 60 Sportler, die gemeldet waren, gab es lediglich zwei chinesische Ärzte, die Massage machten und Salben, Kräuterumschläge und Akupunktur abgaben. Der Einzige, der 1:1 von einem amerikanischen Therapeuten betreut wurde, war der Hürdenläufer Liu Xiang ...

    ? … und genau der ist dann auch noch rausgeflogen, der Arme ...

    Leider.

    ? Wie geht es mit Ihnen und den Chinesen jetzt weiter? Immerhin hatten sie ja gute Erfolge.

    Ja, es wurden Medaillen gewonnen, was bei den letzten Spielen nicht der Fall war. Es gibt positive Signale, um die Zusammenarbeit mit dem Medical Park und mir fortzusetzen.

    Das Gespräch führte Joachim Schwarz.

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    (©Stamer K)

    Dieser Beitrag ist erstmals erschienen in der physiopraxis 2012; 10: 46–48.


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    London 2012: Knut Stamer (li.) mit Li Yanfeng, der Bronzemedaillengewinnerin im Diskuswerfen, und ihrem Trainer Zhang.
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    (©Stamer K)