Frau Jakobsen, für welche Patienten kommt F.O.T.T.® in Frage?
Fälschlicherweise wird oft angenommen, dass F.O.T.T. nur in der Frührehabilitation
angewendet wird, also bei Menschen, die sich nach einer Hirnschädigung im Koma oder
im vegetativen Stadium befinden. Das Anwendungsspektrum ist jedoch breiter, wenn man
die Besonderheiten und Schwerpunkte der jeweiligen Patienten beachtet. F.O.T.T. eignet
sich für Erwachsene und Kinder jeden Alters mit angeborenen oder erworbenen Hirnschädigungen.
Menschen mit Erkrankungen oder Schädigungen des Zentralnervensystems leiden an verändertem,
abnormalem Tonus und gestörter sensibler Rückmeldung im gesamten Körper. Dies wirkt
sich nicht nur auf das Schlucken des Speichels und die Nahrungsaufnahme aus, sondern
auch auf viele andere Aktivitäten und Funktionen, die im fazio-oralen Trakt angesiedelt
sind. Beispiele hierfür sind „Klassiker" wie die Mundpflege, die Atmung, die Stimme
und das Sprechen sowie der Gesichtsausdruck, aber auch Funktionen oder Aktivitäten
wie Küssen, Pfeifen, Rasieren oder Naseputzen können beeinträchtigt sein. Bei Menschen
mit erworbener Hirnschädigung geht es oft um das Wiedererlernen funktioneller, möglichst
normaler Bewegungen. Menschen mit einer Zerebralparese, die sich nie normal bewegt,
nie normal gespürt, geschluckt, geatmet und gesprochen haben, verhilft man in der
Therapie zu hilfreichen Spür- und Bewegungserfahrungen. Ferner gilt es, Deformitäten
von Wirbelsäule und Thorax zu vermeiden, welche die Atmung, das Schlucken und damit
den Schutz der Atemwege und das Sprechen schwer beeinträchtigen können.
Menschen mit degenerativen Erkrankungen des zentralen Nervensystems können auch nach
F.O.T.T. behandelt werden. Mit dem Ziel bestmöglicher Lebensqualität bei bestmöglichem
Schutz der Atemwege gilt es hier, die fazio-oralen Funktionen so lange wie möglich
zu erhalten. Außerdem leitet man betreuende Personen an, wie sie den Betroffenen am
besten beim Schlucken, beim Essen, bei der Mundpflege und beim Schutz der Atemwege
unterstützen können. Angehörige kann man individuell und integriert anleiten. Selbsterfahrungen
und Bilder, zum Beispiel von Lagerungen beim Essen oder spezifischen Griffen, haben
sich hier als sehr hilfreich erwiesen.
Braucht ein Patient bestimmte Voraussetzungen für F.O.T.T.?
Um mit F.O.T.T. behandelt werden zu können, benötigen die Patienten keine kognitiven
Voraussetzungen. Das ist in meinen Augen ein Riesenvorteil für die Arbeit mit Menschen,
die mit schwankender Wachheit kämpfen, Störungen im Sprachverständnis haben oder sich
noch nicht aktiv bewegen können. Die Anforderungen und die therapeutischen Interventionen
passt man immer individuell an.
Die Patienten müssen keine kognitiven Voraussetzungen erfüllen, um nach F.O.T.T. behandelt
zu werden.
In der F.O.T.T. arbeiten Therapeuten auch im Mund. Gibt es Patienten oder Therapeuten,
die davor zurückschrecken? Wie ergeht es Ihnen?
Es gibt immer Gründe, wenn jemand Probleme damit hat, im Gesicht und Mund behandelt
zu werden. Diese müssen wir herausfinden, um weiterzukommen: Hat sich die Therapeutin
dem Intimbereich Gesicht und Mund zu schnell oder zu unstrukturiert genähert? Wurde
eine Technik falsch oder unpassend angewandt? Die Mobilisation der Zunge kann beispielsweise
sehr unangenehm sein, wenn man zu sehr an ihr zieht oder zu fest zupackt. Hat der
Patient unangenehme Erfahrungen gemacht, weil sein Mund mit Gewalt geöffnet wurde?
Hat er Schmerzen, wenn er den Mund öffnet? Oder erlebt er Berührung als unangenehm
oder schmerzhaft? Wurde der Betroffene ausreichend verbal, taktil und visuell einbezogen,
damit er erkennen, verstehen und reagieren kann?
Dass Therapeuten oder Pflegende Hemmungen haben können, Gesicht und Mund von Patienten
zu berühren, erlebe ich manchmal beim Unterrichten. Ich versuche dann, den Fokus auf
die Behandlung, auf das Tun zu richten. Die Kursteilnehmer bekommen Gelegenheit, zunächst
praktisch miteinander zu arbeiten, um Sicherheit zu gewinnen - im Interesse des zu
Behandelnden und in ihrem eigenen Interesse. Ich selbst habe keine Schwierigkeiten
mit der Arbeit im Mund, weil ich weiß, dass die Probleme der Betroffenen sich verschlimmern,
wenn wir nicht daran arbeiten.
In der F.O.T.T. geht es um fazio-orale Funktionen wie Atmen oder Schlucken. Inhalte,
die man häufig der Logopädie zuschreibt. Warum eignet sich das Konzept dennoch für
die Ergotherapie?
Eine Berufsgruppe kann unmöglich allein die komplexen Probleme eines Patienten 24
Stunden am Tag behandeln. Menschen schlucken und atmen auch in Anwesenheit von Ärzten,
Pflegepersonal, Physio-und Ergotherapeuten sowie Angehörigen bzw. haben auch hier
ihre Probleme damit. Warum sollten wir nicht alle unsere spezifischen Kernkompetenzen
nutzen, auf allen Ebenen der ICF, in immer neuem Kontext, 24 Stunden am Tag? Im Mittelpunkt
steht der Patient mit seinen Problemen, Bedürfnissen und Zielen. Alle Mitglieder des
interdisziplinären Teams können und müssen dazu beitragen, Probleme zu analysieren,
Bedürfnisse so weit als möglich zu befriedigen und Ziele zu erreichen - ob kurz-,
mittel- oder langfristig.
Ergotherapeuten beispielsweise behandeln Menschen, die aus verschiedenen Gründen ihren
täglichen Aktivitäten nicht mehr nachgehen können und deren Teilhabe am Leben eingeschränkt
ist. Unseren fazio-oralen Trakt benutzen und koordinieren wir bei vielen Aktivitäten
des täglichen Lebens: beim Picknick, im Restaurant, beim Zähneputzen oder beim Kaffeeklatsch.
Der ergotherapeutische Einsatz kann auf drei Ebenen geschehen, sprich die Fähigkeiten
des Betroffenen weiterentwickeln, die Aktivität ermöglichen und/oder die Umwelt an
den Patienten anpassen.
Die Therapie des Facio-Oralen Trakts
F.O.T.T. steht für Facial Oral Tract Therapy. Es ist ein Konzept oder ein Rahmen für
Leitgedanken und theoretische Grundlagen, zur Untersuchung und Behandlung von Menschen
mit Problemen im fazio-oralen Trakt (facies, lat.: Gesicht; os, lat.: Mund) und den
daran anschließenden „Trakt": Rachen, Kehlkopf, Luftröhre, Verdauungssystem. Kay Coombes,
eine Sprachtherapeutin aus Großbritannien, hat in den 1970er Jahren die F.O.T.T. entwickelt,
die ihre Ursprünge im Bobathkonzept hat. Im Laufe der Jahre entwickelte sie mit Kollegen
die F.O.T.T. mit Erfahrungen und Erkenntnissen aus der klinischen Arbeit, aber auch
aus Forschungsbefunden weiter. F.O.T.T. existiert also seit über 40 Jahren und wird
besonders in Deutschland, der Schweiz, Österreich, England und Skandinavien genutzt.
Für einen interprofessionellen Ansatz spricht, dass sich F.O.T.T.-Fortbildungen an
verschiedene Berufsgruppen richten. Unterscheidet sich die Therapie später in der
Anwendung? Bekommt sie beispielsweise in der Ergotherapie einen „ergotherapeutischen
Touch"?
Es ist gut und richtig, dass jede Berufsgruppe das F.O.T.T.-Konzept mit dem eigenen
fachspezifischen Hintergrund interpretiert, anwendet und in die Behandlung integriert.
So sichern wir für die Patienten regelmäßigen Input, Wiederholung in unterschiedlichem
Kontext und schaffen unterschiedliche Blickwinkel auf ihre Probleme.
Wie wichtig ist es, dass alle Mitglieder eines interprofessionellen Teams nach F.O.T.T.-Prinzipien
arbeiten?
Sehr wichtig, was allerdings nicht heißt, dass man nichts erreichen kann, wenn man
wie im ambulanten Bereich nicht die Rahmenbedingungen für Multi- oder Interprofessionalität
hat. Entscheidend ist, dass man seine Grenzen und Kompetenzen kennt und andere Berufsgruppen
einbezieht, wenn es notwendig ist. Patienten lernen durch Wiederholung in immer wieder
verändertem Kontext. Menschen mit zentral bedingten perzeptiven und kognitiven Störungen
lernen langsamer, brauchen mehr Wiederholungen und müssen da „abgeholt" werden, wo
sie stehen. Das stellt hohe Anforderungen an die Kompetenz jedes einzelnen Teamitglieds:
Wie kann ich dazu beitragen, dass ein Mensch mit Problemen im fazio-oralen Trakt lernt,
sich effektiver zu bewegen, Alltagsaktivitäten sicher zu bewältigen und ein möglichst
normales Leben zu führen?
Wenn verschiedene Berufsgruppen bei einem Patienten zusammenarbeiten, entstehen unzählige
Chancen für interprofessionelles Lernen. Wissen, Verständnis und Fähigkeiten kann
man so von einer Berufsgruppe zur anderen weitergeben. In meiner täglichen Arbeit
bedeutet mir diese Art des Voneinander-Lernens sehr viel, es erhöht die Qualität der
Zusammenarbeit und der Behandlung und inspiriert ungemein.
F.O.T.T. bezieht sich auf die Struktur- und Funktionsebene. Wie kann man in der Therapie
auch die Aktivitäts- und Partizipationsebene integrieren?
Dieser Aussage kann ich so nicht zustimmen. F.O.T.T. sucht nach Lösungen für Probleme,
die der Patient auf Aktivitäts- oder Partizipationsebene hat. Das kann auch bedeuten,
dass wir in Aktivitäten oder im Umfeld des Patienten (zum Beispiel im Hausbesuch)
die Probleme in der Situation analysieren, in der sie auftreten oder auch behandeln.
Es genügt nicht, Techniken auf Struktur- und Funktionsebene anzuwenden, also beispielsweise
Mundstimulation durchzuführen, die Zunge zu mobilisieren oder die Überaktivität im
Gesicht zu regulieren. Die (wie-der-)geschaffene Beweglichkeit, Symmetrie oder Sensibilität
muss auf dem Leistungsniveau des Patienten aktiv benutzt werden, damit Lernen stattfinden
kann. Das ist das Anspruchsvolle und Herausfordernde an F.O.T.T.. Entscheidend ist
auch, dass der Betroffene erlebt, dass wir an seinem Problem, also klientenzentriert,
arbeiten, und zwar in Situationen und Aktivitäten, die für ihn sinnvoll sind. Das
wiederum wirkt sich oft positiv auf die Zusammenarbeit zwischen Therapeutin und Patient
aus.
Selbst Menschen im Koma, im vegetativen Status oder im MCS („minimally conscious state")
bezieht man bei Aktivitäten wie Gesicht waschen oder Zähne putzen mit allen Sinnen
ein, um ihnen Input und die Chance zum Wiedererkennen zu geben. Wir nehmen an, dass
sie sich dann eher aktivitätsbezogen bewegen können, weil sie wissen, was passieren
soll bzw. was von ihnen erwartet wird.
Wie muss man sich die Therapieziele in der F.O.T.T.-Behandlung vorstellen?
Die Ziele sollten mit dem Betroffenen oder seinen Angehörigen gesetzt werden und funktionell,
messbar und erreichbar sein. Eine Hilfe kann hier die SMART-Regel sein. Ein Beispiel:
Der Betroffene möchte gerne wieder normal essen können, wird aber im Moment ausschließlich
über eine PEG-Sonde ernährt. Ein realistisches, messbares Ziel könnte hier sein, innerhalb
einer Woche im Sitzen eine Portion (150 Gramm) Apfelmus mit Unterstützung durch die
Therapeutin sicher essen zu können. (Mit „Sicherheit" ist hier der Schutz der Atemwege
gemeint).
Was zeichnet die Behandlung nach F.O.T.T. Ihrer Meinung nach aus?
Man kann immer etwas ausrichten! Das spricht meiner Meinung nach für das Konzept und
die theoretischen Annahmen, die dahinterstehen. Egal, ob bei Menschen mit schwerwiegenden
oder leichteren Problemen im fazio-oralen Trakt: Man kann immer etwas in Richtung
einer normaleren Funktion verändern. Das gelingt übrigens auch schon Teilnehmern auf
einem fünftägigen F.O.T.T.-Grundkurs. F.O.T.T. ist jedoch kein „Programm", in dem
Techniken und Übungen ohne sinnvolle funktionelle Ziele aneinandergereiht werden.
Die Therapeutin bewegt sich konstant in einem Kreislauf von Untersuchung, Analyse,
Behandlungsplanung, Behandlung und erneuter Analyse. Beim Clinical Reasoning evaluiert
man die Reaktionen des Betroffenen auf die Behandlung. Tut man das nicht, unter- oder
überfordert man den Betroffenen, und im schlimmsten Fall schadet man ihm.
Was können Sie Kollegen mit auf den Weg geben?
Gesicht und Mund müssen als sensibler, sensitiver und privater Bereich akzeptiert
und behandelt werden. Zu forsches oder gar Schmerzen auslösendes Vorgehen schadet
mehr, als es nützt. F.O.T.T. bietet den Rahmen für ein behutsames und zielgerichtetes
Arbeiten in diesem sensiblen Bereich.
Da Haltung und Bewegung einen großen Einfluss auf die fazio-oralen Funktionen haben,
sollte man das Bewegen und Positionieren des Patienten nicht aus Zeitgründen überspringen
- sie sind Bestandteil der F.O.T.T.
Wie sieht es mit der Evidenzbasierung aus? Ist F.O.T.T. eine wirksame Methode?
Für eine tiefergehende Beschreibung des Konzeptes verweise ich auf die Konsensusempfehlungen
und den F.O.T.T.-Algorithmus. Es gibt Studien, die einzelne Aspekte beleuchten, zum
Beispiel Interventionen zur Entwöhnung von der Trachealkanüle, Fazilitation des Schluckens,
Mundstimulation und Mundhygiene. Wir müssen aber noch herausfinden, welche Maßnahmen
oder Bestandteile der F.O.T.T. wirksam, also effizient, sind. Welche Interventionen
in welcher Dosis und Intensität sind wann und bei wem wirkungsvoll?
Mit F.O.T.T. kann man immer etwas ausrichten und hinsichtlich einer normalen Funktion
verändern.
Welche Aspekte der F.O.T.T. sehen Sie eher kritisch?
Das Angebot an Kursen ist zu klein. Das hängt mit der großen Nachfrage und der noch
geringen Anzahl an ausgebildeten Instruktoren zusammen. Das Nächste ist kein Kritikpunkt,
nur eine Feststellung. F.O.T.T. stellt hohe Ansprüche an den Ausführenden: die Fähigkeit
zum Clinical Reasoning, die eigenen Hände als Werkzeug in der Behandlung benutzen
können, die Reaktionen des Betroffenen sehen und das eigene Tun darauf ausrichten
können. All das verlangt Empathie, Fokus und eine hohe fachliche Kompetenz. Wer F.O.T.T.
anwenden will, braucht die Fähigkeit, den Betroffenen zu bewegen, zu lagern und den
„ganzen" Menschen zu behandeln. Das wiederum erfordert Schulung, Weiterbildung und
viel praktisches Tun. Die Integration der Neurodynamik in der Neurorehabilitation
(INN) ist neben dem Bobath-Konzept und der geführten Interaktionstherapie nach Affolter
in die F.O.T.T. aus meiner Sicht eine enorme Bereicherung, die aber komplexes Können
erfordert.
Aufbaukurse beschäftigen sich beispielsweise mit dem Gesicht oder den Trachealkanülen.
Das geht schon sehr in die Tiefe. In welchen Einrichtungen kommen Ergotherapeuten
damit in Berührung?
Das kann im akuten Bereich, zum Beispiel auf der Intensivstation sein, wo sich häufig
die Frage stellt, ob der Betroffene essen kann oder doch noch eine Trachealkanüle
braucht, weil er sogar seinen Speichel massiv aspiriert. Ein Schluckscreening oder
ein Test genügen nicht, wenn es darum geht, die Probleme des Betroffenen nicht nur
zu klassifizieren, sondern ihm auch zu helfen. Vonnöten sind ein tieferes Wissen und
Können auch in Frührehabilitationseinrichtungen, wenn die Patienten komplexe Probleme
mit dem Schlucken und dem Schutz der Atemwege haben und deshalb eine Trachealkanüle
benötigen. Oder im ambulanten Bereich, wo sie oft noch an den Folgen von Fazialisparesen
peripherer oder zentraler Genese leiden.
Wie lange dauern Fortbildungen zu F.O.T.T.?
F.O.T.T. wird multiprofessionell für Pflegende, Ärzte, Sprachtherapeuten, Physio-
und Ergotherapeuten in Einführungsseminaren, fünftägigen Grund- und (je nach Thema)
drei- bis fünftägigen Aufbaukursen unterrichtet. Langwierig sind die Fortbildungen
also nicht. Allerdings setzt ein solch komplexer Ansatz voraus, dass man seine Erfahrungen
damit sammelt, das heißt die im Grundkurs erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten
ausbaut und verfeinert und die eigene Arbeit konstant reflektiert. Hat man die Möglichkeit
für fachlichen Austausch oder Supervision am Arbeitsplatz durch Kollegen, ist dies
sicher ein Vorteil.
Das Gespräch führte Simone Gritsch.