ergopraxis 2013; 6(01): 28-30
DOI: 10.1055/s-0032-1333451
ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York

Fallbericht Hemiplegie – Peelinghandschuh verbessert Therapieerfolg

Ursula Lange

Subject Editor:
Further Information

Publication History

Publication Date:
11 January 2013 (online)

 

Die Ergotherapeutin Ursula Lange ließ Klienten, die einen Schlaganfall erlitten hatten, an deren betroffener Hand einen handelsüblichen Peeling-und Massagehandschuh tragen. Das Ergebnis: Wahrnehmung und Beweglichkeit verbesserten sich unmittelbar - selbst bei denjenigen, deren Apoplex Jahre zurücklag.


#

Ursula Lange

Zoom Image

Ursula Lange, ist seit 27 Jahren Ergotherapeutin und seitdem in der Neurologie tätig. Seit 2009 arbeitet sie in einer neurologischen Fachklinik mit Stroke Unit und angegliederter ambulanter Reha in Bedburg-Hau. Ergotherapeuten, die mehr über ihre Erfahrungen mit dem Handschuh wissen oder dazu forschen möchten, dürfen gern an sie herantreten. Sie freut sich über fachlichen Austausch: ursula.lange61@gmx.de.

Seit mehreren Jahren behandle ich Klienten nach zerebralem Insult oder intrazerebraler Blutung in allen Phasen nach dem Ereignis. Schon in der Frühphase berichten Betroffene von einer veränderten Wahrnehmung der plegischen oder paretischen Hand. Sie vergleichen ihre Hand mit einer „Elefantenhand“, empfinden ihre Finger unförmig, dick und aufgedunsen, wie „eingeschlafen“ oder gar als totes Anhängsel.

Entwickelt sich im weiteren Krankheitsverlauf eine erhöhte Muskelspannung der Fingerflexoren mit zunehmender Steifigkeit, dann empfinden viele Klienten ihre Hand nur noch als Block, ohne die Finger differenziert zu spüren.

Ein Fall

Das Gefühl, die Hand nur noch als Klotz wahrzunehmen, beschrieb auch Klaus Janssen[*], den ich 2011 behandelte. Den Therapieverlauf dokumentierte ich mit Foto- und Filmkamera.

Herr Janssen erlitt bereits im Jahr 1994 eine Hirnblutung. Damals war er 54 Jahre alt. Bei ihm zeigte sich im klinischen Bild eine bestehende Wernicke-Mann-Symptomatik mit Vernachlässigung der betroffenen Seite sowie unzureichender Gewichtsverlagerung auf die betroffene Seite im Sitzen und im Stehen.

Weil sich seine Gehfähigkeit verschlechterte, wurde er im August 2011 auf der Stroke Unit der Föhrenbachklinik in Bedburg-Hau mit dem Verdacht auf einen erneuten Hirninfarkt aufgenommen. Klaus Janssen konnte nicht frei aufstehen und stehen, da er nur über eine unzureichende posturale Kontrolle verfügte. Seine linke Körperseite beachtete er kaum, seinen linken Arm setzte er nicht ein. Die erhöhte Muskelspannung der Fingerflexoren nahm er nicht wahr. Allerdings war er in der Lage, die Spannung kurzzeitig zu lösen, wenn ich ihn auf seine gebeugte Fingerhaltung aufmerksam machte.

Versuchte er, von der Rückenlage in den Sitz oder in den Stand zu kommen und sich zu stabilisieren, baute sich sofort Muskelspannung der Beugemuskulatur im linken Arm und in der linken Hand auf. Er konnte seinen Arm nur im Flexorenmuster mit flektierten Fingern über die Abduktion anheben. Beim Greifen hatte er Schwierigkeiten, seine Kraft zu dosieren. Beim Öffnen der Hand fiel es ihm schwer, die Finger zu strecken. Er benötigte bei der Körperpflege, dem An- und Ausziehen sowie beim Aufstehen aus dem Bett teilweise die Hilfe seiner Ehefrau.


#

Klaus Janssen nahm seine Ressourcen nicht mehr wahr

Letztendlich ergaben die Untersuchungen keinen Hinweis auf einen erneuten Infarkt. Nach dem zweiwöchigen stationären Aufenthalt kam Klaus Janssen in die angegliederte Ambulante Neurologische Rehabilitation (ANR), um die Therapie fortzuführen.

Im September 2011 erreichte er im Fugl-Meyer-Arm-Score im Bereich „Motorik der oberen Extremitäten“ 15 von 66 möglichen Punkten. Im Bereich „Passives Bewegungsausmaß“ erreichte er 33 von 48 möglichen Punkten.

Als langfristiges Ziel gab er an, unabhängiger im Alltag werden zu wollen. Er wollte selbstständig aus dem Bett aufstehen, frei und sicher stehen, um den Toilettengang wieder unabhängig zu bewältigen, und wieder kurze Strecken mit seiner Gehhilfe gehen. An eine Verbesserung seiner Arm- und Handfunktionen dachte Herr Janssen aufgrund der langjährigen Symptomatik zunächst nicht. Aufgrund der unzureichenden Wahrnehmung der Hand hatte er keinen Zugang zu seinen noch vorhandenen Ressourcen. Beim Zeitunglesen und -zusammenfalten vernachlässigte er zunächst seine linke Seite, zeigte aber im Verlauf den spontanen Versuch, die linke Hand mit einzusetzen. Dementsprechend erstaunt war er, dass er beim Wolf-Motor-Function-Test einen Bleistift von einer weichen Unterlage anheben konnte. Um die Therapieziele zu erreichen, vereinbarten wir zunächst, die Lagewechsel aus der Rückenlage auf die linke Seite als auch in die Bauchlage sowie die posturale Kontrolle im Stand zu erarbeiten. Zusätzlich überlegte ich, die Wahrnehmung der Hand durch einen verstärkten Input zu fördern und sie über diesen Weg wieder ins Körperschema zu integrieren.


#

Von der Hypothese zum Handschuh

Um den sensorischen Input zu verbessern, gab ich Klaus Janssen einen handelsüblichen Peeling- und Massagehandschuh. Die Überlegung beruht auf Erkenntnissen aus der Sensorischen Integrationstherapie nach Jean Ayres. Demnach ist die Grundlage jeder Bewegung die Wahrnehmung der körpereigenen Struktur. Bei intakter Tiefensensibilität spürt man seine Körperhaltung, die Stellung der Gelenke und die Muskelspannung und kann daraufhin Bewegungen planen, ansteuern und Bewegungsveränderungen registrieren [3]. Auf die Idee mit dem Handschuh brachte mich eine Selbsterfahrungsübung im Rahmen meiner SI-Grundausbildung: Ich hatte die Gelegenheit, in einen Tanzsack zu schlüpfen und seine Wirkung kennenzulernen. Tanzsäcke bestehen aus einem elastischen Material, das den Körper komplett umhüllt. Hände und Füße werden bis in die Ecken geführt, über die Fingerkuppen wird ein Input auf Gelenkrezeptoren und Muskelspindeln ausgeübt, sodass ein stabiler Muskeltonus aufgebaut wird. Die Selbsterfahrung übertrug ich auf die verminderte Wahrnehmungsleistung meines Klienten. Ich fragte ihn, ob er in der Therapie einmal einen Massagehandschuh tragen wolle.

Zoom Image
Zoom Image
Abb. 1 und 2 Mit einem Massagehandschuh an der betroffenen Hand erzielten Klienten nach Schlaganfall im direkten Vergleich bessere Ergebnisse im Box-and-Block-Test als ohne den Handschuh.Fotos: U. Lange

#

Bessere Wahrnehmung, verminderter Tonus

Aufgrund der erhöhten Muskelspannung war es anfangs schwierig, ihm den Handschuh anzuziehen. Zu unserer Überraschung reduzierte sich dann aber sofort die erhöhte Spannung in den Fingerflexoren. Mit dem Handschuh nahm Klaus Janssen plötzlich die Form seiner Finger differenziert wahr. Er konnte seine Finger fließender strecken und beugen und seine Hand öffnen. In Ruhestellung gab er das Flexorenmuster der Finger nun häufiger zugunsten einer physiologischen Hand- und Fingerstellung auf.

In der Ambulanten Neurologischen Rehabilitation erhielt der Klient täglich eine Stunde Ergotherapie und eine Stunde Physiotherapie. Das Team setzte Behandlungsstrategien aus unterschiedlichen Therapiekonzepten ein wie der Bobath-Therapie und ein spezielles Core-Training, das die Rumpfaktivitäten verbesserte, außerdem Elemente des Arm-Basis-Trainings aus dem Impairment-Oriented Training nach Dr. Thomas Platz zur Verbesserung der proximalen Armaktivitäten. Angespornt durch die ersten positiven Erfahrungen trug Klaus Janssen den Massagehandschuh nach eigenem Ermessen über den ganzen Tag. Er gab an, dass er seine Hand differenzierter spüre und die Muskelspannung besser kontrollieren könne. Den Handschuh zog er nur in der Nacht aus. Er zog den Handschuh täglich an und übte implizit, zielorientiert und in einem sinnvollen Kontext die Fingerstreckung und -spreizung.


#

Fließende, zielgerichtete Bewegungen sind möglich

Neben der Wahrnehmung und Beweglichkeit der Hand konnte das therapeutische Team außerdem die biomechanischen Strukturen der Rumpf- und Schultergürtelmuskulatur verbessern. Die bessere posturale Kontrolle ermöglichte dem Klienten unter anderem einen sicheren freien Stand. Auch die spezifische Ansteuerung der Arm- und Handmuskulatur gelang ihm nun schneller und fließender. Zum ersten Mal führte er grobe Greifaktivitäten weiträumig und zielsicher aus: Zum Beispiel sammelte er weiche Knautschbälle auf der in Hüfthöhe eingestellten Bobath-Bank ein und legte sie in einem Korb auf dem Boden ab. Zu seiner Überraschung „wackelte der Arm nicht mehr“. Klaus Janssen hob bimanuell eine Holzkiste an und stellte sie in gleicher Höhe zu seiner rechten Seite ab. Außerdem konnte er bimanuell einen mit sechs Flaschen gefüllten Wasserkasten auf einem Tisch verschieben. Nahezu alle Aktivitäten führte er mit dem Handschuh durch. Nur wenn er glatte Gegenstände sicher greifen wollte, zog er den Handschuh aus. Allerdings hatte er dann mehr Schwierigkeiten, die Finger zu strecken. Die Zielmotorik wurde unsicherer und dysmetrischer.


#

Die linke Hand macht wieder mit

Im November 2011 wiederholte Klaus Janssen den Fugl-Meyer-Arm-Score. Diesmal erhielt er 33 von 66 möglichen Punkten im Bereich „Motorik der oberen Extremität“ sowie 45 von 48 möglichen Punkten beim „Passiven Bewegungsausmaß“ - was eine deutliche funktionelle Verbesserung bedeutete. Im Anschluss an die ANR betreute ich den Klienten einmal wöchentlich ergotherapeutisch im Rahmen von Hausbesuchen. Den Handschuh trug er nach eigenen Angaben täglich und führte regelmäßig zwei bis drei variierende Eigenübungen durch, um seine Arm- und Handfunktionen zu verbessern.

Inzwischen konnte er den Handschuh selbstständig und problemlos anziehen. Die Fingerstreckung gelang ihm so gut, dass er außerdem die Hände zügig und fließend falten konnte. Durch die verbesserten biomechanischen Strukturen im Schultergürtel wurden mit Unterstützung Armaktivitäten über 90° Schulterflexion möglich. Somit legten wir den Schwerpunkt der Therapie auf alltagsorientierte Arm- und Handaktivitäten. Jetzt setzte ich vorwiegend Strategien aus der N.A.P.-Therapie ein. N.A.P. steht für Neuromuskuläre Arthroossäre Plastizität [1]. In diesem Konzept setzt die Therapeutin während einer Aktivität propriozeptive Reize. Ich unterstützte Herrn Janssen zum Beispiel beim Haarebürsten oder beim Trinken aus einem Becher, bis er diese Tätigkeiten letztendlich selbstständig durchführte!

Für meinen Klienten war die Therapie ein voller Erfolg: Nach siebzehnjährigem Nichtgebrauch der linken Hand setzte er innerhalb eines Jahres seinen paretischen Arm im Alltag ein und zog sich letztendlich sein Shirt mit beiden Händen ohne Hilfe an. Auch seine Ehefrau berichtete, dass ihr Mann seine linke Hand wieder mit einsetzte, etwa beim Aufsetzen der Brille oder des Sonnenhuts.


#

Rückmeldungen anderer Klienten

Für diesen Erfolg gab der Massagehandschuh wichtige erste Impulse: Der Klient verspürte kontinuierlich einen moderaten Druck auf die Fingerkuppen, was den Input auf das taktil-protopathische und propriozeptive System verstärkte. Dies scheint stabilisierend auf die strukturellen Verhältnisse der Hand und indirekt auch auf den Arm zu wirken und damit die Zielmotorik günstig zu beeinflussen. Dieses erstaunliche Fallbeispiel bestärkte mich darin, den Handschuh weiteren Klienten anzubieten. Einige von ihnen befragte ich gezielt, ob sie damit eine Veränderung bemerken würden. Andere bat ich lediglich, einmal den Handschuh auszuprobieren - ohne sie auf mögliche Wahrnehmungsänderungen aufmerksam zu machen. Die Rückmeldungen waren durchweg positiv:

Zum Beispiel erlitt der 77-jährige Hartmut Schmidt[*] im Jahr 2000 einen linksseitigen Hirninfarkt mit armbetonter rechtsseitiger Hemiparese und massivem Hypertonus mit eingeschränktem Bewegungsausmaß. Nachdem er den Handschuh das erste Mal anzog, löste sich spontan die Muskelspannung seiner Fingerflexoren. Die Hand ließ sich passiv leicht öffnen und blieb regelmäßig in einer lockeren Funktionsstellung.

Die 72-jährige Ursel Peters[*] hatte im September 2012 einen linksseitigen Hirninfarkt mit sich zurückbildender rechtsseitiger Armparese mit Restsymptomatik. Beim Tragen des Handschuhs beschrieb sie ein deutlich besseres Gefühl für die Hand. „Das ,Eingeschlafen-Sein' ist nicht mehr vorhanden“, erzählte sie. Mit dem Handschuh hatte sie eine deutlich höhere Fingerbeweglichkeit, und sie konnte die Finger besser strecken als ohne Handschuh.

Die 59-jährige Ariane Eis[*] erlitt im November 2012 einen Hirninfarkt rechts mit armbetonter Hemiparese links und Kleinhirnsymptomatik. Die Symptomatik war rückläufig, aber mit restituierendem Verlust der Koordination und einem diffusen Gefühl für die linke Hand. Ihre Hand empfand sie „wie in Watte gepackt“. Nachdem sie den Handschuh erstmals anzog, meinte sie: „Unglaublich, Sie haben mir meine Hand wiedergegeben.“ Um einen direkten Vergleich der Hand- und Armaktivitäten ohne und mit Handschuh zu erhalten, führte ich bei ihr den Box-and-Block-Test durch. Dabei transportierte Frau Eis mit der rechten Hand 64 Blöcke und erzielte einen unteren Normwert, mit der betroffenen linken Hand transportierte sie 52 Blöcke und lag weit unter der Norm. Mit dem Handschuh an der linken Hand transportierte sie anschließend 66 Blöcke und erreichte einen unteren Normwert.


#

Die Ergebnisse genauer untersuchen

Diese Beobachtungen und Befragungen deuten darauf hin, dass ein handelsüblicher Peeling- und Massagehandschuh Wahrnehmung und Beweglichkeit bei Menschen mit Schlaganfall verbessern kann. Wünschenswert wäre, die Beobachtungen näher zu untersuchen, um die Wirkungsweise zu differenzieren: Inwieweit ist der Therapieerfolg auf den Massagehandschuh zurückzuführen, beziehungsweise wie lange hält die Wirkung an? Oder lässt sich die Wirkungsweise des Handschuhs auch auf kortikaler Ebene darstellen, und verändert sich die Repräsentanz der Hand auf kortikaler Ebene parallel zu den Wahrnehmungsveränderungen der Klienten?


#
#

Note

* Namen von der Redaktion geändert




Zoom Image
Zoom Image
Zoom Image
Abb. 1 und 2 Mit einem Massagehandschuh an der betroffenen Hand erzielten Klienten nach Schlaganfall im direkten Vergleich bessere Ergebnisse im Box-and-Block-Test als ohne den Handschuh.Fotos: U. Lange