Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm (Erstauflage 1812)
sind nach der Lutherbibel das wohl am weitesten verbreitete literarische Werk deutscher
Sprache. Als Gründungsväter der Germanistik und darüber hinaus der indoeuropäischen
Sprachforschung allgemein anerkannt, ist der politische Einsatz der Brüder Grimm für
eine freiheitliche Verfassung auf deutschem Boden weniger bekannt: Als Mitglied der
„Göttinger 7“ verloren sie wegen ihres Protestes gegen die Aufhebung der Hannoveraner
Verfassung zeitweilig ihre Professorenämter – dem des Landes verwiesenen Jacob Grimm
wurde das Gehalt aus Spenden der sich solidarisierenden Bevölkerung weiterbezahlt.
Auffällig ist, dass ihre Märchen nach der fast schon obligatorischen Hochzeit des
Königssohns oder der Königstocher mit dem lapidaren Halbsatz enden: „Und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende“. Da es sich bei dem Zeitraum von der Hochzeit bis zum Tod zumeist um den größeren
Lebensabschnitt handelt, kann zu Recht nachgefragt werden, ob hier nicht etwas fehlt.
Vielleicht nicht für Kinderohren, aber wohl doch für die erwachsenen aufmerksamen
Zuhörerinnen und Zuhörer.
Lässt sich gelungenes bzw. glückliches Leben, nicht nur für Angehörige der Oberschicht
(„Königstöchter und -söhne“), sondern auch der bürgerlichen Mittelschicht oder der
unteren sozialen Schicht näher beschreiben? Eine mögliche Herangehensweise an diese
Fragestellung geht auf Abraham Maslow zurück (1908–1970). Dem Gründervater der humanistischen
Psychologie war zwar selbst kein langes Leben beschieden, jedoch haben seine Gedanken
zur Motivation und Persönlichkeitsentwicklung weite Verbreitung gefunden [1]. Die sogenannte „Maslowsche Bedürfnispyramide“ skizziert eine Abfolge von Lebensbedürfnissen,
welche in hierarchischer Ordnung die Grund- und Existenzbedürfnisse wie Essen und
Trinken, die Bedürfnisse nach Sicherheit und sozialer Eingebundenheit, die Individualbedürfnisse
wie Anerkennung und Wertschätzung und als fünfte Stufe die Selbstverwirklichung umfassen.
Oft übersehen wird, dass Maslow in seinem Todesjahr noch weitere Stufen ergänzt hat,
insbesondere als neue Spitze die Befähigung zur Transzendenz: der Suche nach einer
die Grenzen des individuellen Selbst übersteigenden Dimension [2]. Denkbar ist, dass die Königssöhne und Königstöchter aus den Märchen in ihren verschwiegenen
späteren Biografien diese Bedürfnishierarchie erfolgreich durchlaufen haben, auch
wenn nach einer Schätzung Maslows nur etwa 2% der Bevölkerung den Anspruch der Selbstverwirklichung
für sich zufriedenstellend lösen. Wahrscheinlich ist, dass die Mehrzahl der Menschen
zumindest zu Zeiten der Brüder Grimm überwiegend mit der Sicherung der Grund- und
Existenzbedürfnisse beschäftigt war.
Was sind die Erkenntnisse über Armut und Reichtum im Deutschland des 21. Jahrhunderts?
Für die Zwecke der offiziellen europäischen Statistiken wird zur Definition der Armutsgrenze
Bezug zum mittleren Nettoeinkommen genommen („Median des Netto-Äquivalenz-Einkommens“).
Beträgt dieses weniger als 70% des Durchschnitts, wird von einer Armutsgefährdung
in sozialen Risikosituationen gesprochen, bei weniger als 60% von einer Armutsgefährdung,
bei weniger als 50% von einer relativen Einkommensarmut und bei weniger als 40% von
Armut. Weltgesundheitsorganisation und OECD definieren dem gegenüber Armut bereits
ab einer Einkommensgrenze von 50%.
Nach den Erkenntnissen des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung, welcher
unter dem Titel „Lebenslagen in Deutschland“ seit 2001 in regelmäßigen Abständen erscheint,
wird von einer Armutsgefährdung bei etwa jedem achten Menschen in Deutschland berichtet.
Dabei lohnt sich noch einmal eine genauere Beschäftigung mit dem Begriff der Armut,
welcher bei einer Fokussierung auf das verfügbare Einkommen alleine zu kurz greift.
In einer Definition der europäischen Gemeinschaft von 1984 gelten „Personen, Familien und Gruppen als arm […], die über so geringe (materielle, kulturelle
und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die
in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“ [3]. Das ist der sog. „Lebenslagenansatz“ der Armutsforschung, wie er auch im Titel
des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung angesprochen wird. Prekäre Lebenslagen,
etwa geringe Schulbildung, Arbeitslosigkeit oder alleinerziehend zu sein, stehen dabei
naheliegender weise wiederum in engem Zusammenhang mit der einkommensbezogenen Armut.
Während das Risiko für Paare mit steigender Kinderzahl ansteigt, liegt die Armutsrisikoquote
für Alleinerziehende etwa doppelt so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung: fast jeder
Vierte bzw. jede Vierte ist davon betroffen. Und damit gilt dieses Armutsrisiko auch
für etwa jedes fünfte Kind unter 15 Jahren in Deutschland.
Und da es ja auch ein Reichtumsbericht ist: Wie steht es um die modernen Königskinder?
Der nach dem italienischen Statistiker Corrado Gini benannte Gini-Koeffizient als
Maß der Einkommensungleichheit ist in Deutschland über die Jahre relativ konstant, wobei das private Vermögen recht ungleich verteilt ist, dem gegenüber mit zunehmender Tendenz. Ein Zehntel der
in Deutschland lebenden Menschen gehört zu einer privilegierten Gruppe, welche über
die Hälfte des Privatvermögens ihr Eigen nennt. Das mit dem Durchschnitt ist eben
so eine Sache: „Am Durchschnitt ist die Kuh ersoffen“ sagt ein Bonmot und verweist
dabei auf die Geschichte einer Kuh, welche beim Durchqueren einer an sich flachen
Furt an einem tiefen Loch ums Leben kam. Solche „Löcher“ sind real und der Umgang
mit Armut kennzeichnet ebenso wie der Umgang mit Reichtum das kulturelle Niveau einer
Gesellschaft.
In Analogie zu den Gefahren einer Flussdurchquerung sind auch im Verlauf des Lebens
eine Reihe von Übergängen zwischen Lebensphasen zu bestehen. Der Armuts- und Reichtumsbericht
nennt hier nach der Geburt, unserer ersten Übergangsphase, die Inanspruchnahme frühkindlicher
Förderung, den Schuleintritt und den Schulformwechsel, eine erfolgreiche Berufsausbildung,
den Berufseinstieg und den eventuellen Wiedereinstieg nach Familiengründung, das Überstehen
von Arbeitslosigkeit und der Erwerb einer weiteren beruflichen Qualifikation, den
Eintritt in die Posterwerbsphase sowie den Eintritt von Behinderungen und Pflegebedürftigkeit.
Hier leistet die gesellschaftliche Solidargemeinschaft in Deutschland vergleichsweise
viel: Durch den Zugang zu Kindertagesbetreuungen, zu Schulen, Ausbildungsplätzen und
Hochschulen, durch die Abfederung von Lebensrisiken durch verpflichtende Sozialversicherungssysteme,
nicht zuletzt im Gesundheitsbereich und mit der Pflegeversicherung als fünfter Säule
der Sozialversicherung, nach Krankenversicherung, Unfallversicherung, Rentenversicherung
und Arbeitslosenversicherung.
Und wie steht es um den Zusammenhang von Armut bzw. Reichtum mit Gesundheit? Gute
Gesundheit genießt nur etwa jeder bzw. jede Dritte mit niedriger Schulbildung gegenüber
jedem bzw. jeder Zweiten mit mittlerer oder hoher Schulbildung. Auch wenn in der Wissenschaft
noch darüber diskutiert wird, wie groß der Einfluss von Einkommen und Bildung auf
den Gesundheitszustand sind, wie dieser Einfluss vermittelt wird und wie ein sozioökonomischer
Abstieg infolge von Krankheit und Behinderung zu bewerten ist (Deprivations-Hypothese,
Selektions-Hypothese), ist die Existenz derartiger Zusammenhänge unstrittig [4]. Dabei hat neben der persönlich gestaltbaren Situation auch die umgebende Lebenswelt,
physikalisch wie sozioökonomisch, einen großen Einfluss. Bei einer differenzierten
Betrachtung sind auch der relative Wohlstand der Wohnumgebung, auch die relative eigene
Position innerhalb des sozialen Umfeldes und auch die Aspekte der Umweltgerechtigkeit,
d. h. der Exposition gegenüber schädigenden oder fördernden Einflüssen der physikalisch-chemischen
Umwelt bedeutsam.
Der englische Epidemiologe und Sozialwissenschaftler Richard Wilkinson formulierte
die Hypothese, dass – ab einem bestimmten Entwicklungsstand – weniger der absolute
Grad an materiellem Reichtum oder materieller Armut ausschlaggebend für den Gesundheitszustand
einer Bevölkerung sind, sondern die Ungleichheit in der Verteilung dieser materiellen
Ressourcen [5]. Demnach wäre bei uns weniger das absolute Einkommen zu betrachten, sondern mehr
die soziale und materielle Gerechtigkeit, Sozialklima und Sozialverhalten. Ein armes
und gleichzeitig reiches Land ist nicht nur denkbar, sondern in vielen Gesellschaften
Realität. Illustrieren lässt sich das z. B. durch die Lebenserwartung in Großstädten,
die abhängig vom sozialen Umfeld bei jeder Haltestelle an gewissen U-Bahn-Linien spürbar
und messbar fallen kann. Körperliche und psychische Gesundheit, Suchtverhalten, Bildungserfolg,
Gefängnisstrafen, Übergewicht, sozialer Auf- und Abstieg, soziales Vertrauen, Gewalt,
Teenage-Schwangerschaften und das Wohlergehen von Kindern weisen alle schlechtere
Werte in Gesellschaften auf, in welchen der relative Reichtum sehr ungleich verteilt
ist [6]. Und diese Beobachtungen gelten für arm und reich: Gesellschaftliche Fairness und ein Verzicht auf allzu große materielle und
soziale Ungleichheiten sind für jedermann besser.
Solchen systemischen Zusammenhängen geht diese Ausgabe unserer Zeitschrift wieder
in ihren vielfältigen Facetten quer durch die Lebensalter nach: Mit einem umfassenden
und differenzierten Bericht zur Gesundheit von Jugendlichen in Deutschland, zur häuslichen
Umgebung von Familien mit Kleinkindern als Setting für Präventionsmaßnahmen gegenüber
Tabakrauch, zur Gesundheitsförderung bei älteren Menschen, zur Vergütung von Schwerverletzten
im deutschen DRG-System, zu (Daten-)Qualitätsunterschieden in der onkologischen Versorgung,
zum Zusammenhang von Preisen und Pflegequalität, zum Qualitätsmanagement und zur Infektionshygiene
in der ambulanten Pflege sowie mit einem kurzen Bericht zu den Ergebnissen des EU-Projekts
INTERLINKS zur Weiterentwicklung guter Langzeitpflege.
Deutschland: Armes reiches Land? In vieler Hinsicht wären die märchenerfahrenen Gebrüder
Grimm auch in ihren politischen Ambitionen wohl sehr zufrieden mit dem, was seit 1848
auf deutschem Boden, wenn auch oft erst durch krisenhafte Übergänge, entstanden ist.
Dabei tut ein kritischer Blick Not: Als Akt der Wachsamkeit gegenüber dem schon Erreichten,
als ethisches Gebot und auch als Akt der Klugheit angesichts einer doch erheblichen
Schere zwischen arm und reich, die weder den Armen noch den Reichen gut tut und in
vielen Ausprägungen, damals wie heute, unverständlich ist. Auch wenn der Satz gilt:
„Man ist reich, wenn es reicht“, bleibt bei zu großen Vermögens- und Einkommensunterschieden eine gesellschaftliche
Wunde zu diagnostizieren. Diese behindert Gemeinschaften in ihrer Entwicklung. Vielleicht
ist angesichts des absolut gesehen großen Wohlstands in Europa die Zeit für einen
Wertewandel am Kommen, für eine Hinwendung zu sogenannten postmateriellen Werten. Zeit für die neuen Stockwerke in der Maslowschen Bedürfnispyramide: Im Bereich des
Sozialen wie bei der Selbstverwirklichung und den damit verbundenen Bedürfnissen nach
Partizipation und Zugehörigkeit, nach Kreativität, Ästhetik, Kontemplation und Transzendenz
[7]. Vielleicht unsere Chance, um „vergnügt bis an das Ende zu leben“.