physioscience 2013; 9(2): 45-46
DOI: 10.1055/s-0033-1335490
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Prioritäten der physiotherapeutischen Forschung

K.-F. Heise
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Publication Date:
21 May 2013 (online)

Die derzeitige Realität der Forschung in der Physiotherapie in Deutschland ist von den Autoren des Konzeptpapiers für die Empfehlungen des Gesundheitsforschungsrates für die Forschung in den Gesundheitsfachberufen umfassend dargelegt [1]. Der Entwicklungsprozess und die Bedeutung dieses Meilensteins – insbesondere auch in der Gewichtung der Empfehlungen für die Ausschreibung von Fördergeldern des Bundesministeriums für Bildung und Forschung – wurde im letzten Jahr an dieser Stelle von Professor Heidi Höppner, Mitglied der Expertengruppe zur Erstellung des Konzeptpapiers, eindrücklich diskutiert [2]. Die Empfehlungen des Gesundheitsforschungsrates umfassen neben der grundsätzlichen Betonung der Wichtigkeit von Auf- und Ausbau der Forschung der Gesundheitsfachberufe für die Verbesserung der Evidenzbasierung der Praxis und insbesondere im Angleichen an internationale Standards im Wesentlichen Forderungen nach strukturellen Voraussetzungen in der Qualifizierung von wissenschaftlichem Potenzial und Etablierung von wissenschaftlicher Infrastruktur im akademischen und außerakademischen Bereich. Inhaltlich werden in den Empfehlungen für die Physiotherapieforschung die Themenkomplexe altersbedingte Veränderungen, chronische Erkrankungen sowie Prävention und Gesundheitsförderung priorisiert [1]. Obwohl zunächst als grundlegend zu verstehen, gehen die Empfehlungen über eine ausschließlich inhaltlich fachbereichsbezogene Vorgabe hinaus und betonen ausdrücklich, dass interdisziplinäre Forschungsanstrengungen wünschenswert sind – in Zusammenarbeit mit anderen medizinbezogenen und nicht medizinischen (Nachbar-)Disziplinen mit dem gemeinsamen Ziel, klinisch relevante und bedarfsgerechte Forschung in diesem Feld zu etablieren.

Das Thema der Prioritätensetzung und damit die Weiterentwicklung und Fokussierung der physiotherapeutischen Forschung mit dem Ziel, die evidenzbasierte Praxis zu unterfüttern, ist auch außerhalb Deutschlands in der aktuellen Diskussion und von hoher Relevanz. So identifizierte die britische Chartered Society of Physiotherapy, basierend auf einer modifizierten Delphi-Studie inhaltliche Forschungsprioritäten auf nationaler Ebene [3]. Diese umfassen mehr als 120 detaillierte Fragestellungen in den 4 zentralen Themengebieten muskuloskeletal, neurologisch, kardiorespiratorisch/medizinisch-rehabilitative Interventionen sowie mentales und physisches Wohlbefinden.

In den USA wurde gerade Ende März dieses Jahres die Priorisierung der Forschung im Bereich Behinderung und Rehabilitation vom National Institute on Disability and Rehabilitation Research veröffentlicht und zur Diskussion gestellt [4]. Gefordert wird die spezifische Qualifizierung von Fachleuten zur Verbesserung und Förderung multidisziplinärer Forschung zur Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderungen in den Domänen individuelles Wohlergehen, Lebensumfeld und Partizipation, Arbeit, Gesundheit und Funktionsfähigkeit. Das Besondere in diesem Fall ist, dass auch ausdrücklich Menschen mit Behinderungen als Akteure in die wissenschaftliche Arbeit einbezogen werden sollen.

Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Interdisziplinarität in der Forschung der Gesundheitsfachberufe in Deutschland allerdings nicht ausschließlich inhaltlich sinnvoll, sondern auch strukturell und ressourcenbedingt unumgänglich. Vor diesem Hintergrund kann man es sowohl als Luxus als auch Fluch sehen, als Therapeut in einem nicht therapeutischen Umfeld zu forschen. Einerseits bietet die Forschung im Umfeld etablierter Wissenschaftsfelder einen Schutzmantel und die Möglichkeit, wichtige Erfahrungen sammeln zu können. Andererseits besteht auch die Gefahr, aus dem Schatten der etablierten Disziplin nicht mehr herauszukommen und kein eigenes Forschungsprofil entwickeln zu können. Ein Schicksal, das allerdings auch Angehörigen etablierter Wissenschaftsdisziplinen bekannt sein dürfte.

Wie jedoch kann die Entwicklung des eigenständigen Forschungsprofils der Physiotherapie gelingen? Hier werden in den nächsten Jahren wahrscheinlich weiterhin zunächst vereinzelte Entwicklungsschritte zu beobachten sein, und grundlegende Basisarbeit von Experten aus den Gesundheitsfachberufen, die sich in gesundheitspolitischen Gremien engagieren und nachhaltig Gehör finden, ist auch weiterhin unerlässlich, um strukturelle Veränderungen in der Breite zu bewirken und weiter aufzubauen.

Erfreulicherweise sind trotz der derzeitig noch beschwerlichen Bedingungen in der therapeutischen Wissenschaftslandschaft deutliche Veränderungen spürbar. Neben den engagierten Bestrebungen, therapeutische Forschung an den Fachhochschulen zu etablieren, wurde die 1. Professur für Experimentelle Physiotherapie an einer deutschen Universität 2012 in Göttingen besetzt. Erstmalig sind an einer medizinischen Fakultät in Deutschland die Voraussetzungen geschaffen, um unabhängige und gleichberechtigte physiotherapeutische Forschung zu gewährleisten.

In der unüberschaubaren Fülle der Forschungsbedarfe, allein in Bezug auf die anwendungsbezogene Forschung zur direkten Information der evidenzbasierten Praxis ist es sinnvoll, die in den Empfehlungen des Gesundheitsforschungsbedarfs genannten Prioritäten entsprechend dem Versorgungsbedarf weiter auszudefinieren, da auch disziplinäre Forschung gerade im Hinblick auf Grundlagen und Theoriebasierung notwendig und förderwürdig ist.

Die thematische Auswahl in dieser Ausgabe zeigt deutlich, dass ein breites Spektrum an therapeutischen Einsatzgebieten therapeutisch motivierte Fragestellungen aufwirft.

Wie im Gasteditorial dieser Ausgabe diskutiert, stellt auch die notwendige A-priori-Registrierung klinischer Studien einen wichtigen Schritt in Bezug auf die Verbesserung der Forschungsqualität und der Fokussierung von Forschungsinhalten dar.

 
  • Literatur

  • 1 Ewers M, Grewe T, Huber W et al. Forschung in den Gesundheitsfachberufen. Potenziale für eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung in Deutschland. Konzept der Arbeitsgruppe Gesundheitsfachberufe des Gesundheitsforschungsrates. Dtsch Med Wochenschr 2012; 137 (Suppl. 02) 29-76
  • 2 Höppner H. Empfehlungen des Gesundheitsforschungsrates zu Forschung in den Gesundheitsfachberufen – Potenziale für eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung in Deutschland. physioscience 2012; 8: 125-126
  • 3 Rankin G, Rushton A, Olver P et al. Chartered Society of Physiotherapy’s Identification of National Research Priorities for Physiotherapy Using a Modified Delphi Technique. Physiotherapy 2012; 98: 260-272
  • 4 National Institute on Disability and Rehabilitation Research (NIDRR). Proposed Priority – National Institute on Disability and Rehabilitation Research – Advanced Rehabilitation Research Training Program. 2013 www.gpo.gov/fdsys/pkg/FR-2013-03-28/html/2013-07260.htm (16.04.2013)