Psychiatr Prax 2013; 40(05): 287-291
DOI: 10.1055/s-0033-1336850
Szene
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Von elektronischen Dienern

Ulrike Hoffmann-Richter
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Ulrike Hoffmann-Richter, Luzern

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Publication Date:
01 July 2013 (online)

 
 

Es ist kurz nach 9 Uhr. Ich habe die Mails gelesen, die dringendsten beantwortet, meine Termine für den Tag rekapituliert und mit meinen Mitarbeitenden gesprochen. Um 10 Uhr wird Herr Gerber kommen.

Es ist Monate her, dass ich seine Akte gründlich gelesen habe. Ihr muss ich mich jetzt wieder ganz zuwenden. Doch die 50 Minuten werden genügen, um mich zu erinnern und auf die Exploration gut vorzubereiten. Das Telefon ist umgeleitet, die Tür geschlossen. Ich schlage die Akte auf und beginne zu lesen: Herr Gerber, Geburtsjahr 1955, beim Heuabladen von der Rampe gestürzt und mit dem Kopf voran aufgeschlagen, Schädel-Hirn-Trauma. Frage: Sind die berichteten Verhaltensauffälligkeiten unfallkausal? Leistungsfähigkeit? Ich darf nicht vergessen, das Gutachten von Peter gegenzulesen. Und ich muss die Kollegen an ihr Peer-Review erinnern. Ich notiere mir Stichworte. Wann habe ich das Methodik-Referat? Diesen oder nächsten Freitag? Was brauche ich noch für die Präsentation? Ich öffne den Outlook-Kalender, suche das Datum und die Frist für die Abgabe, stolpere über meine Aufgabenliste und bleibe bei den Terminen der nächsten Tage hängen. Meine Gedanken gehen spazieren. Ich habe mich erst von ihnen, dann von der Software ablenken lassen.

Begutachten heißt Daten zu erheben, zu analysieren, zu interpretieren, heißt einen verstehenden Zugang zu finden oder zumindest zu versuchen. Gefragt sind Wissen, Erfahrung, Denkarbeit. Das ist zeitaufwendig. Was war das Problem bei Herrn Gerber? Noch 40 Minuten. Warum kann ich mich nicht konzentrieren? Wo sind meine Gedanken unterwegs? Herr Gerber hat sich vorzeitig aus der neurologischen Klinik entlassen. Zwei neuropsychologische Testuntersuchungen hat er knapp mitgemacht, die dritte verweigert. Zur nächsten Kontrolluntersuchung ist er nicht mehr erschienen.

Die Neuropsychologin beschrieb ihn als kognitiv deutlich eingeschränkt. Selbstständig zu arbeiten sei nicht mehr möglich. Ob er seine Teilzeittätigkeit als Magaziner noch ausüben könne, sei fraglich, sicher sei er dort eingeschränkt. Man müsse sich um ihn kümmern. Er wolle unbedingt wieder arbeiten. Sein Vorgesetzter hoffte auf Besserung. Die Nachbarin stellte Herrn Gerber ab und zu eine Mahlzeit hin. Ich hatte doch eine Hypothese dazu. Wo sind meine Notizen? Richtig, ich hatte den Hinweis auf eine Beistandschaft und ihre Aufhebung schon vor dem Unfall gefunden und gebeten, die Dokumentation zu vervollständigen. Gerber hatte sich mit der Gemeinde angelegt, mit der Polizei und dem Steueramt. Er schien misstrauisch zu sein, vielleicht zudem minderintelligent?

Ich muss ins elektronische Dossier sehen, die Papierakte endet Mitte 2010. Die Unterlagen der Amtsvormundschaft sind erst vor Kurzem eingegangen und erfasst worden. Ich brauche die Schadennummer… Das Microsoft-Ringlein dreht sich, lässt mich hängen. Noch 30 Minuten.

Von Dienern, Automaten und Servern

Über eine andere Oberfläche versuche ich einen neuen Weg ins elektronische Dossier. Diesmal erhalte ich Zugang und kann nach den Dokumenten suchen. Noch werden die Titel nicht systematisch erfasst, die Suchmaske ist nicht vorhanden, lediglich eine Ordnungsfunktion, also wähle ich das Datum. Ich finde es nicht – weder das Erstell- noch das Eingabedatum. Noch ist bei der Erfassung und Pflege der elektronischen Dossiers keine Routine eingekehrt. Im Akkord müssen zusätzlich zu den neuen Dokumenten alte nacherfasst werden. Die Genauigkeit leidet unter der angestrebten Geschwindigkeit. Das Bewusstsein für die neu entstehende Abstraktionsebene – die zuerst aufscheinende Liste mit den Dokumenten – fehlt.

Jeder, der etwas ins System eingibt versteht zwar, was er mit den von ihm selbst kreierten Bezeichnungen und Abkürzungen meint, die anderen Nutzer aber nicht. Das Dossier kann zwar an unterschiedlichen Orten zeitgleich eingesehen werden, aber an die Arbeit mit und in den Dokumenten wurde nicht gedacht. Ich muss sie alle einzeln öffnen, um zu sehen, was sie enthalten. Das Microsoft-Ringlein wird mein ständiger Begleiter, und jedes Mal bange ich, dass der Server mich hängen lassen könnte. Soll ich das ganze Dossier als pdf-Datei herunterladen? Ausdrucken? Regelmäßig ausnahmsweise? Meine Nervosität steigt.

Der Server hat sprachlich dieselbe Wurzel wie der Servant – der „Diener“. Im Gegensatz zu Knechten und Mägden jedoch waren Diener qualifiziertere Angestellte. Das Dienstpersonal gehörte zum aristokratischen wie zum bürgerlichen Haushalt. Es konnte fast alles und sollte möglichst geräuschlos, möglichst unsichtbar sein. Dafür gab es in alten Schlössern besondere Gänge und Räume. Zum Teil sind sie in den großbürgerlichen Wohnungen aus dem 19. Jahrhundert und Beginn des 20. Jahrhunderts noch heute zu finden. Je mehr Fähigkeiten aber, je mehr Bedeutung das Personal bekam, desto mehr Einfluss hatte es, desto mehr trat es in Erscheinung. Die ersten Haushaltsgeräte und Automatisierungen wurden deshalb als Fortschritt begrüsst, z. B. die Tischeisenbahn oder ein sich drehender Tisch, die es ermöglichten, im Speiseraum vor dem Personal sicher zu sein. Maschinen im Haushalt wurden nicht zuletzt deshalb als Fortschritt betrachtet, weil sie Hausangestellte überflüssig machten [1].

Software und Server wurden mit ähnlichen Erwartungen eingeführt, und bis heute lauten die Gründe für neue Software entsprechend: man könne Personal, insbesondere Sekretärinnen und Assistenten einsparen. Software erleichtere und beschleunige die Abläufe. Dabei sind wir nicht weniger – um nicht zu sagen zunehmend – mit Dingen befasst, die wir Sekretärinnen überlassen könnten: Statt Briefe zu diktieren schreiben wir Mails. Wir arbeiten uns durch Anmeldeseiten für Kongresse, scrollen durch deren Programmstrukturen, melden uns in unzählige Homepages ein, speichern Zugangsdaten und Passwörter.

Mit jeder Personalisierung von Unternehmenssoftware fallen weitere Aufgaben an uns zurück, etwa die Eingabe von Spesenabrechnungen und Abwesenheitszeiten. Wir bedienen die Cockpits von Spesen- und Zeiterfassungssystemen, von Personal- und Materialbudgets, von Datenbanken, Zeitschriftenreviews und Literaturablagesytemen. Wir pendeln zwischen Oberflächen elektronischer Postverwaltung, Auftragseingängen und -bearbeitungen. Werden die Dinge dadurch wirklich direkter? Werden sie schneller und einfacher? Wann komme ich zu meinem Gutachtenauftrag, zum Inhalt meiner Arbeit, wann kann ich mich dem Exploranden und seiner Geschichte zuwenden?

Längst kennen wir das aus öffentlichen Unternehmen, sei es bei den Geldautomaten und dem elektronischen Bankverkehr, bei der Post, beim Buchen von Flügen, beim Lösen von Bahntickets, bei Urlaubsbuchungen und bei Interneteinkäufen. Wir werden geködert mit 24-Stunden-Service, direkter Erledigung und günstigeren Konditionen. Nicht gesprochen wird vom Serviceabbau und dem Aufwand an Zeit, an Mühe und nicht selten Ärger, wenn das, was automatisch-elektronisch-online-direkt laufen sollte, außer Betrieb ist, abstürzt, revidiert wird, einer neuen Software bedarf, auf dass ich selbst eingeben kann, was ich bis dahin auf einem vorgedruckten Formular notiert habe, um es in einen Umschlag zu stecken oder zu faxen.


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Dienstleistungsgesellschaft

Der immer weiter wachsende Dienstleistungssektor führt nicht dazu, dass Dienstleistungen im Alltag zunehmen. Sie werden abgebaut. Sie werden gegen ihre Kosten aufgerechnet. Nicht nur bei der Bank, sondern auch im Haushalt – mit dem Staubsauger-Roboter, dem Rasenmäher, der eine Fläche vollautomatisch abgrast, mit digitalen Fotos. Wer lädt die Bilder hoch, wer schneidet sie zu, prüft ihre Lichtverhältnisse, druckt sie aus oder lädt sie auf den Server der Firma, die Karten, Fotobücher, Kalender druckt? Wer lädt die Akkus, wer wartet die Geräte, prüft die Software, aktualisiert sie? Wer wartet die Kaffeeautomaten, Drucker, Kopierer, Scanner, die Spracherkennung? Server sind nicht unsichtbare, selbst wirkende moderne Bedienstete. Von selbst machen sie gar nichts. Sie brauchen Zuwendung. Auch und gerade hochentwickelte Software muss bedient, gepflegt und aktualisiert werden, damit man sie nutzen kann.

Manche Software fordert mehr Einspeisung als sie an Unterstützung bietet. Und sie schafft neue Bedürfnisse. Das zeigt sich beispielsweise am wachsenden Controlling: Je mehr Kennzahlen erfasst werden können, desto mehr Messgrößen werden kreiert, eingefordert und kontrolliert. Diskutiert wird bei dieser Entwicklung über die Ökonomie. Das ist aber nur eine und vielleicht nicht einmal die wichtigste Seite. Erstaunlich wenig ist im Fokus, dass wir mehr und nicht weniger beschäftigt sind mit Computern, Internet und Software. Wen wundert es noch, dass wir uns ständig gejagt fühlen, fremdbestimmt, dass wir nicht greifen können, was wir geleistet haben, dass wir abgelenkt werden von den eigentlichen Dingen?

Das IKEA-Prinzip ist nach wie vor beliebt: Statt teurer Möbel kaufen wir günstige Einzelteile. Neue Software ist nicht in Einzelteilen lieferbar, wohl aber in Prototypen, die für den speziellen Bedarf erst angepasst und meistens noch wesentlich ausdifferenziert werden müssen. Hier scheint auch das bewusste Kalkül im Spiel zu sein, die Nutzer für die Ausreifung einzuspannen. Zeit ist Geld, dienstlich und privat, und die wachsende Software erschwert die Grenzziehung zwischen beiden [2].

Ich muss froh sein, wenn ich unterwegs nicht vergesse, was ich eigentlich hatte tun wollen. Endlich habe ich die Berichte des früheren Beistands von Herrn Gerber gefunden. Sie waren unter dessen Namen abgelegt, den ich jedoch nicht kannte. Jetzt erinnere ich mich wieder gut. Herr Gerber hatte sich mit seinem selbst gewählten Beistand angelegt, weil der seine Steuerschulden von seinem Konto beglichen hatte. Ob Gerber kommen wird? Wie viel Kraft wird es ihn kosten?


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Von Effizienz und Ermüdung

Wieder einmal habe ich Berichte ausgedruckt – die des Beistands, den letzten neuropsychologischen und den aktuellen des Hausarztes. Was wäre, wenn ich das alles könnte, aber vielleicht nicht wollte? Kritiker der ständigen Beschäftigung mit der Software geraten schnell in Verdacht unflexibel zu sein, mit der digitalen Welt nicht Schritt halten zu können oder gar undankbar zu sein trotz guter Arbeitsbedingungen. Schließlich sind sie auf dem modernsten Stand mit dem digitalen Diktieren, mit elektronischem Diktatversand, Spracherkennung, Kollaborationsplattformen, elektronischer Kalenderführung für die Koordination von Untersuchungen und Terminplanung im Team, mit direkter Leistungsabrechnung, elektronischem Auftragsversand, elektronischen Dossiers …

Neben der Zeit, die uns die Bedienung, Mitentwicklung und Pflege (was für ein Wort in diesem Zusammenhang!) abverlangt, verändert die Digitalisierung unsere Arbeit und unsere Umgangsformen. Sie hat Auswirkungen auf Institutionen, ja sie verändert unser Leben: Wir schreiben nicht nur Mails statt der früheren Briefe, sondern oft auch dort, wo wir früher telefoniert haben. Chats, Telefon- und Videokonferenzen ersetzen persönliche Begegnungen. Doch viele Software-Instrumente sind nicht nur unausgereift, wenn sie eingeführt werden. Sie ziehen Veränderungen in den Arbeitsprozessen nach sich, die nicht oder nur unzureichend durchdacht sind.

Um zwei einfache Beispiele zu wählen: Magnetbänder gingen früher zusammen mit den Papierakten zum Schreiben ans Sekretariat. Bei der Spracherkennung indessen geht das Diktat in eine elektronische Ablage. Im Diktat beginnt der Text direkt, ohne Vorinformation. Die Eingabe zur Datei ist nur sehr kurz. Je nach Versandort ist nicht klar, wer das Diktat erstellt hat.

Zweites Beispiel sind die Mails, die zu jeder Tages- und Nachtzeit, auch vom Handy aus verschickt und empfangen werden können. Die Folge ist paradox: Einerseits sind wir aufgefordert, uns abzugrenzen, unser Berufs- und Privatleben sorgsam zu trennen und gerade im digitalen Zeitalter noch besser darauf zu achten. Andererseits werden Termine versandt und Antworten innerhalb kurzer Fristen eingefordert, die weder auf Ferien noch auf Kongresse Rücksicht nehmen. Die wachsende Zahl an Kindern, die unter Aufmerksamkeitsstörungen leiden, halten uns den Spiegel vor: je mehr Ablenkungen, je mehr Möglichkeiten, desto schwerer wird es, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Die „Generation 80+“ irritiert mit ihrem Pochen auf Freizeit. Selbst angehende Ärztinnen und Ärzte sind nicht bereit, ständig Überstunden zu machen. Sie verlassen nach dem Nachtdienst ihre Station, selbst wenn sich die Zurückbleibenden vor Arbeit nicht retten können [3]. Was mache ich, wenn Herr Gerber zwar kommt, aber auch mir gegenüber gleich lospoltert, noch bevor wir ins Gespräch gekommen sind? Ein zweites Mal wird er kaum kommen, und ein Telefonat wäre unzureichend.

Ein weiteres Argument bei der unablässigen Einführung neuer Software neben der Effizienzsteigerung ist der Zeitgewinn. Elektronische Leitsysteme ermöglichen einen viel engeren Zeittakt von Bahnen und Flugzeugen. Auf eine Mail oder eine SMS kann man binnen Sekunden antworten. Konferenzen können auch als Videokonferenzen stattfinden, wenn man sich nicht persönlich treffen muss. Automatismen sollen Routinetätigkeiten beschleunigen. Werden sie aber zu dominant, müssen sie mindestens so häufig korrigiert werden, wie sie passen, allen voran die Angebote für Textkorrekturen auf Smartphones und PCs.

Die wachsenden Geschwindigkeiten, in denen Entfernungen überwunden werden können, führen nicht von selbst zu Zeitersparnis. Denn die bloße Möglichkeit der Mobilität zwingt zur Verpflichtung, die Wege häufiger auf sich zu nehmen. Trotz der räumlichen Distanzen hat die zeitliche weiterhin ihre Gültigkeit. Anscheinend empfinden Menschen seit Jahrtausenden als vernünftige Alltagsentfernung eine, die in etwa einer Stunde zu bewältigen ist. So sind wir nicht weniger, sondern häufiger unterwegs. Das Ziel aber angesichts dieser Erkenntnis ist nicht die Entschleunigung, die Reduktion von Reisen, sondern die weitere Verdichtung des öffentlichen Verkehrs und von Wartezeiten.

Unser Alltag beginnt zu rauschen [4]. Wir lassen uns von ihm berauschen, richten uns in einem Dauerrausch ein schon allein, um den Kater zu vermeiden. Die Frage heißt, ob dieser Zustand, ob die weitere Beschleunigung und Effizienzsteigerung erstrebenswert ist. Gibt es da noch Raum für Selbstwahrnehmung? Wer sich unter diesen Umständen die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung erhalten hat, verspürt Müdigkeit [5] [6]. Für Denkarbeit ist dies nicht förderlich [7].

Wird Herr Gerber gleich in der Tür stehen, und ich kann meine Gedanken nicht disziplinieren? Auf meiner Uhr ist es schon nach 10 Uhr. Ich hätte ihm absagen sollen. Wie kann ich ihn erreichen? Womit genau hatte sein Beistand begründet, dass er sein Amt niederlegte?

Nach einem kurzen Klopfen steht ein großer, kräftiger Mann in der Tür, einfach gekleidet in einem Flanellhemd, mit Sporthose und schweren Schuhen. Sein Blick ist schüchtern, neugierig, sympathisch. Er setzt sich. Nach meiner kurzen Erläuterung, wozu die Untersuchung nötig sei, stelle ich die eröffnende Frage nach seinem aktuellen Befinden. Er schweigt. Die Pause wird ungewöhnlich lang. Hat er mich verstanden? War meine Einleitung schon zu lang, zu kompliziert? Habe ich ihn eingeschüchtert? Ich suche nach einer einfacheren Beschreibung, als er zu sprechen beginnt: „Ned so guat. Der Stier hät mi agriffe. I ha kei Chraft meh…“ (Nicht so gut. Der Stier hat mich angegriffen. Ich hab‘ keine Kraft mehr). Eine große, schwere Duftwolke erreicht mich. Sie erzählt von Kühen, Stall, Mist, dem Verlust der Geruchswahrnehmung und sparsamer Körperpflege. Byung-Chul Hans „Duft der Zeit“, die Bezug nimmt auf die Duftuhr aus dem alten China, meint zwar angenehme Düfte. Die Wolke, die Herrn Gerber begleitet erinnert mich dennoch an sie, weil sie Zeit verräumlicht und ihr den Schein der Dauer verleiht [4].

Meine Gedanken schweifen zum eben vergangenen Novembersamstag. Er war noch einmal erstaunlich warm. Föhn hatte eingesetzt. Nach dem Frühstück ließ ich die Waschmaschine laufen und begann aufzuräumen. Die Sonne drängte sich so fest gegen die Scheiben, dass ich die Balkontüre öffnete, um sie hereinzulassen. Ich setzte mich auf den Liegestuhl und betrachtete die Töpfe. Vertrocknete Blätter hielten sich an den Zweigen, Äste waren abgestorben. Ich holte die Gartenschere und begann den Topfgarten für den Winter vorzubereiten. Dieses einfache Haushalten so vor mich hin, bei dem ich keinem Plan folgen, nicht auf die Uhr sehen musste, tat wohl.

Es geht nicht nur darum, keinen fixen Zeitplan einhalten zu müssen, dämmerte mir, es geht auch um meditative Elemente im Alltag. Ich war aus dem Zeitgefängnis entlassen. Wie schnell jedoch wird Nachdenken als Untätigkeit abqualifiziert? Ist es noch zulässig, am Schreibtisch zu sitzen und nachzudenken, ohne etwas zu notieren oder zu blättern, ohne nebenher zu mailen oder zu telefonieren? Vielleicht hat es irgendwann einmal viele bis zu viele meditative Elemente gegeben.

In der Gegenwart sind sie zusammengeschrumpft: Mahlzeiten, zumindest morgens und mittags, sollen schnell über die Bühne gehen; Körperpflege, also Duschen oder Baden und alles, was dazu gehört, soll effizient sein, Einkaufen möglichst schnell. Am besten weiß man, wo die Dinge stehen, eilt durch den Laden, schaut weder groß links noch rechts, zahlt und verlässt das Geschäft. Wer pult noch Erbsen aus oder rüstet Bohnen selbst, legt Hülsenfrüchte ein, macht Saucen, Fonds, Marmelade, Saft …? Wer schreibt noch Briefe, sucht Karten aus oder gestaltet sie gar selbst?

Auch später, als ich am Mittag nach Hause kam, Obst und Gemüse verräumte, mich noch einmal dem Balkon zuwandte, begriff ich: Wenn ich den Dingen auf diese Weise nachgehen kann, stört es mich nicht, auch am Wochenende beschäftigt zu sein. Ich kann nebenher meinen Gedanken nachhängen, den Geist aufräumen, bis er zur Ruhe kommt, kann mich neuen Aufgaben, einer Lektüre oder dem Schreiben zuwenden.

„Chüa sind mis Hobby“, höre ich Herrn Gerber sagen. „Wenn i mini Küa nümm cha ha, isch fertig …“ (Kühe sind mein Hobby. Wenn ich meine Kühe nicht mehr habe, ist mein Leben zu Ende). Herr Gerber hat sein eigenes Tempo. Spontan spricht er wenig. Wenn ich mich seinem Tempo anpasse, kann ich die Pausen nutzen, um seinen Sätzen hinterherzulauschen. Er macht mich neugierig: Was heißt „fertig“, frage ich ihn. Er hört sich meine Fragen an, denkt ernsthaft nach, antwortet: „mi’s Läbe“ (mein Leben). Er kann mich für sich einnehmen. Ich taste mich vor, wie viel ich dazwischen fragen kann, ohne seinen Gedankengang zu unterbrechen.

Ich frage ihn, wie das sei, ob er sich selbst versorge, wer koche, putze … Ich verspreche mich, muss mich korrigieren, suche nach anderen Wörtern und stelle fest, wie oft mir Wörter entschlüpfen, die ich nicht gemeint habe. Die Zerstreute, die Unaufmerksame bin erst einmal ich. Ich hole tief Luft und nehme die ganze Viehwirtschaft in mich auf: „Hab‘ ich recht verstanden, Ihre Nichte putzt, aber sie war schon lang nicht mehr da?“ – Herr Gerber nickt und versinkt in Gedanken. Meine Besorgnis wächst. Realisiert er nicht, dass er seine Autonomie gefährdet? „Ich mache mir Sorgen, Herr Gerber“, sage ich. „Haben Sie sich einmal überlegt, was passiert, wenn Sie nichts dagegen tun?“ Er wird sehr nachdenklich, schweigt, während ich mich frage, wie viel Dauer seiner Duftuhr beschert sein wird. Gestern, fängt er an, sei ihm aufgefallen, dass das Holzhaus am Dorfende nicht mehr mit Blumenkästen geschmückt sei. Die alte Frau, die dort gewohnt habe, sei ganz plötzlich ins Pflegheim gekommen. Der Blumenschmuck sei ihr ganzer Stolz gewesen und vielfach bewundert worden. Sie habe sich lange gewehrt. Dann habe es schnell gehen müssen, und sie sei dort gelandet, wo sie nicht habe hinwollen …


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Die Digitalisierung des Lebens

Herr Gerber kann sich vorstellen, es mit dem Beistand nochmals zu versuchen. Aber ich müsse ein gutes Wort für ihn einlegen. Schweigend gehen wir zum Empfang, wo er seine Reisespesen erhält und sich formvollendet verabschiedet. Ich trotte zurück und öffne alle Fenster so weit wie möglich. Meine Mitschrift ist voller angefangener Sätze, die ich gleich vervollständigen muss, um nichts zu vergessen.

„I ha Chraft gha wia na Leu …“ (Ich habe Kraft gehabt wie ein Löwe). Diesen Schlüsselsatz wird die Spracherkennung nicht verstehen. Wenn ich seine Sätze direkt in Schriftdeutsch umwandle, muss ich auch den Satzbau umstellen mit der Folge, dass mir seine Gedankengänge verlorengehen und ich die Bezüge seiner Erzählsequenzen nicht mehr verstehe. Sofort zu diktieren, hieße mit der Kontrolle der Spracherkennung befasst zu sein, mit den Korrekturen und meiner Selbstüberprüfung, ob ich die Korrekturen so eingebe, dass das System dazulernt.

Im Zentrum steht dann nicht mehr mein Diktat, der Gesprächsablauf, weder Herrn Gerbers Gedanken noch meine Entlastung, sondern die Weiterentwicklung der Software. Dann stelle ich meine Energien für die Ausreifung der Software zur Verfügung. Meine Arbeit, mein Gedankengang wird fraktioniert. Ich spüre den Druck, mich der Digitalisierung, dem Funktionieren des Computers anzupassen. Ist das nicht die digitale Auflage von Chaplins „Modern Times“? Ist es so abwegig, dies als Ausbeutung zu erleben? Geht es nur um Unachtsamkeit oder wird sie billigend in Kauf genommen? Was muss geschehen, damit die Digitalisierung von Arbeit und Leben ein größeres, ein drängenderes Thema wird? Könnte es helfen, an die Abkehr von der rigiden Fließbandarbeit zu denken? Dort ging es um mehr Pausen, mehr Abwechslung, um zusammenhängende Arbeitsabläufe für eine Person. Im digitalen Zeitalter geht es auch um die Pausen, aber statt Abwechslung um Konzentration, weniger Unterbrechungen und die Möglichkeit ungestörten Arbeitens. Wer bemerkt die Tendenz, das selbstständige, das anspruchsvolle Denken abzustellen und die Bedienung von Software ins Zentrum zu rücken?


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Kritik der digitalen Vernunft

Natürlich werden alle diese Systeme irgendwann ausgereift sein. Freilich werde ich mit ihnen so vertraut sein wie nötig. Natürlich werden die jetzt neuen Prozesse irgendwann selbstverständlich werden. Und dennoch: Ist es realistisch anzunehmen, dass künftig keine neue Software, kein noch besseres, noch effizienteres Angebot zur Verfügung steht, das eingeführt wird, wiederum verbessert werden muss und meine Kapazitäten beansprucht?

Software führt nicht deshalb zu mehr Effizienz, weil es sie gibt, weil sie neu ist und mehr kann als die alte. Ihre Einführung heißt nicht zwingend, dass die Arbeit rascher vonstattengeht, dass schneller gedacht oder mehr Ergebnisse produziert werden. Der unbedingte Drang nach Effizienz lässt Aufgaben zersplittern und versperrt den Blick auf das Ganze der Tätigkeit.

Software führt nicht per se zu Zeitgewinn. Entfernungen schneller zu überwinden bedeutet nicht, dass man weniger unterwegs ist; eher zeigt sich eine umgekehrte Tendenz. Diversifizierte Angebote zur Kommunikation mit ihrer Geschwindigkeit – Mails, SMS, Telekonferenzen etc. – nähren die Erwartung, dass häufiger kommuniziert wird, und sei es nur, um deren Eingang zu bestätigen, Zwischenergebnisse mitzuteilen und dergleichen.

Software nimmt keine Denkarbeit ab. Sie birgt sogar die Gefahr, vom Denken abzulenken, wenn man sich nicht ganz bewusst davon distanziert. Denn für die Ausdifferenzierung von Software muss der Gedankengang, dem sie dienen soll, unterbrochen werden. Der Raum zum Nachdenken wird in dieser Zeit nicht weiter, sondern enger. Software ist weder eine Lösung für Struktur- noch für zwischenmenschliche Probleme. Das kritische Nachdenken freilich – sei es über die eigene Arbeit oder über institutionelle Prozesse – wird beschnitten. Ob sich dies jedoch auf Dauer für die Unternehmung auszahlt oder wichtige Innovationen behindert, steht auf einem anderen Blatt.

Wie aber ist es möglich, den Raum für die Denkarbeit freizuhalten? Was heißt es, was brauchen wir, um mit der Digitalisierung und ihrer Allgegenwart umgehen zu lernen? Was brauchen wir, um die Digitalisierung für unsere Arbeit nutzbar zu machen und uns nicht bloß von ihr benutzen zu lassen? Bis jetzt habe ich nur unfertige Gedanken dazu:

  • Bis es in den Industriebetrieben zu nachhaltigen Veränderungen – weg von den Fließbändern – kam, ist sehr viel Zeit verstrichen. Es wird nicht einfach sein, Lösungswege für die notwendige Ausdifferenzierung von Software einerseits zu finden und die Zwecke, denen elektronische Hilfsmittel dienen sollen, andererseits nicht aus den Augen zu verlieren, wenn überdies im Zentrum die Aufgaben stehen, die Menschen mit ihrer Hilfe verrichten wollen und sollen. Ein anderes Beispiel für solche Tendenzen ist die Bekleidungsindustrie mit ihren Modediktaten. Sie führen sogar dazu, dass Menschen ihre Körper modellieren lassen, um gerade Modisches tragen zu können, anstatt dass Kleidung den Anlässen dient, für die sie gemacht wird und damit Menschen sich in ihr wohlfühlen. Welche Möglichkeiten bestehen, diesen Prozess nötiger Veränderungen anzustoßen?

  • Wichtig wird es nicht zuletzt sein, die Veränderungen kritisch zu beobachten, die die zunehmende Entwicklung von Software und die Digitalisierung von Arbeit und Leben mit sich bringen.

  • Wichtig wird weiter sein, die Wahrnehmung dafür zu schärfen, wann die Dinge anfangen zu rauschen.

  • Dass Software Denken ersparen kann, ist ebenso illusorisch wie die Annahme, dass Maschinen Arbeit sparen. Wenn Software wie eine Maschine für uns arbeitet, braucht sie Energie. Auch in der elektronischen Welt gibt es kein Perpetuum mobile. Das heißt, dabei wird auch unsere Energie verbraucht, sei es in Form von Strom, Geld, Denkkapazitäten oder/und Lebenszeit. Damit Software und das, was sie tut, nicht zum Selbstzweck wird, ist es nötig, dass wir sie kritisch einsetzen und ihre Nutzung nachdenklich begleiten. Es ist ein Kraftakt, sich nicht schon durch ihre bloße Präsenz und ihre Vielfalt vom Denken ablenken zu lassen.

  • Digitale Angebote bedürfen der kritischen Nutzung nicht nur, wenn es um soziale Medien geht, sondern auch bei Selbstverständlichkeiten wie Mailen, Googeln, Browsen, Surfen … Denn sie wecken die Illusion einer nützlichen Tätigkeit selbst dann, wenn eine Aufgabe mit ihrer Hilfe nicht bewältigt werden kann, da es um Nachdenken vor einem leeren Blatt geht.

  • Vielleicht wird es in Zukunft noch wichtiger sein sich gezielt Zeiten für Denkarbeit einzuräumen. Die fundamentale Frage ist, wie das gelingen kann.

Meine Mitschrift habe ich abgeschlossen. Wieder klopft es an der Tür. Meine Neurologen-Kollegin hat Herrn Gerber auch untersucht und möchte sich mit mir besprechen. Ich fröstle und schließe die Fenster, während sie findet, dass sie auch jetzt noch zu viele Duftmoleküle umschweben. Ihr sei recht übel. Das Mittagessen ist überfällig. Bevor ich das Gutachten diktieren kann, muss ich die Dinge mit mir umgehen lassen. Das ist die Pflicht. Und wann kommt die Kür?


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  • Literatur

  • 1 Krajewski M. Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient. Frankfurt: S. Fischer; 2010
  • 2 Suchsland R. Führen durch Weichspülen. Arbeit ist die neue Freizeit: Carmen Losmanns „Work Hard – Play Hard“ im Kino. FAZ 13.04.2012; 87: 31
  • 3 Hucklenbroich C. Der alte Arzt hat ausgedient. FAZ 25.04.2012; 97: N5
  • 4 Byung-Chul H. Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens. Bielefeld: transkript; 2009
  • 5 Byung-Chul H. Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz; 2010
  • 6 Ehrenberg A. Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt: Campus; 2004
  • 7 King V, Gerisch B Hrsg. Zeitgewinn und Selbstverlust. Frankfurt: Campus; 2009

Ulrike Hoffmann-Richter, Luzern

  • Literatur

  • 1 Krajewski M. Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient. Frankfurt: S. Fischer; 2010
  • 2 Suchsland R. Führen durch Weichspülen. Arbeit ist die neue Freizeit: Carmen Losmanns „Work Hard – Play Hard“ im Kino. FAZ 13.04.2012; 87: 31
  • 3 Hucklenbroich C. Der alte Arzt hat ausgedient. FAZ 25.04.2012; 97: N5
  • 4 Byung-Chul H. Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens. Bielefeld: transkript; 2009
  • 5 Byung-Chul H. Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz; 2010
  • 6 Ehrenberg A. Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt: Campus; 2004
  • 7 King V, Gerisch B Hrsg. Zeitgewinn und Selbstverlust. Frankfurt: Campus; 2009