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DOI: 10.1055/s-0033-1338278
Sensibilitätsstörungen bei Multipler Sklerose – Mit Fingerspitzengefühl
Subject Editor:
Publication History
Publication Date:
08 March 2013 (online)
- Oberflächensensibilität, Tiefensensibilität, Stereognosie testen
- Sensibilitätstraining mit einer Handlung verknüpfen
Als wären Missempfindungen wie Kribbeln oder Taubheitsgefühle in den Händen nicht schon unangenehm genug, wirken sich diese Störungen zusätzlich auf die Feinmotorik aus. Mit Sensibilitätstraining allein ist es also nicht getan. Auf die Kombination mit Alltagshandlungen kommt es an.
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Wenn es Menschen mit Multipler Sklerose (MS) zunehmend schwerer fällt, Knöpfe zu schließen oder die Computertasten zu treffen, könnten Sensibilitätsstörungen dahinterstecken. Denn bei zentralen Läsionen kommt es oft distal an den Extremitäten zu ausgeprägten Sensibilitätsausfällen. Diese sind meist aufsteigend und breiten sich nach proximal aus. Zusätzlich können Missempfindungen auftreten, die Betroffene als gesteigerte, verminderte oder abnorme Wahrnehmung beschreiben. Dadurch spüren sie Objekte nicht deutlich. Sie fallen ihnen aus den Händen, vor allem, wenn sie nicht hinsehen. Gegenstände rutschen aus den Fingern oder die Finger rutschen von Objekten ab. Durch emotionale oder körperliche Belastung können sich die Missempfindungen verstärken. Nach einer Erholungsphase kann sich diese Intensitätssteigerung wieder auf das Ausgangsniveau einstellen.
Ähnlich wie bei Frau Klein. Sie ist 35 Jahre alt, lebt in einer Partnerschaft, geht einer geregelten Büroarbeit nach und erkrankte vor zwei Jahren an einer schubförmig verlaufenden Multiplen Sklerose. Im Moment hat sie einen akuten Schub. Beim Schließen ihrer Blusenknöpfe benötigt die Linkshänderin zwei bis drei Versuche. Ihre Ohrringe kann sie nur mit visueller Kontrolle im Spiegel einsetzen. Und die Computerarbeit bereitet ihr Schwierigkeiten. Oft tippt sie gleichzeitig zwei Buchstaben, weil sie nicht spürt, dass der Finger zwischen zwei Tasten liegt. Ebenso hat sie Schwierigkeiten beim Annähen von Knöpfen - sie sticht sich dabei häufig in den Finger.
Oberflächensensibilität, Tiefensensibilität, Stereognosie testen
Die Wahrnehmungsbereiche, welche in der Ergotherapie behandelt werden können, sind Oberflächensensibilität und Tiefensensibilität/Propriozeption. Um die Sensibilitätsleistung zu testen, wendet man zum Beispiel die Spitz-Stumpf-Diskriminierung und das Mirroring an (Tab). Sind Oberflächen- und Tiefensensibilität gestört, ist meist eine eingeschränkte Stereognosie die Folge. Den Klienten fällt es also schwer, Objekte nur durch Tasten zu erkennen. Bei allen Testungen schließt Frau Klein die Augen, damit die Therapeutin nur die sensorischen Leistungen bewerten kann. Vorsicht ist bei Klienten mit kognitiven Einschränkungen geboten. Bei ihnen können die Testergebnisse durch die verminderte Konzentration oder das beeinträchtigte Aufgabenverständnis verfälscht werden.


(C. Gratzl)
Was die Sensibilität angeht, so erkannte Frau Klein bei der Spitz-Stumpf-Diskriminierung in der rechten Innenhand 5 aus 10 und links 7 aus 10 Berührungen mit einem Nagel. Bei der Stereognosie-Testung erfasste sie rechts den Korken, die Büroklammer jedoch nicht. Links identifizierte sie sowohl den Knopf als auch den Stift. Wärme und Kälte empfindet sie mit der linken Hand ohne Einschränkungen, mit der rechten vermindert. Sie gibt an, sich rechts schon öfter am Bügeleisen verbrannt zu haben. Da Frau Klein außerdem ein Kribbeln wahrnimmt, ermittelt die Therapeutin Art und Ausbreitung der Missempfindung zunächst durch Fragen:
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> Wie fühlen sich Ihre Handfläche/Ihr Arm/Ihre Fingerspitzen an?
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> Befinden sich die Empfindungen an der Handinnenfläche oder auf dem Handrücken oder beides?
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> Wie weit erstreckt sich die Missempfindung, zum Beispiel nur an den ersten beiden Fingergliedern?
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> Ist das Kribbeln unterschiedlich stark ausgeprägt? Fühlt es sich an den Fingerspitzen intensiver an als in der Handinnenfläche?
Um die Intensität der Empfindungen bestimmen und die Effektivität der Behandlung messen zu können, bedient sich die Therapeutin eines Parameters. Dazu adaptiert sie die aus der Schmerztherapie stammende Numerische Rating-Skala (NRS) (Abb. 1). Für die Übertragung auf die Sinnesempfindungen bittet die Therapeutin Frau Klein, die Ausprägung des Symptoms auf der Skala anzugeben. Null bedeutet keine Missempfindung und zehn die stärkste vorstellbare Missempfindung. Die Befunderhebung ergab Kribbelparästhesien an beiden Händen. Frau Klein bewertet die Intensität an den Fingerspitzen ihrer rechten Hand auf der NRS mit 6/10, die Intensität auf der Handinnenfläche mit 3/10. Die Ausprägung an den Fingerspitzen der linken Hand gibt sie mit 2/10 an.


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Sensibilitätstraining mit einer Handlung verknüpfen
Aus den vorangegangenen Tests ergibt sich der Schwerpunkt der Behandlung: Liegt ein Oberflächen- oder Tiefensensibilitätsproblem vor, oder sind „nur“ Missempfindungen vorhanden? Bei einer beeinträchtigten Oberflächensensibilität fällt es Menschen schwer, kleine Objekte sicher zu greifen und zu manipulieren. Eine eingeschränkte Tiefensensibilität äußert sich beispielsweise durch das wiederholte Fallenlassen von Gegenständen, vor allem, wenn die Klienten nicht hinsehen. Oder die Objekte rutschen aus den Fingern, bzw. die Finger rutschen von den Objekten ab. Manchmal greifen die Klienten Gegenstände auch mit gestrecktem Daumen und Zeigefinger, da eine verminderte Kraftdosierung oft mit einer Störung der Tiefensensibilität einhergeht.


(M. Kerzendörfer (nachgestellte Situation))
Missempfindungen sind störend und unangenehm. Die Hypothese der Therapeutin zum Schwerpunkt und das Ziel des Klienten bilden den Behandlungsplan. Im Fall von Frau Klein sind die Kernprobleme die eingeschränkte Oberflächensensibilität und die Par-ästhesien an den Fingerspitzen. Sie wirken sich auf die Feinmotorik aus. Das heißt, sie führen dazu, dass die Klientin Nadel, Faden und Knopf nicht sicher spüren und halten kann. Das SMART-Ziel muss somit auf Aktivitäts- oder Partizipationsebene liegen. Gemeinsam mit der Ergotherapeutin benennt Frau Klein daraufhin zwei Ziele: erstens, innerhalb von 14 Tagen keine Kribbelparästhesien mehr an den Fingerspitzen (unterstützt durch die medikamentöse Therapie). Zweitens, in zehn Tagen den Faden in die Nadel einfädeln und einen Knopf annähen, ohne sich dabei zu stechen oder zu verletzen.
Eisapplikation
Wasser in einen kleinen Joghurtbecher füllen, einen Plastiklöffel hineingeben und in das Gefrierfach stellen. Sobald das Wasser gefroren ist, den Plastikbecher unter warmes Wasser halten und den Eiswürfel am Stiel herauslösen. Ein- bis dreimal über die betroffene Stelle streichen. Damit die Kälte möglichst lange erhalten bleibt, die Nässe mit einem Handtuch abtupfen. Diesen Vorgang circa drei- bis viermal wiederholen.
Wärmekissen
Mit warmen Kirschkernkissen, Moorpackungen odereiner heißen Rolle die Thermorezeptoren aktivieren. Aber: Nur ein Bruchteil von Menschen mit MS bevorzugt Wärme.
Öl-Zucker-Anwendung
Die Hände mit einem Hautpflegeöl einreiben und anschließend Zucker in die Handinnenfläche streuen. Fingerspitzen und Handinnenflächefünf Minuten lang massieren.
Bürsten unterschiedlicher Stärken
Bei größer betroffenen Bereichen wie Handflächen oder Armen eignen sich Bürsten in unterschiedlicher Stärke im Wechselgebrauch. Um eine Hautüberreizung zu vermeiden, dürfen die Borsten jedoch nicht zu hart sein. Beispielsweise siebenmal mit einer mittelharten Bürste überdie Handinnenfläche streichen. Im Anschluss daran mit einer weichen Bürste ebenfalls siebenmal über dieselbe Stelle streichen. Den Rhythmus viermal wiederholen.
Vibrationsmassage
Ein Handmassagegerät oder eine elektrische Zahnbürste an den Fingerspitzen ansetzen und über den Handflächenbereich fahren. Beide Hände behandeln und den Vorgang fünfmal wiederholen.
Massagering
Einen Massagering sechsmal entlang der Finger rollen, um sie intensiv und kontinuierlich zu stimulieren.
Materialbäder mit Suchaufträgen
Mit den Fingerspitzen in das sogenannte Sensibilitätsbad greifen und das Material (Raps, Senfkörner, Linsen, Hirse, Reiskörner) durch die Finger rieseln lassen. Um die Aufgabe zielorientierter zu gestalten, einen Gegenstand wie eine Büroklammer oder eine Murmel in das Materialbecken geben und ihn mit den Fingerspitzen ertasten.


(M. Kerzendörfer)
Für die Therapie ergibt sich daraus, dass das sensorische Training nie alleine stehen darf. Nach dem Sensibilitätstraining soll immer eine Handlung folgen. Im Optimalfall besteht das Sensibilitätstraining aus zwei bis drei Stimuli und dauert 20 bis 30 Minuten. Dafür eignen sich beispielsweise thermale Anwendungen, da Wärme und Kälte die Thermorezeptoren aktivieren und die Aufmerksamkeit auf die thermalen Reize lenken. Aber auch die Stimulation der Mechanorezeptoren durch unterschiedliche sensorische Reize wie Öl-Zucker, Bürsten oder Vibration eignen sich („Sensibilitätstraining“). Bei allen sensorischen Reizen ist es wichtig, den Daumenballen und den Kleinfingerballen mit zu stimulieren. Im Idealfall folgt nach der sensiblen Aktivierung eine Handlung/ Aktivität, die an der oberen Leistungsgrenze liegt, zum Beispiel
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> eine Büroklammer von der glatten Tischfläche aufheben,
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> ein Blatt Papier vom Boden aufheben,
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> einen Kettenverschluss öffnen und schließen oder
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> eine Tablette mit dem Spitzgriff aufheben.
Zu Beginn kann die Therapeutin verschiedene Reize austesten, um festzustellen, auf welche die Rezeptoren am besten reagieren. Ausschlaggebend für eine erfolgreiche Behandlung ist, dass die Anwendungen regelmäßig durchgeführt werden.
Um die sensorischen Leistungen konsequent zu stimulieren und die Missempfindungen zu verringern, sind regelmäßige Übungen auch zu Hause wichtig. Darum wählt Frau Klein für ihr tägliches 20-minütiges Übungsprogramm zwei verschiedene Reize aus.
Frau Klein soll das sensorische Training zu Hause fortführen, da sich die Kribbelempfindungen durch die sensorischen Reize zwar verringert, aber noch nicht vollständig zurückgebildet haben. Die Therapeutin empfiehlt ihr zusätzlich, regelmäßig beide Hände einzusetzen, damit die sensorische Exploration auch im Alltag stattfindet. Auf diese Weise verstärken verschiedene Gegenstände bzw. Informationsquellen den Input und aktivieren vermehrt die Reorganisation des Gehirns.
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(C. Gratzl)




(M. Kerzendörfer (nachgestellte Situation))


(M. Kerzendörfer)