Psychiatr Prax 2013; 40(05): 244-245
DOI: 10.1055/s-0033-1343213
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Recovery ist eine Illusion – Pro & Kontra

Recovery is an Illusion – Pro & Contra
Ronald Bottlender
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum Lüdenscheid – Märkische Kliniken GmbH
› Author Affiliations
Further Information

Korrespondenzadresse

Priv.-Doz. Dr. med. Ronald Bottlender
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum Lüdenscheid – Märkische Kliniken GmbH
Paulmannshöher Straße 14
58515 Lüdenscheid

Publication History

Publication Date:
01 July 2013 (online)

 

Pro

Recovery-orientierte Ansätze werden in der Behandlung der Schizophrenie bereits seit Längerem propagiert und sind prinzipiell begrüßenswert. Sie vermitteln Hoffnung und Zuversicht und tatsächlich stellen sich bei einem beträchtlichen Anteil der an Schizophrenie Erkrankten im Verlauf der Erkrankung substanzielle Besserungen ein. Recovery-orientierte Ansätze könnten diesen Anteil prinzipiell weiter erhöhen. Warum also sollte Recovery eine Illusion sein?


#

Bevor wir Recovery eine Illusion nennen, müssen wir zunächst einmal definieren, was unter Recovery denn genau zu verstehen ist. Hier beginnt aber bereits eines der Probleme mit dem Begriff Recovery. Unter Recovery werden sehr unterschiedliche Dinge verstanden und trotz der Fülle an mittlerweile zu dieser Thematik erschienenen Publikationen bleibt der Begriff letztlich unscharf und vage [1].

Eine völlige Gesundung oder Wiederherstellung eines wie auch immer definierten prämorbiden Zustands wird mit Recovery meistens nicht gemeint (klinische Recovery), obgleich der Begriff das durchaus nahelegt. Vielmehr wird Recovery von vielen Autoren als ein Prozess des Akzeptierens der Erkrankung und krankheitsbedingter Einschränkungen konzeptualisiert, wobei der Betroffene lernt, dass er trotz Erkrankung am gesellschaftlichen Leben teilhaben und ein zufriedenes und sinnvolles Leben führen kann (personale Recovery). Statt Recovery könnte man den zuvor beschriebenen Prozess möglicherweise sogar treffender als eine Art von Rehabilitation bezeichnen. Ist Recovery also doch nur alter Wein in neuen Schläuchen? Ein Anhänger des Recovery-Modells würde das entschieden verneinen und einwenden, dass Haltung und Ziele der professionellen Helfer in beiden Modellen sehr unterschiedlich sind: Recovery-orientierte Ansätze versuchen, die Betroffenen zu Hoffnung, Selbstverantwortung, Selbsthilfe und vielem mehr zu befähigen, wohingegen rehabilitative Ansätze Betroffene eher als passive „Opfer“ sehen, mit denen etwas gemacht wird. Das ist natürlich sehr verkürzt und verkennt auch, dass beispielsweise Anleitung zur Selbsthilfe und Selbstverantwortung heute selbstverständlich auch wichtige Bestandteile rehabilitativer Therapiekonzepte sind.

Von den genannten Definitionsproblemen und Abgrenzungsschwierigkeiten einmal abgesehen, ist der Recovery-Ansatz jedoch mit weiteren Schwierigkeiten behaftet. Der personale Recovery-Ansatz unterschätzt beispielsweise den Umstand, dass kein Mensch eine Insel ist. Was ist damit gemeint? Im Rahmen sozialer Prozesse, sozialer Integration und Teilhabe müssen sich im Recovery-Prozess befindliche Individuen immer auch mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft auseinandersetzen. Leider finden sich allerdings bei den anderen Mitgliedern der Gesellschaft nur allzu oft erhebliche Diskriminierungstendenzen gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen oder anderen Stigmata. Personale Recovery-Ansätze berücksichtigen die bestehenden strukturellen gesellschaftlichen Barrieren wie Rassismus, Sexismus oder auch Homophobie oft zu wenig und greifen damit erheblich zu kurz. Gerade diese und andere strukturelle Barrieren, die auch Menschen mit psychischen Erkrankungen betreffen, führen durch Rassifizierungsprozesse zu einer systemisch bedingten Diskriminierung und Exklusion von bestimmten Personengruppen [2].

Diese Punkte verdeutlichen die sozialen Dimensionen und auch die gesamtgesellschaftlichen Aufgaben von Recovery-orientierten Ansätzen. Werden diese und andere strukturelle Barrieren in der Gesellschaft nicht systematisch angegangen, bleibt personale Recovery abhängig von im Einzelfall glücklichen Umständen. Insbesondere in den entwickelten Industrienationen sind zwar viele Liberalisierungsprozesse im Gange. Strukturelle gesellschaftliche Barrieren werden zunehmend abgebaut. Paradoxerweise sind auf anderen Ebenen aber gleichzeitig immer deutlicher werdende Exklusionsprozesse und ein Verlust an gesellschaftlicher Kohäsion zu beobachten. Der Sozialpsychologe Lantemann fand zum Beispiel in einer 2012 durchgeführten repräsentativen Befragung, dass sich in Deutschland immer größere Teile der Bevölkerung sozial ausgeschlossen fühlen [3], wobei soziale Exklusion oft schon im Kindesalter beginnt. Die Armutsquote von Minderjährigen liegt in Deutschland derzeit bei 18,9 %. Konkret bedeutet dies, dass 2 457 000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren unterhalb der Armutsschwelle leben [4]. Diese Daten verdeutlichen, dass soziale Teilhabe in unserer Gesellschaft bereits für den „Normalbürger“ eine immense Herausforderung darstellt. Für Menschen mit seelischen Erkrankungen, insbesondere mit schizophrenen Erkrankungen, sind diese Herausforderungen nochmals ungleich höher. Wie groß diese Herausforderung für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist, zeigt sich unter anderem auch daran, dass psychische Erkrankungen in Deutschland mittlerweile mit Abstand der Hauptgrund für Erwerbsunfähigkeitsrenten sind. Soziale Exklusionsprozesse dieser Art unterminieren Recovery-orientierte Ansätze und lassen diese in der Tat oft als illusionär erscheinen [5].

Illusionär erscheinen – angesichts der tatsächlich für die Versorgung zur Verfügung stehenden Ressourcen – oft auch der personelle Aufwand und die institutionellen Voraussetzungen, die für effektive Recovery-orientierte Ansätze z. B. in der Behandlung von Patienten mit schizophrenen Erkrankungen prinzipiell erforderlich wären. Ein ambulantes, von multidisziplinär zusammengesetzten Teams durchgeführtes Case-Management für schizophren erkrankte Patienten existiert in Deutschland, einem der reichsten Industrieländer, nur im Rahmen von lokal begrenzten Initiativen. Die Mehrzahl der erstmals an einer Schizophrenie erkrankten Personen wird in Deutschland nach der stationären Behandlung leider nur allzu oft in ambulante Versorgungsstrukturen entlassen, die für die spezifischen Recovery-Bedürfnisse schizophren erkrankter Menschen als völlig unzureichend angesehen werden müssen. Wartezeiten auf einen Platz bei einem niedergelassenen Psychiater können Monate dauern. Von einer psychotherapeutischen Behandlung ist die Mehrheit der Menschen mit schizophrenen oder bipolaren Erkrankungen in Deutschland faktisch ohnehin ausgeschlossen. Vieles von dem, was ein interessierter ersterkrankter junger Patient oder dessen Angehörige über Recovery und diesbezügliche therapeutische Angebote und Unterstützungen lesen oder erfahren mögen, klingt angesichts der tatsächlichen Versorgungsrealitäten in Deutschland, von Modellprojekten einmal abgesehen, wie reiner Hohn.

Selbst in Großbritannien, wo die Idee Recovery-orientierter Ansätze mitentwickelt und lange propagiert wurde, kam es in den letzten Jahren unter dem Druck der Rezession zunehmend zu einem Abbau therapeutischer und sozialer Unterstützungssysteme. Zynisch könnte man in diesem Zusammenhang anmerken, dass praktischerweise im gleichen Zeitraum die Möglichkeiten zur Zwangsbehandlung im außerstationären Bereich in Großbritannien erweitert wurden. In dem Land, von dem in Europa die Recovery-Bewegung ihren Ausgang nahm, trat 2008 ironischerweise ein Gesetz in Kraft, welches die monate- bis jahrelange Zwangsbehandlung (meistens mit Depotneuroleptika) von psychisch Kranken in der Gemeinde ermöglicht (CTO = Community Treatment Order). Zumeist sind an Schizophrenie erkrankte Menschen davon betroffen [6].

Ursprünglich nahm man an, dass dieses Gesetz lediglich ein paar 100 „uneinsichtigen“ Patienten vorbehalten sei. Doch die Realität im Recovery-begeisterten Großbritannien sah leider anders aus. Knapp 18 Monate nach Einführung des Gesetzes wurden statt weniger 100 Patienten über 6000 Patienten i. R. eines CTO behandelt [7]. Pro Monat kamen bislang durchschnittlich weitere 370 Patienten hinzu. Neben diesem gesellschaftlichen Großexperiment gibt es in Großbritannien lokale Modellprojekte wie „Money for Medication“ [8], in denen Patienten – in der Regel schizophrene Patienten – für jede Depotspritze, die sie sich geben lassen, ein paar britische Pfund erhalten.

Diese Entwicklungen im Mutterland der Recovery-Bewegung sprechen für sich selbst und belegen eindrucksvoll die Grenzen des personalen Recovery-Ansatzes.

Der personale Recovery-Ansatz ist eine schöne Utopie, die definitorisch jedoch vage gefasst, gegenüber anderen Konzepten nur unscharf abgegrenzt und in ihrer Realisierbarkeit durch die real existierenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen leider erheblich limitiert ist. Trotz des aktuell noch illusionären Charakters des Recovery-Modells weist dieses Modell dennoch auf wünschenswerte Veränderungen in den gegenwärtigen psychiatrischen Versorgungssystemen hin und kann somit als positive Vision für die Zukunft dienen.


#
Zoom Image
Ronald Bottlender

Korrespondenzadresse

Priv.-Doz. Dr. med. Ronald Bottlender
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum Lüdenscheid – Märkische Kliniken GmbH
Paulmannshöher Straße 14
58515 Lüdenscheid


Zoom Image
Ronald Bottlender