Psychiatr Prax 2013; 40(06): 304-305
DOI: 10.1055/s-0033-1343216
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ordnungspolitische Funktion der Psychiatrie – Pro

Social Control Function of Psychiatry – Pro
Tilman Steinert
ZfP Südwürttemberg, Chefarzt der Abteilung Allgemeine Psychiatrie und Psychotherapie/Ravensburg, Stv. Ärztlicher Direktor Weissenau
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Tilman Steinert
ZfP Südwürttemberg, Leiter des Zentralbereichs Forschung und Lehre, Ärztlicher Direktor der Klinik Weissenau
Weingartshofer Straße 2
88214 Ravensburg

Publication History

Publication Date:
05 September 2013 (online)

 

Pro

In der Musterberufsordnung der Bundesärztekammer heißt es zu den allgemeinen ärztlichen Berufspflichten: „… haben dabei ihr ärztliches Handeln am Wohl der Patientinnen und Patienten auszurichten. Insbesondere dürfen sie nicht das Interesse Dritter über das Wohl der Patientinnen und Patienten stellen“ [1]. Andererseits wurde 2013 eine französische Psychiaterin zu einer einjährigen Haftstrafe auf Bewährung und einer Geldbuße von 8500 € verurteilt, weil einer ihrer Patienten den Lebensgefährten seiner Großmutter mit einer Axt getötet hatte und sie zuvor dem Rat von Kollegen nicht nachgekommen war, eine Zwangseinweisung in die Klinik vorzunehmen [2].


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Hier zeigt sich das Spannungsfeld zwischen dem in der Berufsordnung formulierten ärztlichen Selbstverständnis und den gesellschaftlichen Erwartungen. Unterscheidet sich die Psychiatrie von den anderen medizinischen Fachgebieten grundlegend dadurch, dass sie neben der Aufgabe des Heilens auch eine öffentliche Ordnungsfunktion und damit die Interessen Dritter wahrnimmt bzw. wahrzunehmen gezwungen ist? Diese Frage kann auf verschiedenen Ebenen betrachtet werden, mindestens einer historischen, einer philosophischen bzw. ethischen, einer rechtlichen und einer klinisch-praktischen.

Historisch wurde die These von der „Doppelfunktion“ zuerst von Michel Foucault herausgearbeitet [3]. Sie beinhaltet, dass der Staat der Psychiatrie als medizinischer Disziplin das Monopol für die Diagnose und Behandlung der Geisteskrankheiten übertragen hat, ihr zugleich aber damit auch die Aufgabe übertragen hat, unvernünftige, störende und gefährliche Kranke zu versorgen und die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Für die Gründungsphase der deutschen Psychiatrie schrieben Hans Georg Güse und Norbert Schmacke in diesem Sinne: „Im preußischen Deutschland war somit die ‚Irrenreform‘, d. h. die Etablierung einer psychiatrischen Wissenschaft im Gefolge der Einrichtung von Anstalten zur Ausgrenzung und Differenzierung jener nicht integrierbaren Personengruppe eng mit dem obrigkeitlichen Paternalismus, mit einem direkt ordnungspolitischen und geradezu staatstragenden Zweck verbunden …“ [4]. Auch ein Jahrhundert später gehörte das potenziell fremdnützige Denken z. B. bei Emil Kraepelin zum Kernbestand seines psychiatrischen Selbstverständnisses, wenn es etwa in seinem berühmten Lehrbuch heißt: „Es gibt sogar gewisse Gruppen von Kranken, denen an sich der Anstaltsaufenthalt geradezu schadet, wenn auch andererseits mit Rücksicht auf die Umwelt ihre Einschließung unumgänglich erscheint“ [5]. Die Historikerin Cornelia Brink hat in ihrer großen Monografie kürzlich sehr detailliert herausgearbeitet, wie die Ärzte in der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versuchten, die juristische Kontrolle der Anstaltseinweisung zu verhindern und das Gewaltmonopol in dieser Frage, also eben die Doppelfunktion, zu behalten [6]. Die Geschichte der Psychiatrie im 20. Jahrhundert liefert weitere Belege, dass die Psychiatrie zumindest eine immer wieder in Erscheinung tretende Tendenz hat, staatliche Ordnungsfunktionen zu übernehmen. Dazu gehörte z. B. das Entstehen einer Militärpsychiatrie während des Ersten Weltkriegs, die Heilungserfolge bei den „Kriegszitterern“ mit teils barbarischen Mitteln zu erzwingen suchte und sich dafür von Sigmund Freud den Vorwurf der „Maschinengewehre hinter der Front“ einhandelte [7]. Dazu gehörte zuvorderst auch, wegen der Singularität des Vorgangs aber außerhalb aller sonstigen Kontexte stehend, die NS-Psychiatrie, die in Zwangssterilisationen und Massenmorden an psychisch Kranken gipfelte. Ebenfalls eine klare und eindeutig antidemokratische Ordnungsfunktion hatte der Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion. Auch in der DDR kam es zwar nicht systematisch, aber doch zumindest punktuell zu einem ähnlichen Missbrauch im staatlichen Interesse [8]. Von einer „Doppelfunktion“ kann in den letztgenannten Kontexten allerdings nicht mehr die Rede sein, hier handelte es sich ausschließlich um eine Funktionalisierung der Psychiatrie im Interesse Dritter unter Missachtung aller Aspekte des Wohls der anvertrauten Menschen.

Aus medizinethischer Sicht gibt der vielfach zitierte Artikel von Bloch und Green „an ethical framework for psychiatry“ auch in dieser Hinsicht Denkanstöße. In dieser Arbeit werden alle medizinethischen Ansätze an dem fiktiven Fallbeispiel von „Jill, Tim and the baby“ exemplarisch durchgearbeitet [9]. Jill ist psychotisch, Tim der Ehemann, das Baby 10 Wochen alt. Die ethischen Fragestellungen drehen sich um die Ausübung von Zwang, und eine zentrale Rolle spielt dabei nicht nur das Wohl der Mutter, sondern mindestens gleichermaßen das des Babys, das seine Interessen nicht selbst geltend machen kann. Die fremdnützige Sicherungsfunktion ist in diesem Fall also ein zentraler Bestandteil der psychiatrischen Ethik. Die medizinethische Rechtfertigung oder sogar Verpflichtung zur Ausübung von Kontrolle bis hin zum Zwang ergibt sich – ausschließlich – aus der Tatsache, dass psychische Erkrankungen die Fähigkeit der uns anvertrauten Patienten zur autonomen Willensbildung und zum selbstverantwortlichen Handeln erheblich beeinträchtigen können [10].

Rechtlich spiegelt sich dies und damit auch eine Doppelfunktion der Psychiatrie in der Existenz des Maßregelvollzugs, den entsprechenden Gesetzesgrundlagen und in den Gesetzen zur öffentlich-rechtlichen Unterbringung, die jeweils als Grund für eine Unterbringung die Kombination einer psychischen Erkrankung mit Selbst- oder Fremdgefährdung anführen. Ob die forensische Psychiatrie überhaupt einen Doppelauftrag hat, kann man sogar infrage stellen. Gemäß § 67 d StGB ist die Voraussetzung für die Entlassung „dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird“. Der Auftrag der forensischen Psychiatrie besteht in der Verbesserung der Gefährlichkeitsprognose, nicht in einer Verbesserung des psychischen Gesundheitszustands.

In der Praxis schließlich stellt sich die Situation bekanntlich nicht selten so dar, dass insbesondere Angehörige, manchmal aber auch die Polizei und andere öffentliche Stellen mit Empörung und Unverständnis reagieren, wenn wir uns in der klinischen Psychiatrie auf die Sicherungsaufgaben im gesetzlich vorgegebenen Rahmen beschränken und uns für weitergehende Ordnungsfunktionen als nicht zuständig erklären. Die Öffentlichkeit erwartet von uns diesbezüglich häufig mehr, als wir übernehmen wollen und in rechtlicher Hinsicht dürfen. Dabei sind die Umstände verglichen etwa mit Großbritannien noch moderat, wo eine aggressive Boulevardpresse ständig die Gefahr gefährlicher Geisteskranker beschwört und keine Gelegenheit auslässt, behandelnde Psychiater ggf. auch persönlich für vorgefallene Straftaten verantwortlich zu machen.

Nimmt man die geschilderten Aspekte zusammen, lässt sich kaum leugnen, dass die Psychiatrie für einige der in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Patienten (insgesamt eine kleine Minderheit) neben dem Behandlungsauftrag auch einen Sicherungsauftrag hat. Ob man dies als einen primären Doppelauftrag oder als eine wichtige Nebenfunktion ansieht, mag dahingestellt bleiben. Unverkennbar ist aber, dass die Ausdehnung dieser Doppelfunktion eines der heikelsten und stets des kritischen Diskurses bedürfenden Themen der Psychiatrie ist, weil diese stets der Gefahr einer Instrumentalisierung zu politischen, gesellschaftlichen oder auch berufspolitischen Interessen ausgesetzt ist. Andererseits bedeutet der Doppelauftrag auch eine Privilegierung der Patienten, denen damit Schutz vor Strafverfolgung, eine wirksame Behandlung und Rehabilitation zukommen kann anstelle von Kriminalisierung, Viktimisierung und Verelendung. Wenn die Alternative die Situation der USA sein sollte, würde ich den gesetzlich verankerten Doppelauftrag lieber behalten wollen. Sich der Gefahren eines Missbrauchs der Psychiatrie und auch eines Missbrauchs durch die Psychiatrie bewusst zu sein, sollte freilich Teil des Selbstverständnisses eines Psychiaters sein.


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Tilman Steinert
  • Literatur

  • 1 Bundesärztekammer. Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte. Stand: 2011. http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=1.100.1143
  • 2 Dyer C. French psychiatrist is convicted of manslaughter after her patient kills an elderly man. BMJ 2012; 345: e8693
  • 3 Foucault M. Wahnsinn und Gesellschaft. 18.. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 2009
  • 4 Güse HG, Schmacke N. Psychiatrie zwischen bürgerlicher Revolution und Faschismus. Kronberg: Athenäum; 1976: 17
  • 5 Kraepelin E. Psychiatrie. 4.. Auflage, Leipzig: Deuticke; 1893: 238
  • 6 Brink C. Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860 bis 1980. Göttingen: Wallstein; 2010
  • 7 Riedesser P. Militär und Medizin. Materialen zur Kritik der Sanitätsmedizin am Beispiel der Militärpsychiatrie. Das Argument 1974; (Suppl. 04) 231-279
  • 8 Loos H. Psychiatrie im Ost-West-Vergleich: Psychiatrie braucht Öffentlichkeit. Dt Ärztebl 2006; 103: a3464-3467
  • 9 Bloch S, Green SA. An ethical framework for psychiatry. Br J Psychiatry 2006; 188: 7-12
  • 10 Steinert T, Müller J, Finzen A et al. Memorandum der DGPPN zur Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen mit psychischen Störungen. Der Nervenarzt 2012; 83: 1491-1493

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Tilman Steinert
ZfP Südwürttemberg, Leiter des Zentralbereichs Forschung und Lehre, Ärztlicher Direktor der Klinik Weissenau
Weingartshofer Straße 2
88214 Ravensburg

  • Literatur

  • 1 Bundesärztekammer. Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte. Stand: 2011. http://www.bundesaerztekammer.de/page.asp?his=1.100.1143
  • 2 Dyer C. French psychiatrist is convicted of manslaughter after her patient kills an elderly man. BMJ 2012; 345: e8693
  • 3 Foucault M. Wahnsinn und Gesellschaft. 18.. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp; 2009
  • 4 Güse HG, Schmacke N. Psychiatrie zwischen bürgerlicher Revolution und Faschismus. Kronberg: Athenäum; 1976: 17
  • 5 Kraepelin E. Psychiatrie. 4.. Auflage, Leipzig: Deuticke; 1893: 238
  • 6 Brink C. Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860 bis 1980. Göttingen: Wallstein; 2010
  • 7 Riedesser P. Militär und Medizin. Materialen zur Kritik der Sanitätsmedizin am Beispiel der Militärpsychiatrie. Das Argument 1974; (Suppl. 04) 231-279
  • 8 Loos H. Psychiatrie im Ost-West-Vergleich: Psychiatrie braucht Öffentlichkeit. Dt Ärztebl 2006; 103: a3464-3467
  • 9 Bloch S, Green SA. An ethical framework for psychiatry. Br J Psychiatry 2006; 188: 7-12
  • 10 Steinert T, Müller J, Finzen A et al. Memorandum der DGPPN zur Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen mit psychischen Störungen. Der Nervenarzt 2012; 83: 1491-1493

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