Psychiatr Prax 2013; 40(06): 305-306
DOI: 10.1055/s-0033-1343217
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ordnungspolitische Funktion der Psychiatrie – Kontra

Social Control Function of Psychiatry – Contra
Thomas Pollmächer
Direktor des Zentrums für psychische Gesundheit, Ingoldstadt
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Prof. Dr. Thomas Pollmächer
Direktor des Zentrums für psychische Gesundheit
Krumenauerstraße 25
85049 Ingolstadt

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Publication Date:
05 September 2013 (online)

 

Kontra

Die gesamte Medizin, und damit auch die Psychiatrie und Psychotherapie, folgt einem gemeinsamen moralischen Kodex, der stets das Individuum in sein Zentrum stellt. Die Prinzipien der Selbstbestimmung, des Nicht-Schadens, der Fürsorge und der Gerechtigkeit bilden die Grundlage des Handeln aller Ärzte und jedes Psychiaters [1]. Dies war nicht immer so, denn bis über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinaus haben paternalistische Grundsätze die Medizin bestimmt.


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Medizinischer Paternalismus war, obwohl er auch Gutes bewirkt haben mag, eine wesentliche Voraussetzung für die weitverbreitete und folgenschwere Missachtung der Selbstbestimmung gerade auch psychiatrischer Patienten im Dritten Reich. Schon deshalb gilt zumindest seit den 60er-Jahren unzweifelhaft, dass medizinische Maßnahmen niemals nur dem Wohl Dritter dienen, sondern immer dem Patienten selbst. Dieser Grundsatz schließt eine ordnungspolitische Funktion der Psychiatrie kategorisch aus, insofern man darunter (staatliche) Maßnahmen versteht, die der Aufrechterhaltung und der Regelung der inneren und äußeren Ordnung, der (Rechts-)Sicherheit und des Wirtschaftslebens dienen [2].

Auf den ersten Blick scheint diese Behauptung der tatsächlichen gesellschaftlichen Rolle der Psychiatrie zu widersprechen, werden doch im Zusammenhang mit der Unterbringung und Behandlung von Patienten gegen ihren Willen psychiatrischen Einrichtungen und ihren ärztlichen Leitern Befugnisse übertragen, die sonst allein staatlichen Stellen wie Polizei und Justizbehörden vorbehalten sind. Die Übertragung solcher Befugnisse auf Ärzte, die es ihnen ermöglicht Patienten in ihrer Freiheit zu beschränken und in bestimmten Situationen sogar gegen ihren Willen zu behandeln, kann aber nur dann als Hinweis auf eine ordnungspolitische Funktion der Psychiatrie gewertet werden, wenn diese Maßnahmen nicht im Interesse des Patienten, sondern ausschließlich im Interesse einzelner Dritter oder der Gesellschaft durchgeführt werden.

Da Unterbringungs- und Behandlungsmaßnahmen, die betreuungsrechtlich legitimiert sind, ausschließlich der Abwendung von Gefahren für das Leben und die Gesundheit des Patienten selbst und damit seinem Wohl dienen (sollen), kommt ihnen, sofern sie nicht missbräuchlich angewendet werden, keine ordnungspolitische Funktion zu. Eine betreuungsrechtliche Unterbringung und Behandlung zum Wohle Dritter ist nicht statthaft. Auf den ersten Blick anders verhält es sich bei öffentlich-rechtlichen oder strafrechtlich-forensischen Unterbringungen. Nach bayrischem Unterbringungsrecht z. B., kann ohne oder gegen seinen Willen in einem psychiatrischen Krankenhaus oder sonst in geeigneter Weise untergebracht werden „wer psychisch krank oder infolge Geistesschwäche oder Sucht psychisch gestört ist und dadurch in erheblichem Maß die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährdet“ (BayUnterbrG [3] § 1,1). Zweck der Unterbringung ist es allerdings eben nicht nur, der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu begegnen, sondern auch, den Patienten zu behandeln. Nach § 13 BayrUnterbrG hat der Untergebrachte sogar einen Anspruch auf Behandlung. Gleiches gilt für schuldunfähige psychisch Kranke, die nach § 63 oder § 64 StGB untergebracht sind.

Unstrittig ist, dass untergebrachte Patienten, wenn sie einwilligungsfähig sind und behandelt zu werden wünschen, entsprechend auch behandelt werden sollten. Die Behandlung einwilligungsunfähiger öffentlich-rechtlich oder strafrechtlich untergebrachter Patienten ohne oder gegen ihren natürlichen Willen scheint aus medizinischer Sicht dann und nur dann gerechtfertigt, wenn im Interesse des Patienten eine Indikation zur Behandlung besteht und keine Hinweise darauf vorliegen (z. B. in einer Patientenverfügung), dass der Patient nicht einwilligen würde, wenn er frei entscheiden könnte. Die Selbstbestimmung und das Wohl des Patienten sind hierbei die Richtschnur. Das Wohl des Patienten kann in diesem Zusammenhang neben dem Schutz des Patienten vor Selbstschädigung auch die Abwehr von Gefahren für Dritte einschließen, wenn diese Gefahr kausal durch die Erkrankung bedingt ist, die behandelt werden soll. Eine Behandlung von Patienten gegen ihren freien Willen oder im ausschließlichen Interesse Dritter scheidet aber aus medizinischer Sicht grundsätzlich aus.

Hieraus folgt umgekehrt, dass schon allein die Unterbringung eines Menschen in einem psychiatrischen Krankenhaus, unabhängig davon, auf welcher Rechtgrundlage sie erfolgt, nur dann gerechtfertigt ist, wenn dort für diesen Menschen etwas medizinisch Sinnvolles getan werden kann. Die Unterbringung und Sicherung ausschließlich zur Abwehr von Gefahren für Dritte von Menschen, für die medizinische Hilfe nicht möglich ist, stellt in der Tat eine ordnungspolitische Aufgabe dar, aber eben keine, die die Psychiatrie als medizinischer Fachdisziplin übernehmen kann und sollte. Für Menschen, die psychisch krank sind, ist dann eine medizinische Hilfe nicht möglich, wenn sie a) einwilligungsfähig sind und eine Behandlung ablehnen oder wenn sie b) einwilligungsunfähig sind, aber zuvor im einwilligungsfähigen Zustand (z. B. durch eine Patientenverfügung) eine Behandlung abgelehnt haben oder c) wenn sie einwilligungsunfähig sind und die Nachteile einer Behandlung deren Vorteile überwiegen. Hilfe ist schließlich auch dann nicht möglich, wenn d) für die entsprechende psychische Erkrankung keine effektive Behandlung zur Verfügung steht.

Eine konsequente Anwendung dieser Grundsätze würde dazu führen, dass die Zahl der Unterbringungen in psychiatrischen und forensisch-psychiatrischen Einrichtungen deutlich zurückgeht. Es ist in der Tat ein ordnungspolitisch-gesellschaftliches Problem, welche Hilfen den betroffenen Menschen stattdessen angeboten werden können und mit welchen Mitteln die Gesellschaft der Gefährdung Dritter durch solche Menschen begegnet. Es kann und darf aber nicht sein, dass Menschen ausschließlich deshalb in psychiatrischen Krankenhäusern verwahrt werden, um die Gesellschaft vor Ihnen zu schützen. Aus diesem Grund wurde zu Recht das 2010 erlassene Therapieunterbringungsgesetz [4] heftig kritisiert, welches die Unterbringung zunächst sicherungsverwahrter schuldfähiger Straftäter in psychiatrischen Einrichtungen selbst dann ermöglicht, wenn eine Behandlung nicht erfolgen kann. Dieses Gesetz stellt in der Tat den Versuch dar, die Psychiatrie für ordnungspolitische Zwecke zu missbrauchen und kann aus medizinischer Sicht deshalb nicht gebilligt werden.

Zusammenfassend sind Psychiater unter Beachtung der geltenden gesetzlichen Regelungen berechtigt und verpflichtet im Rahmen der Behandlung Patienten davor zu schützen sich selbst oder Dritten zu schaden. Hierbei handelt es sich aber um eine Sicherungspflicht zum Wohle des Patienten, die keine ordnungspolitische Funktion impliziert. Ausschließlich zum Wohle Dritter und der Gesellschaft kann und darf die Psychiatrie wie jede andere medizinische Disziplin aber nicht handeln.


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