Pneumologie 2013; 67(08): 442-447
DOI: 10.1055/s-0033-1344341
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Häufigkeit thromboembolischer Komplikationen bei Patienten mit Lungenkarzinom[*]

Frequency of Thromboembolic Complications in Patients with Lung Cancer
C. Crolow
1   Klinik für Pneumologie, Lungenklinik Heckeshorn, HELIOS Klinikum Emil von Behring, Berlin (Prof. Dr. Torsten T. Bauer)
,
M. Samulowski
1   Klinik für Pneumologie, Lungenklinik Heckeshorn, HELIOS Klinikum Emil von Behring, Berlin (Prof. Dr. Torsten T. Bauer)
,
T. Blum
1   Klinik für Pneumologie, Lungenklinik Heckeshorn, HELIOS Klinikum Emil von Behring, Berlin (Prof. Dr. Torsten T. Bauer)
,
J. Kollmeier
1   Klinik für Pneumologie, Lungenklinik Heckeshorn, HELIOS Klinikum Emil von Behring, Berlin (Prof. Dr. Torsten T. Bauer)
,
N. Schönfeld
1   Klinik für Pneumologie, Lungenklinik Heckeshorn, HELIOS Klinikum Emil von Behring, Berlin (Prof. Dr. Torsten T. Bauer)
,
R. C. Bittner
2   Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie, HELIOS Klinikum Emil von Behring, Berlin (Dr. Roland C. Bittner)
,
J. Behr
3   Asklepios Fachkliniken München-Gauting und Medizinische Klinik V, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München, Comprehensive Pneumology Center Munich (CPC-M), Mitglied des Deutschen Zentrums für Lungenforschung (DZL) (Prof. Dr. Jürgen Behr)
,
T. T. Bauer
1   Klinik für Pneumologie, Lungenklinik Heckeshorn, HELIOS Klinikum Emil von Behring, Berlin (Prof. Dr. Torsten T. Bauer)
,
W. Grüning
4   Klinik für Pneumologie, HELIOS Kliniken Schwerin, Schwerin (Dr. Wolfram Grüning)
› Author Affiliations
Further Information

Korrespondenzadresse

Dr. med. Wolfram Grüning
Klinik für Pneumologie
HELIOS Kliniken Schwerin
Wismarsche Straße 393-397
19049 Schwerin

Publication History

eingereicht18 March 2013

akzeptiert nach Revision03 June 2013

Publication Date:
08 July 2013 (online)

 

Zusammenfassung

Hintergrund: Thromboembolische Komplikationen bei Lungenkrebspatienten gelten als häufig, jedoch liegen nur wenige Daten über deren Inzidenz vor. Zur Klärung der Häufigkeit thromboembolischer Ereignisse im arteriellen und venösen System wurden die in unserem Hause mit einem Lungenkarzinom diagnostizierten Patienten retrospektiv bezüglich des Auftretens thromboembolischer Ereignisse ausgewertet.

Patienten/Methode: Alle Patienten mit Erstdiagnose eines Lungenkarzinoms wurden seit 1/2008 prospektiv erfasst und hier bis 12/2010 retrospektiv bezüglich thromboembolischer Komplikationen im venösen und arteriellen System ausgewertet unter Berücksichtigung von Tumorstadium, Histologie und platinhaltiger Chemotherapie. Bei den venösen thromboembolischen Komplikationen wurden Lungenarterienembolien und tiefe Venenthrombosen berücksichtigt, bei den arteriellen thromboembolischen Komplikationen Myokardinfarkt, mesenteriale Ischämie, peripher-arterielle Ischämie, Nierenarterienischämie und ischämischer Apoplex.

Ergebnisse: In den 36 Monaten wurde in unserem Zentrum bei 1940 Patienten (1209 Männer, 731 Frauen) die Erstdiagnose eines Lungenkarzinoms gestellt, 156 kleinzellige Lungenkarzinome (SCLC; 8 %) und 1784 nichtkleinzellige Lungenkarzinome (NSCLC; 92 %). Insgesamt traten bisher bei 190/1940 Patienten (9,8 %) thromboembolische Komplikationen auf; bei 148/190 (78 %) venöse und bei 51/190 (27 %) arterielle thromboembolische Komplikationen. Wir dokumentierten 82/148 (55 %) tiefe Venenthrombosen, 98/148 (66 %) Lungenarterienembolien sowie arterielle thromboembolische Ereignisse: ischämischer Apoplex 23/51 (45 %), Koronararterien 14/51 (28 %), Extremitätenarterien 12/51 (24 %), Mesenterialarterien 4/51 (7,8 %), extrakranielle hirnversorgende Arterien 3/51 (5,9 %).

Diskussion/Schlussfolgerungen: Thromboembolische Ereignisse sind eine häufige Komplikation bei Patienten mit Lungenkarzinom. Auf dem Boden dieser Ergebnisse sollte der Stellenwert einer entsprechenden Primärprophylaxe erneut diskutiert werden.


Abstract

Background: Clinicians are frequently confronted by thromboembolic events in patients with lung cancer, yet few data are available about their incidence. In order to obtain data on the frequency of thromboembolic events in the venous and arterial systems, all patients with lung cancer diagnosed in our hospital were retrospectively evaluated with regard to such an event.

Patients/Methods: All patients with a primary diagnosis of lung cancer between January 2008 and December 2010 were prospectively recorded within our tumour registry and retrospectively evaluated with regard to tumour stage, histology and platinum-based chemotherapy. Thromboembolic complications of the arterial and the venous system were included (pulmonary embolism, deep venous thrombosis, myocardial infarction, mesenterial ischaemia, acute limb ischaemia, ischaemia of the renal artery and ischaemic stroke).

Results: Within those 36 months 1940 patients (1209 men, 731 women) were diagnosed with lung cancer. SCLC and NSCLC in 156 (8 %) and 1784 cases (92 %), respectively. Thromboembolic events were documented in 190/1940 (9.8 %) cases, venous thromboembolic complications in 148/190 patients (78 %), arterial thromboembolic complications in 51/190 patients (27 %). We documented 82/148 (55 %) deep venous thrombosis, 98/148 (66 %) pulmonary embolisms and arterial thromboembolic events: ischaemic stroke 23/51 (45 %), coronary arteries 14/51 (28 %), peripheral arteries 12/51 (24 %), mesenterial arteries 4/51 (7.8 %), extracranial cerebral arteries 3/51 (5.9 %).

Conclusions: Thromboembolic complications are a common event in patients with lung cancer. Thus, the benefit of primary prevention anticoagulation in lung cancer patients should be prospectively evaluated.


Abkürzungsverzeichnis

ATE: arterielles thromboembolisches Ereignis
KIS: Krankhausinformationssoftware
LAE: Lungenarterienembolie
TVT: tiefe Venenthrombose
TE: thromboembolisches Ereignis
VTE: venöses thromboembolisches Ereignis

Hintergrund

Ein thromboembolisches Ereignis (TE) ist eine häufige Komplikation bei Patienten mit einer Krebserkrankung [1] [2] [3]. Ein TE kann als arterielles thromboembolisches Ereignis (ATE) im arteriellen Stromgebiet auftreten und als Myokardinfarkt, ischämischer Schlaganfall oder Embolie der peripheren Gefäße, der Mesenterialgefäße, der Nierenarterien oder der Karotiden symptomatisch werden. Im venösen Stromgebiet (venöses thromboembolisches Ereignis, VTE) kann eine tiefe Venenthrombose (TVT), zumeist der Beinvenen, und/oder eine Lungenarterienembolie (LAE) auftreten.

In der Allgemeinbevölkerung beträgt die Inzidenz einer VTE ungefähr 117/100 000/Jahr (0,12 %), während sie sich bei Patienten mit einer Krebserkrankung auf etwa 1/200 /Jahr (0,5 %) erhöht [4] [5]. In einer großen Kohortenstudie konnte für die Krebserkrankung alleine ein 4,1-fach erhöhtes Risiko gezeigt werden, ein TE zu erleiden [1]. Der Zusammenhang zwischen Karzinomerkrankung und Thrombose wurde erstmalig 1865 von Trousseau beschrieben [6]. Das TE bei Karzinompatienten ist eng mit der Prognose verknüpft. Eine Autopsiestudie konnte bereits in den 80er-Jahren eine Tendenz zum aggressiveren Verlauf einer LAE bei Patienten mit einer Krebserkrankung zeigen. LAE waren häufiger tödlich in Zusammenhang mit einer Krebserkrankung (14 % letale Verläufe versus 8 % in der Allgemeinbevölkerung) [7]. Es ist mittlerweile allgemein akzeptiert, dass ein TE ein erstes Anzeichen für eine bis dahin noch nicht diagnostizierte Tumorerkrankung sein kann [8]. Dieser Zusammenhang wird in der aktuellen Leitlinie zur „Diagnostik und Therapie der Venenthrombose und der Lungenembolie“ berücksichtigt und insbesondere bei älteren Patienten mit idiopathischer Thrombose eine Tumorsuche empfohlen [9].

Solide Tumoren, u. a. Pankreas-, Lungen-, Kolon-, Ovarial-, primäre Leber- und Hirnkarzinome, haben ein erhöhtes TE-Risiko [10] [11]. Dies wird durch Risikofaktoren wie Alter, Geschlecht, Bettlägerigkeit, zentralvenöse Katheter, Operationen, Bestrahlung und bestimmte tumorspezifische Therapien weiter erhöht [12] [13]. So berichteten Heit et al. [1] z. B. über eine Erhöhung des VTE-Risikos vom 4-fachen auf mehr als das 6-fache durch eine zytotoxische oder immunsuppressive Therapie.

Die tumorassoziierte Aktivierung des Gerinnungssystems hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. So kommt es u. a. durch das Tumorwachstum zu einer vermehrten Ausschüttung von Zytokinen wie TNF-α oder IL-1 und nachfolgend zu einer Antwort des inflammatorischen Systems und zum Ablauf der Gerinnungskaskade [14].

Patienten mit einer Lungenkrebserkrankung haben eine begrenzte Lebenserwartung, die durch ein TE potenziell weiter verkürzt werden kann. Daher ist es von prognostischer Relevanz, die Häufigkeit von ATE und VTE bei Patienten mit einer Lungenkrebserkrankung zu kennen. Um die Größenordnung dieses Problems abschätzen zu können, haben wir die Daten aller Patienten mit Lungenkrebs in unserem Zentrum bezüglich eines TE ausgewertet.


Material und Methoden

Patienten

Alle Patienten der Lungenklinik Heckeshorn im HELIOS Klinikum Emil von Behring mit Erstdiagnose eines Lungenkarzinoms zwischen dem 1.1.2008 und dem 31.12.2010 wurden prospektiv in einer Datenbank erfasst und retrospektiv bezüglich arterieller und/oder venöser thromboembolischer Ereignisse (TE) ausgewertet. Zusätzlich wurden Tumorstadium, Histologie und platinhaltige Chemotherapie berücksichtigt. Um die Patienten mit einer VTE oder ATE zu erfassen, wurden die in diesem Zeitraum stationär mit einem solchen Ereignis behandelten Patienten aus dem Krankenhausinformationssystem (KIS; SAP for Healthcare, SAP AG, Walldorf) herausgefiltert und mit der Tumordatenbank abgeglichen. Es wurde die „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modifikation (ICD-10-GM)“ der Jahre 2008, 2009, 2010 unter Abfrage folgender ICD-10-Codes verwendet: I26.- (Lungenembolie), I80.- (Thrombose, Phlebitis und Thrombophlebitis), I81 (Pfortaderthrombose), I82.- (sonstige venöse Embolie und Thrombose), I21.- (Akuter Myokardinfarkt), N28.0 (Ischämie und Infarkt der Niere), K55.0 (Akute Gefäßkrankheiten des Darms, I65.2 (Verschluss und Stenose der Arteria Carotis), I63.- (Hirninfarkt), I74.- (Arterielle Embolie und Thrombose).

Die über die ICD10-Abfrage gefundenen TE wurden zusätzlich durch eine erneute Begutachtung und Wertung der in dem KIS vorliegenden radiologischen, laborchemischen, kardiologischen und angiologischen Befunde überprüft. Eine Lungenarterienembolie wurde in der Pulmangio-Computertomografie oder bei Kontrastmittelallergie durch eine Perfusions-/Ventilationsszintigrafie der Lunge diagnostiziert. Eine tiefe Venenthrombose wurde mittels farbduplexkodiertem Kompressionsultraschall belegt. Ein Myokardinfarkt wurde laborchemisch, elektrokardiografisch und/oder im Herzkatheter gesichert, eine mesenteriale Ischämie und eine Nierenarterienischämie radiologisch mittels Angiografie oder MR-Angiografie. Eine peripher-arterielle Ischämie wurde farbduplexsonografisch oder angiografisch nachgewiesen. Ein ischämischer Schlaganfall wurde bei eindeutiger Klinik und radiologisch mittels Computertomografie bzw. Magnetresonanztomografie diagnostiziert.

Die applizierte Chemotherapie wurde dem KIS und aus den Arztbriefen entnommen. Bezüglich eines möglichen Zusammenhangs zwischen TE und Chemotherapie wurden bis zu 3 Monate zwischen Gabe der Chemotherapie und Auftreten eines TE als zeitlicher Zusammenhang gewertet.


Statistische Auswertung

Die epidemiologischen Daten wurden mittels des Gießener Tumordokumentationssystem (GTDS) erfasst. Für kategorische Variablen wurde die Häufigkeit des Ereignisses ermittelt und mittels Chi Quadrat Test verglichen. Bei kontinuierlichen Variablen wurde der Mittelwert ± Standardabweichung angegeben. Es wurde ein Signifikanzniveau von 5 % angenommen. Alle statistischen Berechnungen wurden mittels EpiInfo (Vers. 6.0) durchgeführt.



Ergebnisse

Im Auswertungszeitraum (2008 – 2010) wurden in unserem Zentrum bei 1940 Patienten (1209 Männer, 731 Frauen) die Erstdiagnose eines Lungenkarzinoms gestellt. Die Patienten waren im Mittel 66,2 ± 9 Jahre alt. Wir diagnostizierten 1784/1940 (92 %) nichtkleinzellige Lungenkarzinome (NSCLC) und 156/1940 (8 %) kleinzellige Lungenkarzinome (SCLC). Insgesamt trat bei 190/1940 Patienten (9,8 %) während der beobachteten 36 Monate mindestens ein TE auf. Hiervon hatten 148/190 (78 %) Patienten ein VTE und 51/190 (27 %) Patienten eine ATE, 9/190 (4,7 %) Patienten hatten sowohl ein VTE als auch ein ATE ([Tab. 1] und [Tab. 2]).

Tab. 1

Häufigkeit thromboembolischer Ereignisse unter Berücksichtigung demographischer und klinischer Charakteristika.

gesamt

(%)

kein TE

(%)

TE

(%)

P-Wert

gesamt

1940

1750

190

weiblich

731/1940

(38)

656/731

(90)

75/731

(10)

0,591

männlich

1209/1940

(62)

1094/1209

(90)

115/1209

(61)

Alter (Jahre)

66,2 (19,2 – 93,1)

66,4 (19,2 – 93,1)

64,1 (37,2 – 88,3)

Histologie

SCLC

156 /1940

(8)

133/156

(85)

23/156

(15)

0,030

NSCLC

1784/1940

(92)

1617/1784

(91)

167/1784

(9)

Adenokarzinom

833/1940

(43)

751/833

(90)

82/833

(10)

0,0108

Plattenepithelkarzinom

500/1940

(26)

470/500

(94)

30/500

(6)

großzelliges LC

144/1940

(7)

126/144

(88)

18/144

(12)

sonstige NSCLC

307/1940

(16)

270/307

(88)

37/307

(12)

Stadium

I

334/1940

(17)

323/334

(97)

11/334

(3)

 < 0,001

II

206/1940

(11)

198/206

(96)

8/206

(4)

III

547/1940

(28)

478/547

(87)

69/547

(13)

IV

818/1940

(42)

720/818

(88)

98/818

(12)

unbekannt

35/1940

(2)

31/35

(89)

4/35

(11)

TE: thromboembolisches Ereignis, NSCLC; nichtkleinzelliges Lungenkarzinom, LC: Lungenkarzinom, SCLC: kleinzelliges Lungenkarzinom.

Tab. 2

Häufigkeit venöser und arterieller thromboembolischer Ereignisse unter Berücksichtigung demographischer und klinischer Charakteristika. 9 Patienten haben sowohl venöse als auch arterielle thromboembolische Ereignisse erlitten.

TE

(%)

VTE

(%)

ATE

(%)

P-Wert

Gesamtzahl

190

148

51

weiblich

75/190

(39)

60/75

(80)

19/75

(25)

0,679

männlich

115/190

(61)

88/115

(77)

32/115

(28)

Alter (Jahre)

64,1 (37,2 – 88,3)

63,5 (39,8 – 88,3)

66,0 (44,3 – 88,3)

Histologie

SCLC

23/190

(12)

18/23

(78)

5/23

(22)

0,650

NSCLC

167/190

(88)

130/167

(78)

46/167

(28)

Adenokarzinom

82/190

(43)

66/82

(80)

23/82

(28)

0,897

Plattenepithelkarzinom

30/190

(16)

21/30

(70)

11/30

(37)

großzelliges LC

18/190

(10)

14/18

(78)

4/18

(22)

sonstige NSCLC

37/190

(19)

29/37

(78)

8/37

(22)

Stadium

I

11/190

(6)

7/11

(64)

4/11

(36)

0,684

II

8/190

(4)

7/8

(88)

2/8

(25)

III

69/190

(36)

56/69

(81)

17/69

(25)

IV

98/190

(52)

76/98

(78)

26/98

(27)

unbekannt

4/190

(2)

2/4

(50)

2/4

(50)

ATE: arterielles thromboembolisches Ereignis, VTE: venöses thromboembolisches Ereignis, NSCLC; nichtkleinzelliges Lungenkarzinom, LC: Lungenkarzinom, SCLC: kleinzelliges Lungenkarzinom.

In der Gruppe der Patienten mit einer VTE dokumentierten wir 82/148 (55 %) TVT und 98/148 (66 %) LAE. 32/148 (22 %) Patienten hatten sowohl eine TVT als auch eine LAE. Zum Zeitpunkt der Erstdiagnose hatten 39/148 (26 %) ein VTE, im Verlauf der Tumorerkrankung entwickelten 113/148 (76 %) der Patienten ein VTE (s. [Tab. 2] und [Tab. 3]).

Tab. 3

Häufigkeit thromboembolischer Ereignisse unter Berücksichtigung der Lokalisation der thromboembolischen Ereignisse und des Zeitpunkt des Auftretens des thromboembolischen Ereignisses, ob zum Zeitpunkt der Erstdiagnose oder im weiteren Verlauf der Tumorerkrankung. Ein Teil der Patienten hat thromboembolische Ereignisse sowohl zum Zeitpunkt der Erstdiagnose als auch im Verlauf erlitten sowie in mehreren Lokalisationen.

Betroffenes Stromgebiet

alle TE

(%)

TE bei Erstdiagnose

(%)

TE im Verlauf

(%)

Anzahl Patienten mit TE

190

42/190

(22)

157/190

(83)

VTE

148/190

(78)

39/190

(21)

113/190

(59)

LAE

98/190

(52)

28/190

(15)

71/190

(37)

TVT

82/190

(43)

25/190

(13)

58/190

(31)

ATE

51/190

(27)

4/190

(2)

50/190

(26)

Koronararterien

14/190

(7)

keine

14/190

(7)

PAVK

12/190

(6)

2/190

(1)

11/190

(6)

Karotiden

3/190

(2)

keine

3/190

(2)

ischämischer Schlaganfall

23/190

(12)

2/190

(1)

21/190

(11)

Nierenarterien

keine

keine

keine

Mesenterialarterien

4/190

(2)

keine

4/190

(2)

Gesamtzahl der Ereignisse

199

43

163

TE: thromboembolisches Ereignis, ATE: arterielles thromboembolisches Ereignis, VTE: venöses thromboembolisches Ereignis, LAE: Lungenarterienembolie, TVT: tiefe Venenthrombose, PAVK; periphere arterielle Verschlusskrankheit.

Bei den Patienten mit einer ATE (n = 51) dokumentierten wir 23/51 (45 %) ischämische Insulte, gefolgt von 14/51 (28 %) Myokardinfarkten, 12/51 (24 %) peripher-arteriellen Ereignissen, 4/51 (7,8 %) mesenterialen Ischämien und 3/51 (5,9 %) Ereignissen in den extrakraniellen hirnversorgenden Gefäßen. In den Nierengefäßen sahen wir kein ATE. 50/51 (98 %) der ATE traten im Verlauf der Erkrankung auf. Zum Zeitpunkt der Erstdiagnose sahen wir 4/51 (7,8 %) ATE. Wiederholte Ereignisse (bei Erstdiagnose und im weiteren Verlauf der Tumorerkrankung) hatten 3/51 (5,9 %) der Patienten ([Tab. 2] und [Tab. 3]).

In der Gesamtgruppe der analysierten Patienten hatten 833/1940 Patienten (43 %) ein Adenokarzinom, 500/1940 (26 %) ein Plattenepithelkarzinom, 144/1940 (7,8 %) ein großzelliges Lungenkarzinom, 307/1940 (16 %) ein NSCLC mit anderer Histologie und 156/1940 (8,0 %) ein SCLC. Diese Verteilung stellte sich in der Untergruppe der Patienten mit einer TE anders dar: Hier war der Anteil der Patienten mit Adenokarzinom identisch (82/190, 43 %; p = 0,953), jedoch waren Patienten mit einem Plattenepithelkarzinom unterrepräsentiert (30/190, 16 %; p = 0.0108). Die Anteile von Patienten mit einem großzelligen Lungenkarzinom (18/190, 9,5 %; p = 0.308) und NSCLC anderer Histologien (37/190, 20 %; p = 0.192) waren vergleichbar. Es lag ein nicht signifikanter Trend vor, dass Patienten mit einem kleinzelligen Karzinom häufiger ein TE erlitten (23/148, 12 %; p = 0,030) ([Tab. 1]).

Das Stadium war ein unabhängiger Risikofaktor, ein TE zu entwickeln (p < 0,001). So hatten Patienten im Stadium III (69/547, 13 %) und Stadium IV (98/818,12 %) häufiger ein TE als im Stadium I (11/224, 3 %) und Stadium II (8/206, 4 %) ([Tab. 1]).

Eine Analyse der Subgruppe von Patienten mit mehrfachen Embolieereignissen war nicht aussagekräftig aufgrund der geringen Größe des Kollektivs. 9 Patienten erlitten sowohl ein ATE als auch ein VTE, 4 Patienten mehr als ein ATE und 4 Patienten ein VTE bei Erstdiagnose und im Verlauf. Prognostische Indikatoren (z. B. Histologie oder Chemotherapie), um möglicherweise besonders gefährdete Patienten zu identifizieren, konnten daher nicht benannt werden.

In der Gruppe der Patienten mit einem TE (ATE und VTE) erhielten insgesamt 160/190 Patienten (84 %) eine Chemotherapie und hiervon 158/190 Patienten (83 %) eine platinhaltige Chemotherapie. Einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Gabe der platinhaltigen Chemotherapie und Auftreten des TE nach oben genannter Definition sahen wir bei 116/190 (61 %) der Patienten ([Tab. 4]).

Tab. 4

Thromboembolische Ereignisse unter Berücksichtigung einer applizierten Chemotherapie.

TE

(%)

VTE

(%)

ATE

(%)

P-Wert

Gesamtzahl

190

148

51

Chemotherapie

160/190

(84)

127/148

(86)

41/51

(80)

platinhaltige Chemotherapie

158/190

(83)

125/148

(84)

41/51

(80)

0,815

durchschnittliche Anzahl der Zyklen

5,8 (1 – 14)

4,5 (1 – 14)

3,2 (1 – 10)

zeitlicher Zusammenhang

116/190

(61)

95/148

(64)

28/51

(55)

TE: thromboembolisches Ereignis, ATE: arterielles thromboembolisches Ereignis, VTE: venöses thromboembolisches Ereignis.


Diskussion/Schlussfolgerungen

Die wesentlichen Ergebnisse dieser Arbeit sind:

  1. Thromboembolische Ereignisse (TE) traten bei Patienten mit einer Lungenkrebserkrankung in 9,8 % der Fälle auf.

  2. Dieses traf sowohl auf venöse thromboembolische Ereignisse (VTE) als auch auf arterielle thromboembolische Ereignisse (ATE) zu.

  3. Patienten mit einem Plattenepithelkarzinom waren in der Gruppe der Patienten mit thromboembolischen Ereignissen unterrepräsentiert.

Patienten mit einer Krebserkrankung haben ein höheres Risiko, eine thromboembolische Komplikation zu erleiden als die allgemeine Bevölkerung. Die kumulative Inzidenz für eine thromboembolische Komplikation ist bei Tumorpatienten in den ersten sechs Monaten nach Diagnosestellung deutlich erhöht [3]. Für Patienten mit einem Lungenkarzinom konnte ein 20-fach erhöhtes Risiko einer venösen thromboembolischen Komplikation gezeigt werden [15], verlässliche Zahlen außerhalb von klinischen Studien für arterielle und venöse Komplikationen fehlten jedoch bisher [1] [15]. In unserem Kollektiv erlitt jeder 10. Patient in den 36 Monaten des Beobachtungszeitraumes ein thromboembolisches Ereignis. Es gibt Hinweise, dass das individuelle Risiko weiter durch Fernmetastasen und Chemotherapie, alleine oder in der Kombination, erhöht wird [1] [15] [16]. Auch in dem von uns untersuchten Kollektiv bestätigte sich dieses. So erhielten deutlich mehr als die Hälfte der Patienten mit einer thromboembolischen Komplikation eine platinhaltige Chemotherapie im zeitlichen Zusammenhang (62 %).

Neben den bekannten venösen Komplikationen besteht bei Patienten mit einer Krebserkrankung ebenfalls das Risiko, eine arterielle Komplikation (ATE) zu entwickeln. Im Jahr 2008 betrug die Prävalenz in den USA für einen Myokardinfarkt 3,1 % in der Allgemeinbevölkerung und für einen Schlaganfall 3,0 % [17]. In Deutschland konnte eine Lebenszeitprävalenz von 2 350/100 000 für einen Myokardinfarkt in der Altersgruppe der 18- bis unter 80-Jährigen und eine Inzidenz an nichtletalen Myokardinfarkten in der männlichen Bevölkerung von 330/100 000 akuten Infarktereignisse für eine 12 Monatsperiode im Jahr 1997/1998 dokumentiert werden; bei der gleichaltrigen weiblichen Bevölkerung sind es etwa 270/100 000 akute Myokardinfarktereignisse [18]. Für Tumorpatienten gibt es im Gegensatz zu venösen Komplikationen aber nur eine sehr begrenzte Zahl von Studien, die sich mit der Häufigkeit der arteriellen Thromboembolie beschäftigt haben. Die Studie von Khorana und Mitarbeitern konnte bei neutropenischen Krebspatienten eine Häufigkeit für ein arterielles Ereignis von 1,47 % zeigen (akutes Koronarsyndrom 0,8 %, akuter Schlaganfall 0,5 % und arterielle Embolie 0,2 %) [19]. Das Risiko für ein ATE war hier insbesondere für Patienten mit Prostatakrebs (3,87 %), Lungenkrebs (2,81 %) und Blasenkrebs (2,78 %) erhöht [19]. Die Studie von Khorana war im Beobachtungszeitraum auf den stationären Aufenthalt beschränkt, demgegenüber kommen wir in unserer Studie zu vergleichbaren Häufigkeiten mit 2,6 % arteriellen Komplikationen bei Patienten mit Lungenkrebs.

Während die Studie von Khorana et al. unterschiedliche TE-Häufigkeiten bei unterschiedlichen Krebsarten dokumentiert, ist bei Patienten mit Lungenkrebs von Interesse, ob die TE-Häufigkeit bei den verschiedenen Histologien differiert. Eine Studie unterstützte die Hypothese, dass Patienten mit einem Adenokarzinom der Lunge ein höheres Risiko für ein thromboembolisches Ereignis haben als z. B. Patienten mit einem Plattenepithelkarzinom [15]. Dieses bestätigte sich in dem von uns untersuchten Kollektiv nur indirekt, da Patienten mit einem Plattenepithelkarzinom in der Gruppe der TE-Patienten unterrepräsentiert waren. Zusätzlich sahen wir einen Trend zu einer größeren Häufigkeit von TE-Ereignissen bei Patienten mit einem kleinzelligen Lungenkarzinom.

In unserer Studie bestand bei der überwiegenden Zahl der Patienten ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Ereignis und Chemotherapie, sodass diskutiert werden kann, dass die Thromboembolie zu einer regelhaften Komplikation des Lungenkarzioms und seiner Behandlung mit platinhaltigen Doubletten gehört. Da die Lebensqualität durch diese zusätzliche Morbidität mutmaßlich leidet, wirft dieser Sachverhalt unweigerlich die Frage nach einer Primärprophylaxe bei dieser Indikation auf.

Aktuell gibt es nur für Patienten mit einem Vorhofflimmern und begleitenden vaskulären Risikofaktoren (Hypertonie, koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, Alter > 75 Jahre, Schlaganfall) eine Empfehlung zur Primärprävention eines thromboembolischen Ereignisses (z. B. ischämischen Apoplex) [20] [21] [22].

Bisher existieren aber nicht genügend Daten für eine entsprechende Primärprophylaxe, sodass zur Frage der mutmaßlichen Wirksamkeit und Verträglichkeit auf die Datenlage zur Sekundärprophylaxe zurückgegriffen werden muss. Tumorpatienten mit einem TE-Primärereignis haben eine sechsfach erhöhte Rezidivrate (1,2 % pro Monat) gegenüber einem tumorfreien Vergleichskollektiv (0,2 % pro Monat) [23] [24]. Dieses erhöhte Rezidivrisiko ist aktuell die Grundlage für die Empfehlung, die Sekundärprophylaxe solange fortzuführen, wie eine aktive Tumorerkrankung besteht. Hier werden sowohl orale Antikoagulantien als auch Heparine berücksichtigt [25] [26] [27] [28]. Der Nachteil der oralen Antikoagulantien wie Warfarin und Phenprocoumon liegt im regelmäßigen Monitoring und der Gefahr von Unter- bzw. Überdosierungen [24] [29] [30] [31], auch wenn ein sicheres Risiko-Nutzen-Verhältnis gezeigt werden konnte [23]. Andere Antikoagulationsverfahren könnten durch eine einfachere Handhabung bei vergleichbarem Nebenwirkungsprofil Lungenkarzinompatienten weiter entlasten. Im Rahmen des SAVE-ONCO-Trials wurde gezeigt, dass Semuloparin bei Krebspatienten unter Chemotherapie die Inzidenz von TE von 3,4 % auf 1,2 % senkt ohne offensichtlichen Anstieg relevanter Blutungen [32]. Für den oralen Faktor-Xa-Antagonisten Apixaban zeigten sich in einer Phase-II-Studie für Patienten mit einer metastasierten Krebserkrankung und Chemotherapie weniger TE als unter Placebo ohne einen relevanten Anstieg schwerer Blutungen [33], wie auch in einer kurzfristig veröffentlichten Phase-III-Studie für Apixaban in der Allgemeinbevölkerung [34]. Weitere Studien müssen allerdings zeigen, ob Patienten mit Lungenkarzinom von einer primärprophylaktischen Antikoagulation profitieren, ob die Antikoagulation Auswirkungen auf das Langzeitüberleben hat und welche Antikoagulantien hierfür am besten geeignet sind.

Zusammenfassend konnten wir an einem großen klinischen Kollektiv von Lungenkrebspatienten eine signifikante Häufung thromboembolischer Ereignisse sowohl im venösen als auch im arteriellen Kreislauf dokumentieren. Da für den überwiegenden Anteil der Patienten ein zeitlicher Zusammenhang zu einer platinhaltigen Chemotherapie bestand, sollte in kontrollierten Studien geprüft werden, ob eine Primärprophylaxe im Rahmen der Therapie für die Patienten von Nutzen sein könnte.



Interessenkonflikt

C. Crolow, M. Samulowski, T. Blum, J. Kollmeier, N. Schönfeld, R. C. Bittner, J. Behr und T. Bauer geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. W. Grüning hat Honorare für Beratertätigkeit von Fa. Bayer Pharma AG erhalten.

* Diese Veröffentlichung ist Teil der Promotion von Herrn Markus Samulowski an der Ruhr-Universität Bochum. Die Studie wurde von der Stiftung Oskar-Helene-Heim unterstützt.



Korrespondenzadresse

Dr. med. Wolfram Grüning
Klinik für Pneumologie
HELIOS Kliniken Schwerin
Wismarsche Straße 393-397
19049 Schwerin