Einleitung
Die erste „Begegnung“ mit dermatologischen Moulagen sorgt häufig für Erstaunen – so
auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hamburger Instituts für Geschichte
und Ethik der Medizin. Im Jahr 2008 übernahmen sie die Sammlung von etwa 600 Moulagen
aus der Hautklinik in das neu entstehende Medizinhistorische Museum am Universitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf. Diese Wachsobjekte, das war den Beteiligten schnell klar, sind
keine gewöhnlichen Museumsstücke.
Es ist insbesondere die Individualität der Moulage, die sie von einem Modell im herkömmlichen
Sinn unterscheidet. Statt einen Idealtypus darzustellen, tritt sie an die Stelle eines
historischen Patienten, „verkörpert“ ihn sozusagen. Verbunden mit den oft drastischen
Krankheitsstadien, die sie zeigen, erzeugen Moulagen Empathie – sie wecken Emotionen
beim Betrachter [1]. Eindrücklich ließ sich ihre Anziehungskraft in den Reaktionen der ersten Ausstellungsbesucher
erfahren. Stets zeigte sich eine eigentümliche Verbindung von Abscheu und Bewunderung.
Beinahe peinlich vermögen sie ihren Betrachter zu berühren, übertreten auf eine beunruhigende,
aber auch faszinierende Weise die sonst übliche Distanz zwischen Objekt und Subjekt.
Selbst Medizinern, die tagtäglich reale Patienten vor Augen haben, entlocken die Moulagen
Anerkennung für ihre „naturgetreue“ Wiedergabe.
Die „Natur“ in der Abbildung
Die „Natur“ in der Abbildung
Dennoch sind die Moulagen heute – mit wenigen Ausnahmen, etwa in Freiburg [2] und Zürich [3] – aus der Lehre weitgehend verdrängt worden. An ihre Stelle trat seit den 1950er-Jahren
zunehmend die Farbfotografie, die gegenüber den im Zweiten Weltkrieg beschädigten
Moulagensammlungen als kostengünstigere Alternative erschien. Bereits 100 Jahre zuvor
hatte die Möglichkeit der Fotografie für Euphorie in der medizinischen Welt gesorgt.
Als mechanische Reproduktion schien sie die „Natur“ unmittelbar abzubilden [4]. Die Etablierung der Fotografie als wissenschaftliche Abbildung markierte in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch einen Wendepunkt im Selbstverständnis der
Wissenschaftler. Zwar war die „Naturtreue“ bereits seit jeher das erklärte Ziel wissenschaftlicher
Zeichner und ihrer Auftraggeber gewesen. Doch hatten Letztere dabei ganz bewusst auch
ihre interpretativen Fertigkeiten in der Wiedergabe betont. So scheuten sich die Herausgeber
medizinischer Atlanten im 18. Jahrhundert keineswegs davor, aus der Vielzahl ihrer
beobachteten Formen „Archetypen“ zu entwickeln [5]. Wie Daston und Galison formuliert haben, hielten sie „die Praktik des Urteilens
in der Auswahl von ‚typischen‘, ‚charakteristischen‘ oder durchschnittlichen‘ Bildern
nicht für ein unvermeidliches Übel, sondern für lobenswert und für die wesentliche
Aufgabe des Atlasautors“ [6].
Diese Wahrnehmung änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Der Begriff der „Objektivität“
wurde zum Primat wissenschaftlicher Darstellung, der angesichts des technischen Fortschritts
nun erreichbar schien. Insbesondere pathologische Erscheinungen, deren individuelles
Auftreten stets eine Herausforderung für die typisierende Zeichnung dargestellt hatte,
waren mit der medizinischen Fotografie nun greifbar. Während der „Zeichenstift in
der Hand des Zeichners idealisierend“ wirke, so formulierte es Ludwig Jankau 1894
in einem Aufsatz, erreiche die Fotografie eine „naturgetreue Wiedergabe“, denn „in
der Medizin nun und besonders in der praktischen Medizin ist es die erste Bedingung,
daß Präparate u.s.w., besonders aber Krankenzustände genau so wiedergegeben werden,
wie sie in der Tat sind“ [7]. Das wissenschaftliche Verständnis dieser Abbildungen hingegen unterschied sich
von dem des 18. Jahrhunderts: Hier wurde kein „typisches“, sondern ein „charakteristisches“
Bild geschaffen, welches – nach Dastons und Galisons Definition – das Typische in
einem Einzelphänomen verortet.
Die Moulage als ambivalentes Objekt
Die Moulage als ambivalentes Objekt
Ähnlich verhielt es sich mit der Moulage, wenngleich sie eben nicht als mechanische Reproduktion per se für diese Vorstellung von „Objektivität“ bürgen
konnte. Möglicherweise war es der Aspekt des Abdruckverfahrens, der ihr zumindest
ansatzweise diese Merkmale zuschreiben ließ. Dennoch erscheint es geradezu paradox,
dass sich die Moulage in eben jener Zeit des späten 19. Jahrhunderts als wissenschaftliches
Lehrmittel etablierte. Während in anderen Fällen jede ästhetisierende Einflussnahme
durch „menschliche Intervention“ abgelehnt wurde, wurde die künstlerische Tätigkeit
des Moulagenbildners offenbar nicht als Hinderungsgrund wahrgenommen. Die Dermatologie
übernahm dabei in gewisser Hinsicht eine Sonderstellung. In keiner anderen Disziplin
spielte die exakte Farbwiedergabe eine derart zentrale Bedeutung bei der Beurteilung
einer Reproduktion. Die technischen Möglichkeiten der Fotografie ließen eine solche
Farbwiedergabe zu dieser Zeit jedoch noch nicht erhoffen. Bezeichnenderweise zeigten
die ersten Farbfotografien von Hautkrankheiten im bekannten Jacobi-Atlas keine realen
Patienten, sondern im Citochromie-Verfahren aufgenommene Moulagen [8].
Dass auch Fotografien keine objektive Wirklichkeit abbilden, sondern in vielerlei
Hinsicht Inszenierungen darstellen, ist heute weitgehend unumstritten. Um es mit Jankaus
Worten zu sagen, wird demnach auch der Fotograf zum „Zeichner“, dessen „Zeichenstift“
die Kamera ist. Im Gegensatz zur medizinischen Fotografie fand die Moulage in den
historischen Bildwissenschaften jedoch bisher kaum Beachtung. In der Medizin wurde
ihr Status als „naturgetreue“ Abbildung nicht hinterfragt.
Hier tritt der ambivalente Charakter der Moulage zutage: Beruhend auf dem direkten
Abdruck des Körpers, repräsentiert sie scheinbar zunächst den individuellen Patienten.
Als medizinisches Lehrmittel soll sie aber zugleich auf das Typische fokussieren.
In einem Kontext klassifizierter Krankheitsbegriffe – etwa im täglichen Lehr-Alltag
einer Hautklinik – bekommt die Moulage so unweigerlich einen Modellcharakter. Vielleicht
macht dies ihre didaktische Spannung aus: Sie ist Einzelfall und Musterbeispiel zugleich.
Die Moulage wurde bei ihrer Fertigung also durchaus gestaltet. Wer aber übernahm in der Praxis die Rolle des Gestalters? Eine Antwort auf diese
Frage setzt zunächst einen genaueren Blick auf das Herstellungsverfahren der Moulagen
voraus: Wie sah das Zusammenspiel von Arzt, Moulagenbildner und Patient aus? Im Rahmen
des Forschungsprojektes „Naturgetreue Objekte“ im Spannungsfeld zeitgenössischer medizinischer Wissenschaft
und Repräsentationsformen am Medizinhistorischen Museum Hamburg, das von der VolkswagenStiftung gefördert
wird, soll dieser Fertigungsprozess aus historischer Perspektive analysiert werden.
Die Handschrift der Moulagenbildner
Die Handschrift der Moulagenbildner
Die bisherigen Ergebnisse weisen darauf hin, dass gerade die Moulagenbildnerinnen
und -bildner entscheidenden Einfluss auf Gestaltung und Ästhetik der Moulagen nahmen.
Waren es in der ersten Generation vornehmlich künstlerisch versierte Mediziner, übernahmen
später häufig Maler und bildende Künstler die Aufgabe der Moulagenbildnerei. Ihre
Techniken und Wachsmischungen waren streng gehütete Geheimnise, die nicht wenige von
ihnen mit ins Grab nahmen. Auch ohne eigentliche Signatur hinterließen sie ihre Handschrift
im Objekt: einen erkennbaren Gestaltungsüberhang, der sich nicht ohne weiteres auf
medizinische oder didaktische Motive zurückführen lässt[1].
Die grundsätzliche Präsentationsform von Moulagen – eingerahmt in weißer Stoffeinfassung
auf einem schwarzen Holzträger – etablierte sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts im
europäischen Raum weitgehend einheitlich. Der Vergleich verschiedener Sammlungen und
Moulagen unterschiedlicher Entstehungszeiten offenbart jedoch ästhetische Unterschiede.
Augenscheinlich wird dies in der Moulagensammlung des Medizinhistorischen Museums
Hamburg. Zusammengeführt aus mehreren ursprünglich eigenständigen Sammlungen, unterscheiden
sich die Stücke in ihrer jeweiligen Darstellungsweise und Ästhetik [9].
Die Hamburger Moulagensammlung
Die Hamburger Moulagensammlung
Rund ein Drittel der 600 Hamburger Moulagen entstammt der Sammlung des Berliner Dermatologen
Oscar Lassar. In dessen Privatklinik hatte der Bildhauer Heinrich Kasten bereits 1889
mit dem Aufbau einer umfangreichen Moulagensammlung begonnen. Nach dem Ableben Lassars
im Jahr 1907 kamen die über 1400 Moulagen ins Hamburger Allgemeine Krankenhaus St.
Georg ([Abb. 1]). Begleitet wurde die Sammlung durch den Moulagenbildner Kasten, der sie mit seinem
Nachfolger Max Broyer auf über 2000 Stücke erweiterte. Im Zweiten Weltkrieg wurde
ein Großteil dieser Sammlung zerstört.
Abb. 1 Aufstellung der Moulagen im Allgemeinen Krankenhaus St. Georg in Hamburg, 1928 (aus:
Hegler C. Das Allgemeine Krankenhaus St. Georg in Hamburg. In: Gesundheitsbehörde
Hamburg, Hrsg. Hygiene und soziale Hygiene in Hamburg: zur neunzigsten Versammlung
der Deutschen Naturforscher und Ärzte in Hamburg im Jahre 1928. Hamburg: Hartung;
1928: 118 – 139).
Ein zweiter großer Sammlungsteil entstand ab 1924 an der Universitäts-Hautklinik Eppendorf
unter dem Dermatologen Paul Mulzer. Als überzeugter Nationalsozialist wurde er 1945
von den Militärbehörden entlassen. Unter seiner Leitung waren die Moulagenbildner
Paul von der Forst und Ary Bergen ([Abb. 2]) für die Hautklinik tätig. Beide waren zu dieser Zeit bereits als Kunstmaler anerkannt.
Insbesondere Bergen, dessen Werke sich zusehends einer Blut-und-Boden-Strömung zuwandten,
machte im NS-Staat als Propagandamaler und Kunstfunktionär Karriere [10]. Weitere Teilbestände entstammen den ehemaligen Sammlungen des Bernhard-Nocht-Instituts
und des Allgemeinen Krankenhauses Barmbek sowie der Moulagenwerkstatt des Deutschen
Hygiene-Museums in Dresden und verschiedener privater Lehrmittelwerkstätten [11].
Abb. 2 Moulagenbildner Ary Bergen im Atelier der Universitäts-Hautklinik Eppendorf, um 1935
(Fotoarchiv Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf).
Ästhetik, Körperbild und Ideologie
Ästhetik, Körperbild und Ideologie
Wie einige Beispiele verdeutlichen, unterscheiden sich insbesondere die Moulagen der
beiden größten Sammlungsteile voneinander: Ist etwa die Stoffeinfassung der älteren
Moulage aus der Sammlung Lassar ([Abb. 3]) äußerst schmal gearbeitet, bestimmt diese bei der Eppendorfer Moulage ([Abb. 4]) sehr viel deutlicher die Optik
. Aber auch der eigentliche Wachskörper hat im Falle der zeitlich später entstandenen
Eppendorfer Moulagen plastischere, zum Teil fast skulpturale Formen. Darüber hinaus
zeigen sich auch Unterschiede in Körperhaltung, Ausdruck, Farbgebung und im Ausschnitt
der dargestellten Körperpartie. Interessant sind darüber hinaus Details wie die Umsetzung
der Augenpartie in den unterschiedlichen Sammlungsteilen. Während die Moulagen der
Sammlung Mulzer weitgehend mit geschlossenen Augen abgeformt wurden, bevorzugte Heinrich
Kasten die Nutzung von Glasaugen, um die Augenpartie nachzumodellieren. Zugleich lassen
sich die Auswahlkriterien der Patientinnen und Patienten hinterfragen: Gibt es möglicherweise
geschlechtsspezifische Auffälligkeiten, z. B. im Hinblick auf bestimmte Krankheitsbilder?
Abb. 3 Moulage „Xeroderma pigmentosum“ aus der Sammlung Lassar, 1889. Mouleur: Heinrich
Kasten (Foto: Dagmar Claußen, Foto- und Grafikabteilung, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf).
Abb. 4 Moulage „Papulo-crustöses Sekundärsyphilid“ aus der Sammlung Mulzer, undatiert. Mouleur:
Ary Bergen (Foto: Dagmar Claußen, Foto- und Grafikabteilung, Universitätsklinikum
Hamburg-Eppendorf).
Diese spezifischen Merkmale – so die These des Forschungsprojektes – lassen sich als
Resultate verschiedener Entstehungskontexte interpretieren. Die Moulage, so Sandra
Mühlenberend vom Deutschen Hygiene-Museum, „ist ein Artefakt, das bestimmte, an die
Zeit seiner Entstehung gebundene Vorstellungen von Körper und Krankheit transportiert“
[12]. Die Untersuchung soll durch den Vergleich mit den Moulagen weiterer Sammlungen
zu Ergebnissen führen. Dabei gilt es insbesondere, die jeweiligen biografischen Hintergründe
der beteiligten Akteure zu berücksichtigen. Eine Dissertation von Henrik Eßler wird
sich in diesem Zusammenhang speziell mit dem Beruf Moulagenbildner befassen und ausgewählte
Lebensläufe näher beleuchten. Ein weiterer Ansatz untersucht den medizinhistorischen
Kontext, um etwa gesundheitspolitische Einflüsse verorten zu können. Aber auch zeitgenössische
Kunstströmungen sollen in einem ikonografisch orientierten Ansatz einbezogen werden.
So könnten beispielsweise die kunsthistorischen Erkenntnisse über die Portraitkunst
der 1920er- und 1930er-Jahre Ansatzpunkte für die Bildsprache der zeitgleich in Eppendorf
gefertigten Moulagen darstellen.
Insbesondere im Hinblick auf die Verstrickungen beteiligter Ärzte und Moulagenbildner
in die nationalsozialistische Kunst- und Gesundheitspolitik stellt sich hier auch
die Frage, ob und in wie weit sich politisch-ideologische Forschungsprämissen in der
Bildsprache der medizinischen Präsentation von erkrankten Körperteilen wiederfinden
lassen.
Dieser Artikel wurde am 10. 12. 2013 geändert.