ZWR - Das Deutsche Zahnärzteblatt 2013; 122(04): 186-187
DOI: 10.1055/s-0033-1345403
Colloquium
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Zum zeitgemäßen Umgang mit dem komplexen Krankheitsbild CMD – Sorgfältige Diagnose, richtiges Material – so verspricht die Schienentherapie Erfolg

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Publication Date:
01 May 2013 (online)

 
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H.-C. Lauer (Foto: Lauer)

Die craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) ist in den letzten Jahren stärker in das Bewusstsein von Zahnärzten gerückt – nicht zuletzt dank der Arbeiten von Prof. Dr. Hans-Christoph Lauer [ 1 ], Direktor der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik am "Carolinum" (Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferzahnheil­kunde der Universität Frankfurt / Main). In unserem Interview stellt er die Behandlung nach dem aktuellen Stand der Wissen­schaft dar. Weitere Tätigkeitsschwerpunkte von Prof. Lauer liegen in den Bereichen Implantatprothetik und vollkeramische Versorgungen.

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Keine Restmonomere, geringer Polymerisationsschrumpf, die Einstellung im Artikulator wird 1:1 in den Patientenmund übertragen – und dies spüren Zahnarzt und Patient direkt beim Einsetzen der Schiene aus lichthärtendem Kunststoff (Eclipse, DeguDent, Hanau). (Foto: DeguDent)

? Dr. Christian Ehrensberger: Herr Prof. Lauer, was macht Ihre Spezialgebiete für Sie so spannend?

Prof. Hans-Christoph Lauer: Die Implantologie erweitert wesentlich unsere Therapieansätze. Statt Nachbarzähne zu beschleifen, können wir eine Lücke unter Erhaltung der gesunden Zahnhartsubstanz mit einer künstlichen Zahnwurzel, Abutment und Suprastruktur schließen. Dabei spielt aus parodontal-prophy­laktischen und ästhetischen Gründen die vollkeramische Prothetik eine zunehmend größere Rolle. Dies alles betrifft Verbesserungs­möglichkeiten innerhalb der zahnärztlichen Behandlung. Das Spannende an CMD besteht darin, dass hier die Zahnmedizin besonders intensiv in die allgemeine Medizin eingebettet wird.

? C. Ehrensberger: Woran liegt es denn, dass CMD heute offensichtlich stärker als vor 10, 20 Jahren in den Focus rückt?

Prof. H.-C. Lauer: Früher hat man sich mit Anamnese, Befund und Therapievorschlägen meist innerhalb der Zahnmedizin bewegt. Inzwischen ist aber sogar in Tageszeitungen und Zeitschriften für ein breites Publikum zu lesen: Rund 18 Mio. Bürger in Deutschland knirschen mit den Zähnen. Die Deutsche Mundgesundheitsstudie DMS III aus dem Jahre 1999 besagt, dass bei 3,2 % der Bevölkerung ein sog. absoluter Behandlungsbedarf besteht. Auf 80 Mio. hoch­gerechnet brauchen damit hierzulande immerhin fast 2,5 Mio. Menschen eine entsprechende Therapie. Die Ergebnisse decken sich übrigens recht gut mit den Zahlen, die wir aus den USA erhalten. Dort geht die American Acacemy of Orofacial Pain von einem absoluten Behandlungsbedarf von 3,6 bis 7% aus.

? C. Ehrensberger: Was meinen Sie genau, wenn Sie von der Einbettung in die allgemeine Medizin sprechen?

Prof. H.-C. Lauer: CMD stellt einen Paradefall für ein Spektrum von Beschwerden dar, das heute interdisziplinär betrachtet werden muss. Naheliegend wird für einen niedergelassenen Zahnarzt die Konsultierung eines Kieferorthopäden oder Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgen sein. Für eine sorgfältige Diagnostik wird der Radiologe hinzugezogen, für die Ursachenforschung eventuell ein Psychosomatiker, für die begleitende Bewegungstherapie ein Physiotherapeut und darüber hinaus ein HNO-Arzt, ein Neurologe oder ein Orthopäde. Dieser kann z. B. diagnostizieren, ob Fehlfunktionen im Bereich von Hals-, Brust- oder Lendenwirbeln der zahnmedizinisch manifesten CMD zugrunde liegen oder auch eine Folge davon sind; zudem können etwa rheumatische Erkrankungen eine Rolle spielen.

? C. Ehrensberger: Das klingt recht komplex. Wie gewinnt man als Zahnarzt denn einen Überblick über all diese Aspekte?

Prof. H.-C. Lauer: Im Alltag ist es einfacher, als es sich im ersten Moment anhört. Denn am Beginn steht eine Kurzbefundung, die nur wenige Minuten dauert: Muskulatur und Kiefergelenk abtasten, Mundöffnung vermessen sowie nach Anzeichen von unphysiologischen Parafunktionen (Abrasionen, Zungen-/Wangeninpressionen) schauen. Bestehen zusätzlich Schmerzen, Bewegungseinschränkungen, einseitige Abweichungen oder Störungen der Okklusion, muss ein klinischer Funktionsstatus erhoben werden. Dabei werden nach einer gründlichen Anamnese, die auch allgemeinmedizinische, orthopädische und psychosoziale Aspekte streift, die Parameter der Kurzbefundung detailliert untersucht. Danach ist eine Rangfolge zu erarbeiten, die Auskunft über den Stellenwert des zahnmedizinischen Problems im Vergleich mit den übrigen Beschwerden gibt. Damit gewinnt man meist automatisch Anhaltspunkte für interdisziplinär zu behandelnde Probleme.

? C. Ehrensberger: Welche davon fallen nun in den Bereich des Zahnarztes, und wann muss er Kollegen die Federführung übertragen?

Prof. H.-C. Lauer: Das kommt ganz auf die persönliche Ausrichtung des behandelnden Zahnarztes an. Es muss keinesfalls jeder alles können. Wer sich speziell mit dem Krankheitsbild CMD beschäftigen möchte, kann sich dazu etwa über das Curriculum der Akademie Praxis und Wissenschaft fortbilden. Mir liegt am Herzen, dass jeder von uns als Zahnarzt über die tägliche Füllungstherapie, Kronen- und Brückenprothetik hinaus eine weitreichende Befundung durchführt. Dabei lässt sich dann u. a. eine CMD zuverlässig diagnostizieren. Anschließend muss der behandelnde Kollege seine eigenen technischen Möglichkeiten und persönlichen Kompetenzen ehrlich einschätzen und entscheiden, ob er selbst die nötige zusätzliche Diagnostik übernehmen kann und möchte oder ob er den Patienten z. B. an eine Klinik überweist.

? C. Ehrensberger: Welche originär zahnärztliche Therapie steht uns dabei zur Verfügung?

Prof. H.-C. Lauer: Im Allgemeinen stellt die Schienentherapie ein erfolgversprechendes Behandlungsverfahren dar. Sie kann zur Ent­lastung und Schmerzmilderung eingesetzt werden, kann eine prä- bzw. postoperative Maßnahme darstellen oder sogar einen operativen Eingriff unnötig werden lassen.

? C. Ehrensberger: Wie sieht sie im Einzelfalle aus?

Prof. H.-C. Lauer: Es kommt darauf an, die richtige Art von Schiene zu wählen und nicht einfach irgendeine auszuprobieren. Die Amerikaner sagen: "If all else fails: Make a diagnosis!" Dazu gibt es einige einfache Grundregeln: Bei Myopathie, Bruxismus, orofacial habits, wie Wangenbeißen, und bei unzureichender okklusaler Abstützung führt die Relaxierungs- und Stabilisierungsschiene mit einer Quote von 70–90 % zum Erfolg. Ist im Magnetresonanz­tomogramm eine Diskusverlagerung mit Reposition erkennbar und treten zusätzlich Schmerzen auf, so empfiehlt sich die Repositionsschiene – allerdings bei geringerer Erfolgsquote. Bei totaler anteriorer Diskusverlagerung ohne Reposition, bei Diskusperforation oder Osteoarthrose und gleichzeitigem Auftreten von Schmerzen ist oft eine Distraktionsschiene indiziert. Häufig empfiehlt es sich, einen Physiotherapeuten hinzuzuziehen, um die Kaumuskulatur zu detonisieren und mit speziellen Bewegungsübungen eine Mobilisierung der Gelenke zu erreichen.

? C. Ehrensberger: Was ist anschließend bei der Beauftragung des zahntechnischen Labors zu beachten?

Prof. H.-C. Lauer: Das Zusammenspiel zwischen Zahnarzt und Zahntechniker ist bei der Therapie mit einer Schiene entscheidend. Jede davon muss im Artikulator nach bestimmten Verfahren unter Verwendung eines Gesichtsbogens und einer Kieferrelationsbestimmung hergestellt werden. Präzisions­abformungen beider Kiefer sind dabei für uns als Zahnärzte Pflicht. Am besten besucht man gleich als zahnmedizinisch-zahntechnisches Team die geeigneten Fortbildungen.

? C. Ehrensberger: Inwieweit sind bei der Schienentherapie eigentlich das verwendete Material und seine Verarbeitung von Bedeutung?

Prof. H.-C. Lauer: Da unverblendete oder verblendete Metallschienen eher selten verwendet werden, interessieren in diesem Zusammenhang im Wesentlichen die Kunststoffe. Tiefgezogene Schienen gelangen bei uns schon seit Längerem nicht mehr zur Anwendung, und auch heiß oder kalt polymerisierende Materialien sind nicht mehr Stand der Technik. Die in ihnen enthaltenen Methylmethacrylate können beim Patienten zu Gingivareizungen führen. Unter den Zahntechnikern besteht gegen Restmonomere sogar eine recht hohe Allergisierungsquote von 4–10 %. Diese Probleme treten beim lichthärtenden Kunststoff Eclipse nicht auf. Und sein noch viel größerer Vorteil ist der geringe Schrumpf – im Vergleich zu den Autopolymerisaten die Hälfte. Der uns vorliegende, gemäß dem sog. Auftriebverfahren ermittelte In-vitro-Wert beträgt lediglich 3 %. Das bedeutet: kein Verzug, kein Verwinden; die Einstellung im Artikulator wird 1:1 in den Patientenmund übertragen – und dies spüren Zahnarzt und Patient direkt beim Einsetzen der Schiene.

? C. Ehrensberger: Wie werden diese Schienen von den Patienten angenommen?

Prof. H.-C. Lauer: Im Verlauf der Trageperiode klemmen die Schienen nicht und lösen sich nicht zu leicht, was die Compliance deutlich erhöht. Zudem zeichnen sie sich durch ihre Abrasions­festigkeit aus. Dies ist wichtig, denn schließlich verschwindet die CMD nicht von einem Tag auf den anderen, sondern der Patient arbeitet nach dem Einsetzen merklich mit den Zähnen auf der Schiene. Ich persönlich verwende daher heute nur noch diesen lichthärtenden Werkstoff.

Das Interview führte Dr. Christian Ehrensberger, Frankfurt/Main.


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  • Literatur

  • 1 Ottl P, Lauer HCH. Okklusionsschienentherapie – Indikationen und Wertung aus heutiger Sicht, Hess. Zahnärzte Mag. 2002; 2: 36-43

  • Literatur

  • 1 Ottl P, Lauer HCH. Okklusionsschienentherapie – Indikationen und Wertung aus heutiger Sicht, Hess. Zahnärzte Mag. 2002; 2: 36-43

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H.-C. Lauer (Foto: Lauer)
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Keine Restmonomere, geringer Polymerisationsschrumpf, die Einstellung im Artikulator wird 1:1 in den Patientenmund übertragen – und dies spüren Zahnarzt und Patient direkt beim Einsetzen der Schiene aus lichthärtendem Kunststoff (Eclipse, DeguDent, Hanau). (Foto: DeguDent)